Sherlock Holmes Neue Fälle 46. Der grauenhafte Gasthof

Ralph E. Vaughn

Mit fünf Geschichten des Amerikaners Ralph E. Vaughan präsentiert der Blitz nicht wie im Klappentext ausgedrückt eine Kombination von Lovecrafts Monstern und dem ermittelnden Sherlock Holmes in der Zeit seiner Sabbatjahre. Richtig ist, das Sherlock Holmes auf seinen Reisen (und in London) diverse Monster bekämpfen muss, sie stammen aber nicht alle aus dem Chtulhu Mythos Lovecrafts. Allerdings hat Vaughan eine Reihe von teilweise noch nicht übersetzten Romanen in dieser Kombination seit vielen Jahren veröffentlicht.

 In „Sherlock Holmes und die Zeitmaschine“  hat der Autor H.G. Wells legendären Roman inklusive der Morlocks mit Sherlock Holmes verbunden. In der Titelgeschichte dieser Sammlung hat der Leser zu Beginn fast das Gefühl, auf den Spuren Agatha Christies und ihres Orientexpresses zu wandeln, da eine Lawine den Zug in den italienischen Bergen zwingt, in einem kleinen Dorf mit einem zweifelhaften Ruf anzuhalten. Die Gäste sollen im einzige Gasthof unterkommen, allerdings hat die Zugmannschaft ein schlechtes Gefühl. Auch Sherlock Holmes traut dem Frieden des Dorfes nicht, taucht aber aktiv sein Zimmer unter dem Dach mit einer einfachen Kammer im Erdgeschoss, in welcher einige Geistliche während der letzten Lawinen unter nicht geklärten Umständen ums Leben gekommen sind.

 Der Plot ist relativ simpel angelegt und das feurige Finale in dieser gewaltigen Form zwar nicht hervor sehbar, aber zumindest teilweise erahnbar. Nicht nur bei dieser Geschichte fehlt ein klassischer Spannungsaufbau und die Exposition mit den in verschiedenen Sprachen diskutierenden Reisenden ist im Vergleich zur ganzen Geschichte und damit dem fast hektisch wirkenden Finale zu lang.

 In der zweiten Kurzgeschichte „Die Abenteuer des Nachtjägrs“   jagen Sherlock Holmes und Professor Challenger einen Mörder durch die Unterwelt Londons. Die Taten sind bestialischer als bei Jack, the Ripper. Gemeinsam versuchen die beiden so unterschiedlichen, sich aber jeweils für Genies in ihren Bereichen haltenden charismatischen Charaktere dem tierähnlichen Monster auf die Spur zu kommen. Ab einem bestimmten Moment beginnt der Leser zu ahnen, welche Hommage sich hinter dieser ebenfalls sehr kurzen und atmosphärisch zu oberflächlich gestalteten Geschichte verbürgt. Professor Challenger hat auf jeden Fall recht. Man hat diesen Gegner nicht das letzte Mal gesehen, wobei das inzwischen auch aufgrund seines/ ihres kontinuierlichen Erscheinen zu einer Art Running Gag geworden ist.

 Während Sherlock Holmes in der Titelstory noch seinen detektivischen Instinkten folgen konnte, dominiert Professor Challenger die zweite Story. Die Ermittlungen sind eher pragmatisch Ziel führend, die Spur sehr leicht erkennbar ausgelegt.  Der Titel könnte allerdings eine Hommage an die kurzlebige Fernsehserie „Kolchak- The Night Stalker“ sein.

 Bei „London nach Mitternacht“ denken viele Leser auch an den verschollenen Tod Browning Film mit dem gleichen Titel. Dieses Mal nutzt Sherlock Holmes einen anderen Erzähler. Doktor Watson ist mit seiner sechsten Frau beschäftigt und der Meisterdetektiv braucht einen Mann, der sich mit dem Okkulten auskennt. Professor MacCullaich begleitet den Detektiv nachts ins örtliche Museum, wo einer der Angestellten umgebracht worden ist. Angeblich befinden sich im Museum die legendären Noctis- Steine. Die Ermittlungen dieser ersten von drei längeren Geschichten folgen dem klassischen Muster der Doyle Storys mit einer zweiten Leiche und schließlich während des Finals dem obligatorischen Bogenschlag in Lovecrafts Territorium. In der zweiten Hälfte dominiert der Konflikt mit dieser seltsamen Kreatur im Inneren des für die Öffentlichkeit versperrten Museums.

