Hinter dem unscheinbaren Titel “Monde” verbirgt sich eine Neuauflage des schon 1989 publizierten Romans “Phases of Gravity”. Um die Bedeutung dieses auf den ersten Blick erstaunlich zurückhaltenden Buches wirklich erkennen zu können, ist ein Blick zurück in dieses Jahr notwendig. Im gleichen Jahr veröffentlichte Dan Simmons sein Horrorepos “Carrion Comfort”, für das er als Erweiterung einer vorher publizierten Novelle den Bram Stoker Award erhalten hat. Ebenfalls 1989 erschien mit “Hyperion” ein HUGO und Locus Award Gewinner, das Buch, das ihn vor allem in der Science Fiction Gemeinde so bekannt gemacht hat. Und irgendwo dazwischen hat diese melancholische realistische, das Ende der NASA Raumschiff aus der Perspektive eines ehemaligen Astronauten geschriebene Coming-of-Age Geschichte ihren ureigenen Platz.
Wäre der Roman nicht von Dan Simmons geschrieben worden, würde die Geschichte heute wahrscheinlich der Vergessenheit anheimgefallen sein. Zu Unrecht, denn weniger spannungstechnisch als hinsichtlich der Zeichnung der dreidimensionalen Protagonisten gehört “Phases of Gravity” zu Dan Simmons besten Arbeiten. Wer sich intensiver mit dem inzwischen umfangreichen, viele Genre umfassenden Werk des Amerikaners auskennt, wird Züge seiner historisch fiktiven Bücher wie “Terror” oder “Der Berg” vor allem auf der emotionalen Ebene erkennen.
Aber in einigen Punkten ist “Phases of Gravity” auch mit dem Frühwerk Simmons verbunden. Insbesondere in seinen Science Fiction Epen wie “Hyperion” und später “Illium” hat der Autor allerdings vor deutlich phantastischeren und vielschichtigeren Hintergründen eine perfekte Mischung aus realistischen Figuren, aber auch mystischen, legendären Elementen gefunden.
Richard Baedecker ist ein ehemaliger Astronaut. Er ist einer der wenigen Menschen gewesen, die über den Erdtrabanten gewandert sind. Kurze Zeit war Baedecker allerdings im Schatten der Männer vor ihm ein Held in den Augen der Öffentlichkeit. Inzwischen ist er deutlich gealtert, niemand interessiert sich mehr für seine Geschichte. Vielleicht kommt er deswegen schlechter als der “durchschnittliche Mann” mit dem mittleren Lebensabschnitt zurecht.
Dan Simmons greift vielleicht absichtlich auf alle Klischees zurück, die eine solche emotionale Krise mit sich bringt. Baedecker kündigt seinen Job. Er beginnt eine Beziehung mit einer ihm im Grunde fremden Frau, die seine Tochter sein könnte. Eigentlich wollte er sich noch einen Sportwagen kaufen, aber im letzten Moment zögert er. Viel wichtiger ist es ihm, dass er seine beiden Kameraden aufsucht, mit denen er auf den Mond geflogen ist.
Herausfordernder ist die Beziehung zu seinem Sohn. Dieser befindet sich unter dem Einfluss eines Gurus. Dan Simmons hat sehr viel Spaß, die verschiedenen religiösen Absichten fast karikierend überzeichnet darzustellen. Der Sohn interessiert sich nicht für die Probleme des Vaters. Mit seinen zwanzig Jahren ist sein Lebenshorizont vielleicht flacher, aber deswegen nicht weniger relevant. Aber die vielleicht auch eingebildeten Sorgen eines Älter werdenden Vaters stehen nicht auf der Agenda. Auf der anderen Seite ist Baedecker auch noch nicht so weit, seinen Sohn in dessen Lebensraum zu akzeptieren. Dan Simmons macht deutich, wie sehr Baedecker auch von seinem Wunsch getrieben worden ist, in der Geschichte der Menschheit mit der Landung auf dem Mond zumindest Krümel von Spuren zu hinterlassen.
Im Gegensatz zu seinen auch stilistisch teilweise erstaunlich experimentellen und von einer Dynamik getriebenen Science Fiction und Horror Epen ist “Phases of Gravity” von Beginn an eher eine Art intellektuelles Stillleben, in welchem ein knapp vierzig Jahre alter Autor auch seinen literarischen Weg sucht. Die Beschreibungen des realen Hintergrunds erscheinen fast karg. Ganz bewusst hält sich der Erzähler Dan Simmons deutlich mehr zurück und konzentriert sich auf die verschiedenen Empfindungen und Gedanken seine Protagonisten. Diese realistische Hintergrund überdeckt sogar die wenigen, nicht auf der Erde, sondern auf dem Mond spielenden Szenen, in denen Dan Simmons dem Leser vermittelt, was für ein Profi Baedecker auf seinem kurzen Höhepunkt seiner Karriere gewesen ist.
