Wolfgang Schüler hat in den letzten Jahren eine Reihe von Kurzgeschichten, Novellen und schließlich auch Romanen mit Sherlock Holmes in den Verlagen KBV und Blitz veröffentlicht. Dabei ging es dem Autoren vor allem auch um einen überzeugend recherchierten Hintergrund. Von den literarischen Querverweisen und augenzwinkernden Anspielungen ganz zu schweigen.
In die Phalanx von eher historisch orientierten Fällen reiht sich auch „Das Rätsel des Diskus von Phaistos“ ein. Der eigentliche “Kriminalfall“ spielt eine untergeordnete Rolle und soll eher die Lesergemüter beruhigen, die weniger Sherlock Holmes deduzierenden Fähigkeiten und seiner an einen Esel erinnernden Geduld bei der Lösung eines Problems zugeneigt sind, sondern auch ein wenig Spannung und Dramatik haben wollen.
Da hilft es auch nicht, dass die potentiellen Schurken auf einer zweiten Handlungsebene eingeführt werden. Ihr Vorgehen mittels Täuschung ist frech und offensiv zugleich. Eine zeitlich gut koordinierte Aktion, an deren Ende zwei miteinander verbundene Diebstähle stehen. Nur lässt sich keine wirkliche Spannung aufbauen, da Sherlock Holmes mindestens den zweiten Teil der Pläne erahnt und schnell vorgebaut hat. Selbst die finale Konfrontation in seiner kleinen Hüte in Sussex wird abschließend mit Hilfe von etwas Glück aufgelöst, wobei Wolfgang Schüler in der extrem langen Exposition entsprechend Vorarbeit leistet und impliziert, dass jeder Narr auf einen entschlossenen Befehl hin innere Hemmnisse überwindet.
Auch die Identität des Hintermanns „enttäuscht“ abschließend, weil sie nicht wirklich relevant ist. Im Epilog führt Wolfgang Schüler aus, was aus allen handelnden Protagonisten abschließend geworden ist.
Die Novelle ist stringent, wie ein Korsett komponiert. Es wäre ein leichtes gewesen, den Plot zu erweitern und vielleicht wirklich eine Bedrohung für das britische Königreich einzubauen, um Mycroft Holmes über die Bruderliebe hinausgehende Sorge zu rechtfertigen.
Aber die Ruhestandsgeschichten Sherlock Holmes haben eine grundsätzlich anders ausgerichtete Faszination und in diesem Punkt überzeugt Wolfgang Schüler mit „Das Rätsel des Diskos von Phaistos“ deutlich mehr als zum Beispiel in seinen ein wenig zu mechanisch konstruierten Romanen aus dem KBV Verlag.
Die Geschichte spielt im Jahre 1924. Doktor Watson lebt einsam in London und bekommt gegen den eigenen Willen, aber schließlich ihrem unwiderstehlichen Charme erliegend einen neuen Mitbewohner. Angesichts der Länge des Romans nehmen diese Passagen einen erstaunlichen Umfang ein.
Sherlock Holmes hat sich nach Sussex zurückgezogen. Miss Hudson ist vor einiger Zeit verstorbene, so dass sein Haushalt von einer eher resoluten, aber auch schwangeren Dame geführt wird. Er arbeitet an seinem Hauptwerk, dem vier Bände umfassenden hohen Schule der Verbrechensermittlung. In diese Einsamkeit bricht ein Brief aus Griechenland. Ein Professor Nikos Eratosthenes von der Insel Kreta lädt Sherlock Holmes ein, in den Süden zu reisen. Sherlock Holmes soll ihm bei der Entschlüsselung der Beschriftung des im Titel angesprochenen Diskos von Phaistos helfen, die auf beiden Seiten mit Schriftzeichen bedeckt worden ist. Es handelt sich um die einzige vollständige Tonscheibe, die in Phaistos gefunden worden ist.
Als Sherlock Holmes sich weigert, reist der resolute wie allerdings auch intellektuell naive Professor mit einem Leibwächter nach England und steht nach brieflicher Ankündigung mit der Scheibe in einem Koffer direkt vor Sherlock Holmes Tür.
Sherlock Holmes macht sich an die Arbeit. Ab diesem Punkt beginnt Wolfgang Schüler Fakten und den besten fiktiven Detektiv der Kriminalgeschichte so gut zu verbinden, dass die Leser informierend ohne belehrend zu agieren unterhalten werden.
Der Autor hält sich so weit es geht an die Fakten. Das beginnt und endet beim Fundort und der entsprechenden Zeit. Viele Mythen, falsche Gerüchte oder Verdächtigungen der Kunstfälschung sind erst später aufgekommen, so dass Wolfgang Schüler und Sherlock Holmes von der Authentizität des Fundes ausgehen. Zum Zeitpunkt der Handlung im Jahre 1924 gab es nur zwei Entzifferungsversuche von Florence Stawell und Albert Cuny, die nicht in die Überlegungen des Detektivs mit einfließen.
Der Autor nimmt aber die grundsätzliche Idee auf, dass es sich möglicherweise um das älteste mit beweglichen Lettern hergestellte Druckwerk der Welt handelt und fügt dank Sherlock Holmes eine besondere Note mit einer pikanten, für Sherlock Holmes dann wieder so typisch despektierlichen Schlussbemerkung hinzu. Mit dieser Vorgehensweise geht Wolfgang Schüler aber auch einen Kompromiss ein. Das Rätsel um den Diskos wird nur bedingt gelöst und die von Beginn an aufgeworfene Erwartungshaltung, möglicherweise eine Art modernde Schatzkarte in Händen zu halten, welche zusätzlich den Weg nach Atlantis zeigt, erfüllt sich nicht. Das könnte bei einigen Lesern für eine zusätzliche Enttäuschung sorgen.
Wolfgang Schüler hat in den letzten Jahren so viele Texte über Sherlock Holmes geschrieben, dass er deren Manierismen literarisch mindestens zufriedenstellend umsetzen kann. Sein Wegbegleiter Doktor Watson wird wieder zum naiven leichtgläubigen Trottel, der intellektuell immer mindestens einen Schritt hinterher ist, auch wenn seine neue Liebe zu Hause beweist, dass sich unter der manchmal sehr rauen Schale ein weiches Herz befindet. Mycroft Holmes hat einen kurzen Auftritt, in dem er nicht nur Doktor Watson rückblickend ein wenig übertrieben instruiert, um wahrscheinlich eher seinen Bruder als das britische Königreich zu schützen. Es gibt einige kleinere Hinweise auf den Vater der beiden Brüder.
Alle anderen Protagonisten wirken eher dem Plot geschuldet charakterisiert. Vor allem der griechische Professor trägt die Züge eines Hochstaplers. Aber diesem roten Faden folgt Wolfgang Schüler abschließend nicht und verschenkt vielleicht noch einen weiteren Konflikt.
Das Tempo der Geschichte ist angenehm. Alle Kapitel werden mit entsprechenden Zitaten aus den Doyle´schen Originalen eingeleitet, wobei nicht jedes Zitat zum entsprechenden Kapitel passt.
Zusammengefasst ist „Das Rätsel des Diskos von Phaislos“ eine unterhaltsame Sherlock Holmes Episode aus dessen Rentnerzeit, welche weniger ein Kriminalfall als eine historische Exkursion ist.