Nathaniel

Michael Siefener

Im Dezember 2006 begann der FESTA Verlag mit einer Reihe von in sich abgeschlossenen Romanen oder Kurzgeschichtensammlungen um H.P. Lovecrafts „Cthulhu“-. Mythos. Den Auftakt machte Michael Siefener mit dem angeblich letzten Originalmanuskript H.P. Lovecrafts, welches der Amerikaner kurz vor seinem Tod „fertig stellte“ und das auf Umwegen beim jetzigen Lektor landete. Inzwischen ist das Originalmanuskript zusammen mit zwei Briefen Lovecrafts bei einem nicht weniger geheimnisvollen Brand vernichtet worden, so dass nur die redigierte Fassung mehr existiert und kein Beweis angetreten werden kann, dass es sich um ein Manuskript aus Lovecrafts Feder handelt.

 Michael Siefener ist der wahrscheinlich stilistisch beste Vertreter der klassischen Weird Fiction in Deutschland. Von einer eher konservativ zu nennenden Basis aus hat der Autor sich vor allem um den alltäglichen Wahnsinn gekümmert, der hinter den brüchigen Fassaden der Zivilisation lauert. Zusammen mit dem früh verstorbenen Malte S. Sembtens, dessen Geschichten diese Grundlagen moderner und damit teilweise auch experimenteller extrapolierten, gehört Michael Siefener zu den immer noch von der Öffentlichkeit ignorierten besten phantastischen Autoren. Malte S. Sembten hat für „Nathaniel“ das Lektorat übernommen.

 Die Geschichte spielt in einer fernen Zukunft, in welcher die Menschheit aus nicht weiter erklärten Gründen auf ein primitiven, dem 18. Jahrhundert inklusiv Tauschhandel entsprechenden Niveau zurückgefallen ist. Es gibt verschiedene Hinweise, dass mindestens zweihundertfünfzig Jahre von der Publikation dieses Buches vergangen ist. Auf den ersten Blicken passen ein an die Original angelehnter angeblicher Lovecraft Text und Science Fiction nicht unbedingt zusammen. Aber der Lovecraft Forscher S. T. Joshi hat in seinen bemerkenswerten Artikeln festgestellt, dass es bei Lovecrafts Originalgeschichte mindestens sechs außerirdische Rassen gibt, von denen während des furiosen, aber auch ein wenig unbefriedigenden Finals zwei eine wichtige Rolle spielen.

 Aber Michael Siefeners Zukunft ist gleichzeitig auch die Vergangenheit. Nathaniel arbeitet seit einigen Jahren als untergeordneter Behördenmitarbeiter. Seine Aufgabe besteht darin, Gegenstände gegen die einzige akzeptierte Währung zu tauschen: Muscheln. Mit den Muscheln kann alles bezahlt werden, kaputte Gegenstände werden vom Ministerium gegen neue Sachen ausgetauscht. Die Bewohner der kleinen Siedlung sind überschaubar.

 Nathaniel ist ein klassischer Einzelgänger. Er wohnt absichtlich in einer der höheren Etagen eines Hauses, weil er den Ausblick genießt. Er war anscheinend mal verheiratet, lebt aber inzwischen alleine. Vor dem Keller des Hauses fürchtet er sich genauso wie er sich an eine Expedition in das im Zentrum liegende Nachthaus erinnert, die er mit seinem Freund unternommen hat. Die Siedlung droht der Zerfall, wie die brüchigen Treppenstufen von Nathaniels Wohnung hinter zur Erde beweisen. Eines Morgens verliert er seinen Eimer, den er immer zur Arbeit mitnimmt. Er fällt in das Kellergeschoss und Nathaniel macht sich an die Bergung. Aus dem Keller spricht ihn sein Jugendfreund Edward Derby an, inzwischen eine unansehnliche Kreatur, die nur in den kalten feuchten Kellern haust und seit vielen Jahren als verschwunden gilt. Sie vereinbaren, sich abends ausgerechnet im Nachthaus zu treffen. Er zwingt Nathaniel auf eine Mission, die ihn natürlich nicht nur über die Grenzen der Siedlung hinausbringt, sondern die eigenen Grenzen austesten lässt. Er soll einer Frau namens Asenath einen Gegenstand überbringen. Nathaniel will sich eigentlich wehren, aber sein Freund wird vor seinen Augen erschossen und Nathaniel muss fliehen.

Mit dieser Szene beginnt die Odyssee, die Nathaniel immer wieder mit mehr und mehr phantastisch werdenden Kreaturen, aber zum Beispiel auch einem kryptischen Rätsel konfrontiert, das den Weg zur geheimnisvollen Bibliothek von Arkham – Bücher sind in dieser Zukunft schon lange verboten und existieren nur noch in wenigen bizarren Geheimverstecken -, aber auch zu Asenath weisen könnte. Oder in Nathaniels Verderben.

