Schiffsdiebe

Paolo Bacigalupi

Nach seinem mehrfach ausgezeichneten "Wind Up Girl" präsentiert Paolo Bacigalupi mit "Schiffsdiebe" - der Titel ist unglücklich gewählt, da es sich bei den Jugendlichen um "Ship Breaker", Schiffsbrecher handelt, welche die auf den Strand gelegten Tanker ausweiden und wie heutzutage schon in Asien praktiziert die gebrauchsfähigen Teile unter Lebensgefahr bergen und verkaufen - ein Jugendbuch, das wie viele gegenwärtige Romane für ein heranwachsendes Publikum vor einem dystopischen Hintergrund gespielt, in dem die Politik sich nach gravierenden Umweltverschmutzungen nur noch um die Reichen kümmert und die Massen sich ihrem Schicksal überlässt. Die Dystopie ist zumindest teilweise ein geeigneter Hintergrund, da sich die Protagonisten gegen die Unbillen des Lebens zur Wehr setzen und über sich hinaus wachsen müssen, während die in oft gesichterten Verhältnissen lebenden Leser nur mit den sozialen wie körperlichen Veränderungen umgehen müssen. Außerdem lässt sich eine Auseinandersetzung mit dem Erwachsenwerden besser vor einem ungerechten Hintergrund erzählen, aus dem die überdurchschnittlich cleveren Jungen und Mädchen nicht selten ohne bewußte Handlungen, sondern den Umständen geschuldet auszubrechen suchen.

Der Plot könnte auch in Asien spielen. Schaut der Leser nicht genau hin, dann spräche viel dafür, wenn die Handlung in der Gegenwart an den Tankerküsten spielen sollte. Das einzige phantastische Element der ersten Hälfte des Romans sind die Tiermenschen, genetische Züchtungen, die überwiegend in der Tradition des Wells Romans "Die Insel des Dr. Moreau" ihren jeweiligen Herren dienen. Das es die berühmte Ausnahme gibt, ist auf der anderen Seite fast klischeehaft plotentscheidend. Erst in der zweiten Hälfte erweitert der Autor nicht nur das Handlungsspektrum, sondern beschreibt eine USA, in welcher die Meere die Küstenregionen um New Orleans überrannt und zurück erobert haben. In welcher aufgrund der anhaltenden wirtschaftlichen Depression die meisten Menschen in Armut leben, während sich eine elitäre Kaste von "Reichen" und impliziert Imperialisten von ihren Heimatländern abgesetzt haben. Diese Klans haben die Regierungen abgelöst. Aus der subjektiven Perspektive des heranwachsenden Nailer Lopez beschrieben, braucht Bacigalupi den Hintergrund nicht weiter zu extrapolieren. Er setzt vor einer in erster Linie stringenten und von Verfolgungsjagden dominierten Handlung einzelne Höhepunkte. Es ist schade, dass die dunkle und intensive Atmosphäre der ersten Hälfte des Buches nicht auf ein erweitertes Niveau transportiert werden kann. Einzelne pointierte Beschreibungen eines Molochs USA reichen hier nicht aus.

 Viel interessanter ist die Knochenarbeit, welche die Kinderteams in den auf dem Strand liegenden Tankern verrichten müssen. Nailer gehört noch zu der leichten Brigade, welche in die Tiefen der Schiffe eindringen und vor allem die Kupferleitungen herausreißen kann. Diese Arbeit ist nicht nur lebensgefährlich, aufgrund der Rückstände in den Schiffen und den freigesetzten Abfallstoffen ist die Arbeit lebensgefährlich. Wenn Nailer größer und kräftiger wird, muss er zu der eigentlichen Abwrackcrew wechseln. Die kleinen Arbeitsgruppen unter der strengen Kontrolle eines Vorarbeiters haben ihre eigenen Ehrenkodexe. Wer dagegen verstößt - wie es Nailor erleben muss - wird umgehend ausgestossen und findet an dem gigantischen Strand keine Arbeit mehr. Außerhalb ihrer harten, schweren und langen Arbeit leben die Jugendlichen in Armut. Nailers Vater Richard Lopez ist ein gewalttätiger Mann, der sein Geld nebenbei mit dem Handel von Drogen verdient. Alle Jugendlich träumen von einem Fass Gold auf dem Boden der Schiffe. Ein Junge aus ihrer Gruppe Lucky Strike hat einen riesigen Ölvorrat gefunden und lebt jetzt vom Handel mit Nahrungsmitteln, der Beteiligung am Glücksspiel und anderen Geschäften in der Nähe der Schiffswracks.  Nach einem gewaltigen Sturm finden seine Teamkollegin Pima, bei dessen Mutter sich Nailer wie zu Hause fühlt, und er in einem abgeschiedenen Bereich der Halbinsel das Wrack einer Yacht. Sie gehört einem reichen jungen Mädchen, das sie von Bord holen können. Dort befinden sich neben teuren Lebensmitteln auch Schmuckstücke. Während Pima die schwerverletzte junge Frau töten möchte, damit ihnen niemand ihren gefundenen Reichtum streitig machen kann, will Nailer ihr helfen. Er ahnt nicht, dass er damit in einen Konflikt zwischen den Köpfen zweier verfeindeter Gruppen in einem der reichsten Familienclans hineingezogen wird.

