Exodus 30

Rene Moreau, Wipperfürth und Kümmler (HRSG)

Zum zehnten „Jahrestag“ der Fortführung des Magazins „Exodus“ präsentieren die drei Herausgeber eine breit gespannte Themenausgabe. Auch wenn vom wunderschönen Cover Pierangelo Boorgs die Revival SF, der Retro Futurismus und natürlich als Variation der barocken Space Opera der Steampunk im Mittelpunkt der Sammlung stehen, relativiert Herausgeber Heinz Wipperführth die negative Betrachtung dieser Subgenres und eröffnet den zahlreichen Autoren phantasievolle Spielräume, welche diese in einer der beiden „Exodus“ Ausgaben sehr gut nutzen. Obwohl die grundlegenden Themen sehr breit sind, greifen viele auf historische wie fiktive Figuren zurück. Ob die grundlegende Idee ein Anhang zur Authentizität in der Fiktion ist, soll nicht durchdiskutiert werden. Einige der Storys nutzen historische Figuren für die gelungenen Pointen, während andere einfach ihren Spaß mit den realen Exzentrikern des 18. bzw. 19. Jahrhunderts haben.    

Philip Schwarzes „Wolkenreiter“ erinnert an Kenneth Oppels Wolkenpanthergeschichten. Eine nur leicht verfremdete Erde – in erster Linie sind es die Namen der Nationen – und gigantische Zeppeline, ein aus nichtigen Gründen ausgebrochener Krieg und die schwierige moralische Entscheidung des Kommendanten der Wolkenpanther. Stimmungsvoll geschrieben mit einem offenen Ende, das zu originelleren und individuelleren Fortsetzungen aufmuntert. Eine andere Art von gezielter Freiheit erstreiten sich die Protagonisten in Matthias Falkes „Die spektakuläre und heldenmütige Entführung der originalgetreuen Lokomotive EMMA“, eine Art Steampunkgeschichte. Neben der Anspielung auf Michael Endes Roman präsentiert Falke einen sehr geradlinigen Text, der seine Spannung aus einem erfolgreichen Abschluss der Mission bezieht. Über die Hintergründe erfährt der Leser zu wenig, aber an ein Scheitern einer derartig ehrenvollen Aufgabe mag er auch nicht glauben. Gute Unterhaltung mit einem deutlich subtileren Augenzwinkern als zum Beispiel in „Das SCHÄUBLE“.   

Der Titel von Arno Sprees „Das SCHÄUBLE“ ist vielleicht das einzige Hindernis an dieser humorvollen First Contact Geschichte. Zu sehr  wird der Leser an den Politiker erinnert, während in der Geschichte Profis verschiedener Generationen, Fans und schließlich eine Reihe von Pulpserien wie REX CORDA sowie ein Hinweis auf die „Exodus“ ausgaben auftreten. Pointiert selbstironisch geschrieben ist die Begegnung absichtlich übersteigert. Helmut Ehls „Am Set v. „Der Schatz im Silberkanal““ schlägt einen ähnlichen Tonfall an. Karl May in seiner bekannten historischen Gestalt ist in der nahen Zukunft einer der erfolgreichsten Science Fiction Autoren, dessen Epos „Amstrong“ – alle Welt wartet auf den vierten Teil, obwohl Amstrong am Ende des dritten Buches gestorben ist – mit den weltlichen Problemen, den Selbstzweifeln und schließlich einer ihm eine neue literarische Zukunft weisenden Begegnung am Set einer Wendland Produktion eines seiner Bücher. Er begegnet der jungen Autoren Marion Zimmer, die für ihren Erstling über einen PSI begabten Jüngling vieles, wenn nicht alles machen würde. Ehls Geschichte strotzt vor Seitenhieben und Anspielungen. Wer sie alle versteht, wird noch mehr Vergnügen mit einem der Höhepunkt dieser Sammlung haben. 

Steffen Königs „Titan Flüstern“ gelingt es, einem alten Mythos – zu viel zu verraten würde die dunkle Pointe unterlaufen – neue Aspekte abzugewinnen. Der Autor zieht die Leser aus der Gegenwart und Langeweile des Studentenlebens über die erste Mondlandung in die Pulpabenteuer der dreißiger Jahre zurück, in denen alles möglich gewesen ist. Stilistisch positiv einfach mit einer sehr stringenten bodenständigen Handlung und einem größenwahnsinnigen Antagonisten, dessen Motive der Leser nostalgisch verklärt sogar nachvollziehen kann. 

