Ronald M. Hahn präsentiert mit „In der Todeszone“ den ersten Band einer vor allem hinsichtlich des Hintergrunds interessanten Detektiv Alternativweltserie. Teil zwei und drei aus der Feder Arno Thewlis sind zeitgleich erschienen.
In seiner umfangreichen Karriere hat der in Wuppertal lebende Autor, Herausgeber und literarische Agent bzw. Nachlassverwalter immer wieder gerne historische Persönlichkeiten leicht verfremdet in seine Geschichten eingebaut. In Bezug auf die dreißiger und vierziger Jahre des 20. Jahrhunderts erreicht dieser Aspekt seiner Arbeiten mit „Wo keine Sonne scheint“ in Kooperation mit Horst Pukallus einen Höhepunkt.
Auch bei „Ullstein“ – der Protagonist ist nicht mit dem bekannten Verleger aus Berlin verwandt, nutzt aber die Namensähnlichkeit in einigen schwierigen bis tödlichen Situationen zu eigenen Gunsten aus – macht es Spaß, die verschiedenen Querverweise auf bekannte Persönlichkeiten zu suchen. Dabei reicht das Spektrum vom Scharlatan Hanusen über Thea van Harbou, die tatsächlich mit Fritz Lang verheiratet gewesen und einige seiner Filme geschrieben hat, bis zu H.H. Ewers, der zwar Schauermärchen mag, aber noch keinen literarischen Erfolg für sich verbuchen kann. Ein Hugo Gernsbacher ist nicht in die USA gezogen, sondern in der annektierten amerikanischen Kleinstaatzone geblieben, wo er allerdings auch ein Magazin mit Science Fiction Geschichten herausbringen möchte. Adolf Hitler kämpft mit seinen Werwölfen gegen die Obrigkeit und der Kommunismus ist weiterhin eine staatliche Misswirtschaft, wobei Lenin nur bedingt einen langen Schatten wirft.
Der abweichende historische Punkt ist der Ausbruch einer tödlichen Neopest zur Zeit der Weimarer Republik. Das Reich ist in viele isolierte Kleinstaaten zerfallen, von denen einige wie angedeutet unter amerikanische oder kommunistische Herrschaft gefallen sind. Das Ausland hat Deutschland isoliert. Nur Brieftauben und Briefe kommen aus Angst vor einer Ansteckung über die Grenzen der einzelnen kleinen Staaten. Die Telefonleitungen sind gekappt worden, wobei Ronald M. Hahn zu diesem Punkt keine Argumente liefern kann. Er benötigt ihn einfach handlungstechnisch, da ansonsten die verzweifelte Mission des Privatdetektivs Ullstein zu schnell „gescheitert“ wäre.
Harry Ullstein lebt und arbeitet als Privatdetektiv. Früher hat er in der Armee als Leutnant gedient, auch wenn seine Disziplin nicht die Beste gewesen ist. Der Hellseher Hanussen gibt ihm den Auftrag, nach seiner verschwundenen Tochter zu suchen. Dazu muss er Grenzen zwischen den kleinen Staaten überqueren, was lebensgefährlich ist. Im Laufe des Plots überquert Ullstein aber auf so unterschiedliche Art und Weise Grenzen, dass man nicht mehr davon sprechen kann, das der eigentliche Übertrieb die Gefahr bürgt, sondern jegliche Art des Reisens vor allem in derartig politisch bewegten Zeiten unübersehbare Herausforderungen darstellt. Lange Zeit kann Ullstein mit gefälschten diplomatischen Dokumenten oder als Liebhaber einer einflussreichen Drehbuchautorin oder Produzentin, selbst an Bord eines Segelflugzeugs von einem Kleinstadt zum nächsten „hopsen“. Die Schwierigkeiten beginnen erst nach der Überquerung der Grenze und haben gänzlich andere Ursachen.
Interessant ist, das die Suche nach Hanussens Tochter erst eine Art MacGuffin darstellt. Hier wird Ullstein erstaunlich schnell fündig. Die Erklärung, warum sie verschwunden ist und vor allem, warum Hanussen sie wieder an seiner entfernten Seite wünscht, sind schlüssig. Aber jeder Erfolg auf dieser im Grunde chaotischen Suche ist ein Pyrrhussieg, dem eine größere Herausforderung gegenüber steht. Zum ersten Mal hört er davon, das die Neopost von Gegnern des deutschen Reiches absichtlich verbreitet worden ist, um Deutschland in einer gewissen Abhängigkeit zu halten, aber von der deutschen Ingenieurskunst und vor allem den Rohstoffen doch profitieren zu können.