Der Mehrumfang gibt Ralph E. Vaughan die Möglichkeit, die Interaktion zwischen den einzelnen Figuren besser zu entwickeln. Auf den ersten Blick steht die Geschichte allerdings auch in einem Widerspruch zum folgenden Jugendabenteuer Holmes „Der Flüsterer in den Highlands“. Hier zeigt ein sehr junger Sherlock Holmes vor seinem Umzug nach London schon umfangreiche Kenntnisse des Okkulten, während er in „London nach Mitternacht“ ja absichtlich einen Experten an seine Seite holt, der ihm hinsichtlich der Hintergründe des Falls unterstützt.

 Schon der Titel „Der Flüsterer in den Highlands“ ist eine direkte Verbeugung vor der Science Fiction Horror Novelle „The Whisperer in the Darkness“. Sherlock Holmes hilft einem Professor während der Bahnfahrt, an seine Frachtkiste zu kommen, welche der unfähige Bahnangestellte einfach auf den Kopf gestellt und damit den Empfänger verdeckt hat. Holmes und der Professor freunden sich an. Holmes darf einige Tage in dessen Landhaus übernachten. Gemeinsam ziehen sie nachts los, um das Geheimnis der seltsamen Kreatur namens „Flüsterer“ zu erkunden.

 Der Rahmen der Geschichte mit einem weiteren Erzähler, der diese bislang unbekannte Jugendepisode Sherlock Holmes lange Zeit für sich behalten hat, soll beim Leser ein wenig Verwunderung hervorrufen. Da sich Sherlock Holmes nach seinem nicht unbedingt erfolgreichen Studium profilieren muss, gibt er gleich zu Beginn der Novelle im Gegensatz zu den anderen Geschichten eine Reihe von Kostproben seiner genauen Beobachtungsgabe und verblüfft nicht nur den Bahnangestellten, sondern auch seinen Gastgeber. Anschließend schlägt Ralph E. Vaughan wie in „London nach Mitternacht“ den erzähltechnischen Bogen und spricht von den zahlreichen Kreaturen, welche direkt im „Inneren der Erde“ leben. Kein Wunder, dass Professor Lindenbrock – Jules Vernes Reisender in das Innere der Erde – vielleicht doch keine Dinosaurier, sondern Lovecrafts rätselhafte Kreaturen entdeckt hat, die seit Jahrtausenden unter der Erdoberfläche auf etwas eher Unbestimmtes warten.

 Die Verbindung zwischen den Werken verschiedener Phantastikautoren über Lovecraft hinaus gelingt Ralph E. Vaughan ausgesprochen gut, in dem er diese Vorlagen nicht aktiv nutzt, sondern ihre „Forschungen“ – der Leser ist diesen in den jeweiligen Romanen schon gefolgt – durch Sherlock Holmes oder andere Nebenfiguren in die aktuellen Ermittlungen als Fakten bzw. teilweise auch ein weit zu weit reichende Spekulationen einfließen lässt. Es ist dabei nicht notwendig, die jeweiligen Anspielungen zu kennen, sie erhöhen allerdings das Lesevergnügen.

 Von der Struktur her unterscheiden sich „London nach Mitternacht“ und „Der Flüsterer in den Highlands“ nur durch die Ausgangsposition mit einem bzw. zwei Morden zu Beginn der ersten Geschichte und langen Erkundungen als Exposition in der zweiten Novelle. Den Kampf gegen das Böse aus Lovecrafts Schriften müssen Sherlock Holmes und sein jeweiliger Partner voller Muts selbst bestreiten. Da helfen dann Sherlock Holmes überlegener Intellekt und seine Beobachtungsgabe auch nicht mehr weiter.  