Ulf Fildebrandts „Verborgenes Erbe“ nimmt Ideen insbesondere deutscher Utopisten auf. Carl Grunert oder Kurd Lasswitz werden behutsam an Jules Vernes bekanntesten Charakter angelehnt. Herausgekommen ist eine sehr stringente Geschichte, die ein wenig an Alan Moores „League of Extraordenary Gentlemen“ erinnert, wobei der Plot in Form einer Novelle vielleicht besser ausgearbeitet hätte werden können.

Thorsten Küpers „Grosvenors Räderwerk“ ist ein weiterer Höhepunkt dieser Sammlung. Eine klassische Steampunkgeschichte mit einer Differenzmaschine im Mittelpunkt sowie einem jungen englischen Knaben, den Piraten aus dem Meer fischen. Der Gouverneur Hongkongs hat ein in doppelter Hinsicht perfides Interesse an den Knaben, wobei der potentielle Nutzen für die Krone in einem krassen Gegensatz zu den eigenen Gelüsten steht. Auch wenn die Pointe effektiv ist und die Einbindung von historischen Figuren behutsam vorgenommen worden ist, benötigt sie der Plot nicht wirklich. Sie sind das I- Tüpfelchen auf einer rasanten Abenteuergeschichte mit einem bizarren Hintergrund und einigen Szenen, welche der Leser nicht so schnell vergessen wird.

Thomas Franke illustriert seine eigen Geschichte „Saudade“. Eine melancholische Aneinanderreihung vergebener Lebenschancen im Zeitalter mehrerer Kriege. Stimmungstechnisch könnte der dicht gedrängte, fast impressionistische Plot auch in der Zeit der beiden Weltkrieg des letzten Jahrhunderts spielen, in denen zwei Generationen von Vätern und Söhnen dem Irrglauben des Vaterlandes geopfert worden sind. Auch bei Hartmut Kaspers „Der grüne Jademond“ sind die phantastischen Elemente eher rar gesät. Eine Reise durch England, ein abgelegener Ort, eine chinesische Gaststätte mit seltsamen Personal. Stimmungsvoll, routiniert, mit einem beschreibenden Auge für Details entwickelt wirkt die Pointe eher schwach und zu offen. Hinzu kommt, dass Kasper sich ausschließlich auf das Andeuten konzentriert, was für die ganze Geschichte zu wenig erscheint.  

Dagegen greift Olaf Kemmler in seinem modernen Märchen „Ein Koffer voller Gedanken“ – das Spektrum der Vorlagen reicht hier von Baron Münchhausen über Kurd Lasswitz mit seinen modernen Märchen bis zu Paul Scheerbart mit seinem gedankenkritischen Grundgehalt – fast schon auf die Gebrüder Grimm mit ihrer implizierten Kritik an den dummen Mitmenschen zurück. Der Ich- Erzähler erzählt in Briefform vom Kauf eines Koffers, der ihm moderne und von den Mitmenschen nicht immer gewünschte Gedanken in die Kopf setzt, die er unbedingt aussprechen muss. Von seinen Mitmenschen verkannt oder verachtet wird er zu einer Art moderner Holländer... einsam... isoliert und doch immer wieder „hilfsbereit“. In einem passend getragenen Ton erzählt Kemmler diese kurzweilige Geschichte mit der richtigen Balance aus Kritik und Unterhaltung, wobei insbesondere einige der angerissenen Ideen den Utopisten entnommen worden sind, während der Erzähler schließlich an der Hinterhältigkeit der Berater scheitert. Wenn das nicht in die Gegenwart passt.  

Wie qualitativ hochstehend „Exodus“ 30 ist unterstreicht die Tatsache, dass Martin Beckmanns gut geschriebene Story „Die Lem- Variable“ fast untergeht. Ein von der Karrierewelt enttäuschter Reporter kehrt nach Hause zurück. Nachts überfährt er einen der Kleinstadtbewohner, was zu einer zumindest für ihn überraschenden Entdeckung führt. Der grundlegende, aber nicht originelle Plot ist solide ausgeführt, das offene dunkle Ende zufrieden stellend, aber als Geschichte wirkt sie zu funktional verfasst und zu wenig im Vergleich zu anderen Arbeiten dieser Sammlung provokativ. Frank Neugebauers „Milch für den Schlangengott“ verbindet die Legendenwelt der Märchen aus „1001 Nacht“ mit einer stimmungsvollen First Contact Geschichte, wobei der Autor positiv das Fremde abschließend auch fremd sein lässt und keine „Deus Ex Machina“ Lösungen präsentiert. Stimmungsvoll, melancholisch und exotisch mag der Funke aber vielleicht aufgrund der zu kompakten Erzählstruktur nicht gänzlich überspringen, so dass der Schlangenkönig als faszinierende Schöpfung wie in der Story auch in den Überlegungen des Lesers isoliert und einsam zurückbleibt.     