Aber wie dieser Ruhm auch schnell schwindet, zeigt Dan Simmons weiterhin auf, wie wenig Zeit den Menschen auf der Erde wirklich bleibt. Dabei versucht der Autor vielleicht ein bißchen zu sehr belehrend die unterschiedlichen Standpunkte zwischen dem alt gewordenen Baedecker; seiner jungen Freundin mit einer Empathie gegenüber Erwachsenen und nicht mehr nur Heranwachsenden und schließlich dem in dieser Hinsicht noch betriebsblinden Sohn Baedeckers herzustellen. Ein großes Problem in diesen Szenen liegt in der Notwendigkeit, nicht nur zu beschreiben, sondern eine Art Botschaft zu formulieren.
Es ist die fatalistische Sichtweise Baedeckers Vater, der viele der inneren Konflikte in einen anderen, vielleicht größeren und dann doch wieder erstaunlich persönlichen Rahmen rückt. Mit Baeckers Altern verfolgt der Leser auch die Abkehr der Menschen vom All und die immer weiter heruntergefahrenen Budgets der NASA. Baedeckers Vater gehört zu der Generation, deren politisches Weltbild vor allem von Vietnam und anschließend vom Rücktritt Nixons geprägt worden ist. Im Gegensatz zu Baedecker hat dessen Vater erkannt, dass es sinnlos ist, vor sich hin zu leben und darauf zu hoffen, daß irgendwann/ irgendwie einem die Lebenslotterie das große Los zu spielt. Dan Simmons bleibt bei diesen Szenen ein ambivalenter, fast ein zu neutraler Erzähler. Er verurteilt den passiven Pragmatismus des Vaters nicht, sondern stellt ihn als eine Art Status Quo da. Je mehr dieser fast eindimensionalen Chiffren der Autor um den immer hektisch suchenden Baedecker platziert, desto deutlich wird dem Leser, aber noch nicht dem Protagonisten, dass er auf keine Wunder warten kann oder sollte, sondern das restliche Leben aktiv angehen muss. Eine Fähigkeit, die er scheinbar auf dem Mond gelassen hat.
“Phases of Gravity” ist daher ein Roman, der vielleicht eher ohne den Namenszug Dan Simmons funktioniert. Wer aus dem 21. Jahrhundert sich im Werk des Amerikaners zurück liest, wird neben den jetzt realistischen Romanen, den Hardboiled Thrillern, einer Art Capergeschichte mit Hemingway als Charakter; einem auf Hawaii spielenden Drama schließlich auch neben den angesprochenen Horror und Science Fiction Geschichten auf dieses Stillleben treffen.Ein wenig rührseliger, ein wenig theatralischer hat Dan Simmons einen ähnlich zerbrechlichen Protagonisten in “A Winter Haunting” eingeführt. Nur kehrte in diesem auch eher kritisierten Roman der Antiheld an den Ort seiner Jugend und einiger schrecklicher Ereignisse zurück, während Baedecker stetig auf der Suche nach dem fast mystifizierten inneren Frieden ist, den er nicht in sich, sondern irgendwo bei Freunden/Bekannten/der Geliebten und schließlich dem Sohn vergeblich sucht.
Es ist eine überzeugende, sehr ruhig und intelligent geschriebene intellektuelle Studie, die den Leser fordert, aber nicht überfordert. Die Neuauflage im Heyne Verlag ist überfällig, auch wenn der Leser neutral an das Buch gehen und nicht einen weiteren Dan Simmons erwarten sollte. Das Erstaunlichste an diesem Roman ist wahrscheinlich, das im Gegensatz zu Stephen King, Peter Straub oder vielleicht auch Dean Koontz sehr viel früher in seiner literarischen Karriere mit ungewöhnlichen, intellektuellen Stilübungen angefangen hat. Zu einer Zeit, als sein Ruf als Autor noch nicht gefestigt gewesen ist und das unterstreicht den Mut Dan Simmons, der mit einer erneuten Lektüre von “Phases of Gravity” auch belohnt werden sollte.