Wie schon angesprochen lebt die erste Hälfte des Romans von der nihilistischen Atmosphäre. Dem verzweifelten Kampf um die niedrigste Arbeit und der Verlust eines Platzes in der Gruppe, die perverserweise die klassischen Familien zu ersetzen scheinen. Das Zusammengehörigkeitgefühl wird den einzelnen Mitgliedern durch die drakonischen Strafen aufgedrückt. Wie gefährlich die Arbeit in den Wracks ist, beschreibt der Autor auf den ersten Seiten. Auf der anderen Seite ahnt der Leser, dass Nailers Überlebensinstinkte ihm bei der abschließenden Konfrontation mit der Zivilisation helfen und schließlich auch retten werden. Alles scheint in "Schiffsdiebe" in der Schwebe zu sein, auch wenn es sich am Ende des Romans fast ein wenig zu stark konstruiert wieder ausbalanciert.  Während Nailer anfänglich ein cleverer junger Mann gewesen ist, reift er kontinuierlich an den verschiedenen Herausforderungen, denen er sich stellen muss. Rückschläge stellen für ihn eine Art Fortschritt dar. Wenn er seinen betrunkenen Vater aus der im Sturm zusammenstürzenden Hütte rettet, ahnt er, dass er diese Tat bereuen wird. Erst am Ende des Buches scheint er in einer etwas zu pathetischen Szenen seinen Vater wieder erkennen zu können. Wie es sich für manches Jugendbuch gehört, zu spät für den inzwischen intellektuell gereiften Jungen. Mit der jungen Erbin, die sich als ganz patent und weniger arrogant erweist als es ihr dekadenter Lebensstil suggeriert, findet Nailer eine unerreichbare, aber zumindest erstrebenswerte erste platonische Liebe. Auch hier wandelt der Autor auf einem zu angepassten Grad, denn immerhin leben die Beiden einige Monate in einem Slum zusammen und gehen unterschiedlichen, harten Arbeiten nach, um sich vor Nailers Vater auf der einen Seite und den Handlangern der verfeindeten Klanseite auf der anderen Seite zu verstecken. Ob es bei dem zärtlichen einen Kuss geblieben ist, wird nicht verraten. Auch das potentielle Dreckesverhältnis mit der äußerlich harten wie pragmatischen Pima, die zumindest in der Theorie besser zu Nailer passen sollte, wird eher angedeutet als extrapoliert. So bleiben die Figuren bis auf Nailer seltsam eindimensional und stellenweise zu funktionell klischeehaft. Insbesondere Nailers Vater als Inkarnation der Antagonisten – er dient den Gegnern schließlich als williger Handlanger – erscheint als Westentaschenschurke zu überzeichnet. Die Idee der Tiermenschen wirkt eingestreut. Es gibt einen „guten“ herrenlosen Helfer, der Nailer und sein Pfand zweimal aus gefährlichen Situationen auch aus ihn selbst bedrohenden Situationen rettet. Ansonsten wäre Nailers Weg schnell zu Ende. Andere hundeähnliche „Wesen“ werden als reine Spurensucher eingesetzt oder sie dienen auf den Schiffen der Flotte als billigste Arbeitskräfte. Anscheinend sollen sie den Hintergrund bereichern, ohne das wirklich auf ihre Herkunft und/ oder ihre ursprünglichen Aufgaben eingegangen wird. Sie wirken wie ein Kompromiss gegenüber Bacigalupis ersten preisgekrönten Roman.

Zusammengefasst überzeugt „Schiffsdiebe“ wie „Wind Up Girl“ hinsichtlich der morbiden futuristischen Atmosphäre, wobei statt des exotischen asiatischen Schauplatzes dieses Mal die Handlung von „heimischer Kulisse“ aus Sicht des Autoren spielt. Der grundlegende Handlungsstrang wirkt ein wenig zu simpel gestaltet. Es fehlt der über die Details hinausgehenden Impuls dieser männlichen „Cinderella“ Story, in welcher Nailer viele Dinge schließlich fast in den Schoss fallen. Damit befriedigt der Autor vordergründig die Erwartungshaltung seines jugendlichen Publikums, verpflichtet es aber auch, diese etwas zu naive klassenübergreifende teilweise auf der emotionalen Ebene fast zuckersüße Geschichte zu schlucken, um auf der anderen Seite eine dunkle Zukunft der über die eigenen Verhältnisse lebenden ersten Welt kennenzulernen, welche „Schiffsdiebe“ zu einem zufriedenstellenden, aber keinesfalls das herausragende Niveau seines auch erzähltechnischen anspruchsvollen Erstlings erreicht.

 

 

 

 

  • Broschiert: 352 Seiten
  • Verlag: Heyne Verlag (5. März 2012)
  • Sprache: Deutsch
  • ISBN-10: 3453529197
  • ISBN-13: 978-3453529199