Einer der unbestrittenen Höhepunkte der „Exodus“ Ausgabe ist die Galerie mit Werken Rudolf Sieber-Lonati, der unzählige Titelbilder für die Science Fiction Reihe des Pabel-, des Marken und auch der Zaubermondverlages erschaffen hat. Ältere Leser werden sich an die Titelbilder insbesondere die „Utopia“ Großbände erinnern, die eher impliziert einen Bezug zur Handlung gehabt haben. José Kastler geht in seinem ausführlichen Essay auf Lonatis verschiedene Techniken inklusiv des späteren Recyclings von Bildern ein. Die Galerie zeigt eine Reihe seiner auch heute noch markanten Graphiken, die nostalgische Gefühle im Leser auslösen. Auf der anderen Seite wird eine junge Generation die einfallsreichen Titelbilder dieser Epoche zum ersten Mal kennen lernen und kann sie mit den heute eher sterilen, wenig phantasievollen und eher „realistischen“ Covern der Gegenwart vergleichen. Alleine diese Galerie lohnt den Erwerb der Ausgabe.   

Seit Anbeginn strebten die Herausgeber eine Synthese zwischen Bild und Text an. Nach der Aufnahme lyrischer Kurzimpressionen erreicht diese Spielart in der vorliegenden Jubiläumsnummer ebenfalls einen optischen Höhepunkt. Crossvalley Smiths melancholische doppelseitige und farbige Graphik des alten Bradbury Mars in Kombination mit Gareth D. Jones kurze Impression „Der Gondoliere“ ist perfekt gelungen. Auch andere Texte unter anderem von Gerd Maximovic oder Antje Ippensen bis zu Bernd Kartwaths von Eichendorff Interpretation sind von sehr guten Zeichnungen und teilweise farbigen Graphiken begleitet worden. Neben der Valley/Jones Perfektion sind es aber die zahlreichen Kurzgeschichten, die bis auf Thomas Franke in Personalunion von einer Reihe stilistisch sehr unterschiedlicher Zeichner interpretiert worden sind. Die Bandbreite der Zeichnungen reflektieren die zugrunde liegenden Geschichten überwiegend überzeugend. Gerd Frey stellt die Erhabenheit der Zeppeline in einem semirealistischen Bild genauso überzeugend dar wie Hubert Schweizer der „Lem Variable“ die unheimliche Stimmung verleiht, die sich aus dem Plot heraus nur bedingt einstellen mag. Crossvalley Smith ist mit insgesamt vier Arbeiten vertreten, die alle überzeugen. Lothar Bauer oder Michael Mittelbach zeigen in unterschiedlichen Werken ihre Vielseitigkeit. Auch wenn wie mehrfach angesprochen die Galerie, das einzigartig thematisch passende Titelbild und schließlich die Arbeiten von Crossvalley Smith den visuellen Bereich dominieren, harmoniert die Mischung aus „Science Fiction Stories“ mit einer positiv sehr breiten Fassung des Begriffs in Kombination mit der „phantastischen Grafik“ überzeugend.

Vielleicht wirkt es auf den ersten Blick konträr, wenn sich „Exodus 30“ als zumindest in der Theorie einschränkende Themenausgabe präsentiert und auf der anderen Seite eine der stärksten Magazinausgaben per se ist. Aber die Fokussierung auf einen immer noch relativ breiten Themenbereich hilft einigen Autoren, überzeugende und teilweise ideenreich herausragende Geschichten zu verfassen und zu präsentieren. Das erzähltechnisch stilistische Niveau von „Exodus“ ist seit vielen Jahren überdurchschnittlich hoch gewesen. Hinzu kommen in dieser unbedingt empfehlenswerten Themenausgabe so viele inhaltlich verschiedene, aber dank unterschiedlicher Facetten auch überzeugender Kurzgeschichten, dass den Herausgebern zu dieser exzellenten und visuellen verstörend betörenden Ausgabe nur gratuliert werden kann.  

Exodus Magazin, DIn A 4 Format mit Farbillustrationen

120 Seiten Umfang

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