Aber Ullstein kann sein Wissen, seine Vermutungen nicht gewinnbringend an den Mann bringen. In der zweiten Hälfte des Buches ist er ein Gejagter. Nicht unbedingt alleine, sondern als Mitglied der politisch extremsten Reisegruppen von nationalsozialistisch faschistisch bis wie mehrfach angesprochen kommunistisch rot.
Zu Beginn agiert Ullstein aktiv. Mit den richtigen Seilschaften kommt er schnell zu seinem Ziel und findet Hanussens Tochter. Ab diesem Punkt bleibt ihm aber nur noch Reaktion übrig. Er wird von den einzelnen Interessengruppen förmlich vorangetrieben, wobei ein impulsiver Gedanke Ullsteins schließlich das Finale einläutet.
Der Hintergrund der Geschichte ist deutlich besser entwickelt als die Protagonisten. Ronald M. Hahn nimmt die historischen Fakten und verfremdet sie nur bedingt. Fast alle historischen Figuren sind klar zu erkennen und der Autor baut auch einige Querverweise auf die utopisch phantastische Literatur mit ein.
Es empfiehlt sich, den Klappentext nicht vor der Lektüre bis zum Ende zu lesen, da hier ein wichtiger Hinweis quasi verraten wird. Es ist wahrscheinlich die Ausgangsbasis für die nächsten mindestens zwei Teile. Auch hier bleibt Hahn sehr nahe an den allerdings anders extrapolierten historischen Fakten und nutzt die natürlichen Hintergründe, um seine verfremdeten, aber auch erkennbaren Protagonisten zu platzieren.
Ullstein ist dabei eher ambivalent gezeichnet. Auch wenn er es vielleicht sein möchte, ist er nicht der Hardboiled Schnüffler des noch entstehenden Privatdetektivromans in den USA oder der späteren Film Noir Filme. Als eine Art Running Gag wird ihm mehrmals auf den Kopf geschlagen. Dabei spielt es keine Rolle, ob es sich um erotische oder gefährliche Momente handelt.
Die Suche nach Hanussens Tochter wird zu einfach abgewickelt. Zu schnell findet der Detektiv sie, auch wenn das Auffinden nur ein Teil seiner großzügig vergüteten Mission ist. Er soll sie ja auch nach Berlin zurückbringen, was angesichts der chaotischen politischen Verhältnisse unmöglich ist.
Positiv ist weiterhin, dass Ronald M. Hahn nicht immer wieder in die Bereiche der Farce ausbricht. Nur selten tauchen die flapsigen, aber nicht immer passenden Bemerkungen auf, die in einigen seiner Satiren die Handlung schier erdrückten. Der Plot ist ausgesprochen konzentriert erzählt. Der Hintergrund ist historisch verfremdet, aber doch klar erkennbar. Viele rote Linien werden in diesem ersten Band etabliert, auf denen die Fortsetzungen sehr gut aufbauen können. Ullstein ist ein Getriebener, der wie erwähnt kaum aktiv in den Handlungsverlauf eingreifen kann, auch wenn er es gerne möchte. Selbst die Rettung der Holden basiert auf einem Zufall und hat wenig mit seiner Eigeninitiative zu tun.
Das Ende ist eher offen gestaltet. Ullstein ist weiterhin dabei, seine Mission abzuschließen und seine bisherigen Bemühungen haben zu keinem erfolg geführt. Zusätzlich erfährt er aus der Zeitung eine Information, die seine Rückreisepläne unterminiert und ihn zwingt, mindestens einen losen Faden abzuschließen.
Während sich der größte Teil des Plots technisch auf dem Niveau der dreißiger Jahre bewegt, erscheinen einige Erfindungen – sie werden bislang nur erwähnt und werden nicht aktiv eingesetzt – aus der Zeit gefallen. Hier seien die Krupp- Kampfroboter erwähnt, welche anscheinend zumindest einige Grenzen zwischen den Kleinstaaten bewachen. Auf der anderen Seite ist das Morsegerät versteckt im Schenkel eines Agenten eine Idee, die zeitgemäß und bizarr zu gleich ist.
Zusammengefasst ist „In der Todeszone“ ein interessanter, von Ronald M. Hahn auch gut geschriebener Auftakt einer interessanten Mischung aus Alternativweltroman und Kriminalgeschichte, die sich dank des gut recherchierten und dann mit zahlreichen Anspielungen verfremdeten Hintergrund von der Masse gegenwärtiger deutscher Science Fiction positiv abhebt.