 Die fünfte und letzte Geschichte „Die Wälder, der Beobachter und die Wächter“ ist die beste Novelle dieser Sammlung,. Eigentlich brauchte Lestrade mittels Telegramm nur einen kleinen Rat von Sherlock Holmes in Hinblick auf einen Mord in einer der ländlichen Gegenden Englands mit kleinen Dörfern und unzugänglichen, uralten Wäldern. Natürlich machen sich Sherlock Holmes und Doktor Watson gleich auf den Weg. Sie fahren so schnell gen Norden, das ein Freund Holmes wichtige Bücher mit dem nächsten Zug nachschicken muss. Auf den ersten Blick handelt es sich bei dem Mord fast schon um eine Art Totschlag nach dem Streit zweier eher unterbelichteter, aber kräftiger Männer, von denen der eine meistens isoliert in seiner Hütte im Wald lebt. Aber Sherlock Holmes fehlt das entscheidende Motiv und dem potentiellen Täter traut er diese Art der Affekthandlung nicht zu.

Geschickt verbindet Ralph E. Vaughan nicht nur Sherlock Holmes dieses Mal auch über die ganze Strecke der Geschichte für den Leser nachvollziehbarere deduzierende Leistung mit übernatürlichen Elementen nicht nur in der Tradition H.P. Lovecrafts, sondern einer ganzen Reihe von viktorianischen Gruselautoren, die in den beseelten Wäldern mit ihrem stimmungsvollen Geschichten immer wieder Urkräfte heraufbeschworen haben. Der ungewöhnliche Titel stellt die drei wichtigen Eckpunkte schon gegenüber und Sherlock Holmes wird sowohl mit den Wäldern als auch den Wächtern konfrontiert. Der Beobachter spielt dabei eine besondere Rolle.

 Es sind die Feinheiten, welche diese Novelle noch effektiver erscheinen lassen. Das namenlose, aber in Menschheit eingebundene Buch. Die Erhabenheit der alten Bäume und vor allem der Aberglauben der Dorfbewohner auf der einen Seite, der auf der anderen Seite von den mehr „zivilisierten“ Bewohnern der Nachbarortschaft ins Lächerlich gezogen wird. Ralph E. Vaughan gibt auch keine abschließenden Antworten und Sherlock Holmes finale These basiert neben einigen wenigen, emotional aufgefundenen Beweisen auf einer Reise von Thesen, welche Lestrade ohne finales Urteil liebend gerne akzeptiert. Lestrade taucht in dieser Geschichte auch eher als Randfigur auf, die nicht stört, sondern die Ausgangsprämisse inklusive des von den örtlichen Polizisten verhafteten Tatverdächtigen präsentiert, anschließend sich in den Hintergrund zurückzieht und nicht mehr gesehen wird. Sherlock Holmes erstaunliche Offenheit gegenüber dem Übernatürlichen – immer ist er laut dieser Chronik ja schon als Jugendlicher in „Der Flüsterer in den Highlands“ konfrontiert worden – gegen das stereotype Vorgehen Scottland Yards hätte die Novelle noch ein wenig mehr belebt.

 Aber hinsichtlich ihres Tempos, ihrer Stimmungen und vor allem auch des in der Tradition eines Arthur Machens wie H.P. Lovecraft stehenden Finals ist „Die Wälder, der Beobachter und die Wächter“ einer guter Abschluss einer qualitativ nicht immer stimmigen Sammlung. Die beiden kürzeren Texte leiden unter dem fehlenden Raum, die Plots zu entwickeln. In der zweiten Story „Die Abenteuer des Nachtjägers“ ist es vor allem die Pointe, welche heraus sticht und sich nicht in die vier anderen, auf klassischen Gruselmotiven basierenden Geschichten einpassen will.

 Bei den längeren Texten kann Ralph E. Vaughan nicht nur den jeweiligen Hintergrund besser entwickeln. Der Autor gibt sich auch hinsichtlich der Nebenfiguren – in allen drei Fällen spielen sie wichtige Rolle – sehr viel mehr Mühe. Die Atmosphäre ist deutlich dunkler, bedrohlicher und damit auch in Kombination mit den jeweiligen Fallverläufen passender. Am Ende ist es in zwei von drei Novellen wieder der klassisch klischeehafte Kampf zwischen Mensch und Monster, aber in der finalen Story hat Ralph E. Vaughan einen faszinierenden „Gegner“ entwickelt, dessen Einfluss weit über das kleine Dorf am Fuß der gewaltigen, uralten Wälder hinausreicht und trotzdem vor allem für einen Logiker wie Sherlock Holmes nur akzeptabel, aber nicht final greifbar ist. 

   

Taschenbuch

220 Seiten

Blitz Verlag

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