 Michael Siefener hat die Geschichte mit unzähligen Hinweisen auf H.P. Lovecraft versehen, ohne das die Handlung darunter leidet. Randolph Carter und seine Reise wird mehrmals erwähnt, dazu Wilbur Whateley und natürlich Nathaniel Peaslee. Es gehört zu Michael Siefeners Insiderwitzen, das einige der aufgefundenen Bände aus der Bibliothek von Arkham natürlich Lovecrafts Geschichten sind, in denen sich Nathaniel wieder findet. Auch H.P. Lovecraft selbst ist angesichts der Intensität der eigenen Träume in den beiden den Roman abschließenden Briefen verblüfft, wie sehr er sich selbst mittels seiner Alter Egos in diese Geschichte eingedacht hat. Neben dem angesprochenen Cthulhu Zyklen, den großen Alten findet Nathaniel auch eine neue, aus unserer Sicht futuristische Fassung des Necronomicons. Das passt diese Geschichte fast perfekt und nicht um ihrer Selbst Willen in Lovecrafts Universum ein und Michael Siefener geht mit diesen Querverweisen sehr respektvoll um. Im Mittelpunkt steht immer eine den ganzen Roman betrachtend erstaunlich rasante Geschichte. Normalerweise ist Michael Siefener ein Autor, welcher das Grauen langsam in die Realität einfließen lässt und der sehr viel Wert auf Details und weniger plumpe Action legt. In „Nathaniel“ funktioniert diese Mischung aus Stimmung und Handlung auf den ersten Blick deutlich besser als in einigen von Michael Siefeners Stillleben, die aber rückblickend grauenvoller und verstörender sind. Die Action überdeckt teilweise auch einige wichtige Details.

 Da die Geschichte nach dem Zusammenbruch der Zivilisation spielt, kommt Michael Siefener auch nicht umhin, einige Klischeekarten zu spielen.  So wird ein Dokument als „heilig“ und wichtig angesehen, das den Lesern zum Schmunzeln bringt. Einzelne Artefakte der untergegangenen ersten Zivilisation sind wie deren bauliche Hinterlassenschaften klar für die außenstehenden Betrachter zu erkennen, während die Protagonisten rätseln. Auch der Untergang der Menschheit mit aus Nathaniels unglaublichen Todeszahlen folgt den Versatzmustern dieses Subgenres. Michael Siefener ändert an diesem für die Handlung relevanten Szenario zu wenig, um es interessant erscheinen zu lassen. Zu oft hat ein in der Phantastik bewanderter Leser diese Szenen inzwischen goutiert.

 In dem Augenblick, in dem Michael Siefener allerdings auf Lovecraft und sein Werk umschwenkt, gewinnt „Nathaniel“ aus Tiefe. Es ist eine Abfolge von bizarren Szenen beginnend mit den Suchern im Wald; der Sekte unter der Erde hausend; den Kerkern mit den Gefangenen; den verstümmelten Kreaturen und gipfelnd in einer Szene, als Nathaniel zusammen mit der jungen Lavinia wieder an die Oberfläche bricht und tausende von Suchern in ihren weißen Kutten sie erwarten. Die Begegnung mit der Göttin/ alten Frau Asenath ist eine perfekte Mischung aus archaischer Technik und bizarrer Symbolik. Vielleicht überspannt Lovecrafts Siefener hier den Bogen, in dem er Nathaniels Herkunft ausführlich beschreibt. Aber die Idee hinter seinen Eltern und deren unheilvoller Beziehung ist ein weiteres Sprungbrett in das Reich der Phantasie, welches der dann sehr offen abgeschlossene Roman nicht mehr erfüllen kann. Michael Siefener bietet dem Leser in Form der Briefe Lovecrafts eine Erklärung an, aber sie wirkt teilweise ein wenig bemüht. Der Begriff des Pyrrhussieges passt auf der einen Seite perfekt zu Handlung, auf der anderen Seite sind Nathaniel und auf der Erde zurückbleibend Lavinia noch weit von einem Sieg entfernt. Dazu müsste erst einmal definiert werden, ab welchem Augenblick von einem Sieg geschrieben werden kann.

 Wie eingangs erwähnt zeichnet „Nathaniel“ ein sehr hohes erzählerisches Tempo auf. Nathaniel wird durch seinen Freund unwissentlich auf das kosmopolitische Spielfeld gesetzt und ab diesem Moment muss er rennen. Entweder wird er verfolgt und muss um Leben bangen oder er steht unter Druck, ein Zwischenziel in einem vorher abgesteckten Zeitraum zu erreichen. Aber Bewegung ist überlebenswichtig. Diese Dynamik hebt die Geschichte aus Michael Siefeners nicht selten atmosphärisch pragmatisch angelegten Werk heraus. Empfehlenswert ist die Lektüre auf jeden Fall, weil Michael Siefener viele Komponenten aus Lovecrafts Werk geschickt und intelligent extrapoliert und basierend auf Hintergründen sowie Figuren des Amerikaners eine bis auf den dystopischen Aspekt wirklich bizarre Geschichte verfasst hat, deren antiquarische Anschaffung die Mühe mehr als Wert ist.       

Nathaniel: Unheimlicher Thriller (H. P. Lovecrafts Cthulhu-Mythos)

  • Herausgeber ‏ : ‎ Festa Verlag; 1., Edition (4. Dezember 2006)
  • Sprache ‏ : ‎ Deutsch
  • Taschenbuch ‏ : ‎ 240 Seiten
  • ISBN-10 ‏ : ‎ 386552060X
  • ISBN-13 ‏ : ‎ 978-3865520609
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