Als Band 19 der Herbert W. Franke Werksausgabe legt p.machinery den mit dem Deutschen Science Fiction Preis ausgezeichneten Roman „Die Kälte des Weltraums“ mit einem Thomas Franke Titelbild – deutlich besser als Tom Breuers Bild für die Erstveröffentlichung im Suhrkamp Verlag – neu auf. 1984 das erste Mal erschienen, publizierte der Heyne Verlag gute dreißig Jahre später die erste E- Book Edition. Hans Esselborn hat ein informatives Nachwort der Neuveröffentlichung hinzugefügt, Ulrich Blode geht – wie in jedem Band der Werksausgabe – auf die Gesamtedition ein.
„Die Kälte des Weltraums“ fasst – wie Hans Esselborn in seinem Nachwort fokussiert feststellt - einzelne Themen aus Herbert W. Frankes Frühwerk auf eine moderne Art und Weise zusammen. Der finale dritte oder vierte Weltkrieg spielt in „Zone Null“ und „Die Glasfalle“ eine wichtige Rolle. In seine Betrachtungen schließt der Autor auch K.H. Scheers Roman „Die Großen in der Tiefe“ ein. Auch wenn Franke eine durch den Einsatz der modernsten wie geheimsten Waffen zerstörte Erde beschreibt und noch einmal ausführlich darlegt, das ab einem bestimmten Grad der Aufrüstung ein Krieg nicht mehr zu gewinnen ist, unterscheidet sich „Die Kälte des Weltraums“ auch deutlich von den ersten beiden Büchern. Nur zu Beginn lernt der Leser die Strukturen dieser eher gesichtslosen wie möglicherweise auch von Computern gesteuerten Regierung kennen. Im Orbit werden vier Menschen aus ihrem Kälteschlaf geweckt und auf die Erde gebracht. Möglicherweise handelt es sich um die vier Anführer eines totalitären Regimes, das mit seiner Blut- und Boden Philosophie und der Unterdrückung des Volkes für den finalen Vernichtungskrieg verantwortlich gewesen ist, an dessen Ende eine neue Eiszeit durch die finale Superwaffe ausgelöst worden ist.
Die vier Menschen behaupten allerdings, das es sich um Doppelgänger handelt, die extra zum Schutz der paranoiden Anführer angeheuert worden sind. Sie wurden hart auf die Übernahme der Rollen vorbereitet und haben im Gegensatz zu den Originalen – wie sie glauben – das Chaos mittels Flucht ins All überlebt. Seit mehr als zweihundert Jahren haben sie sich in ihrem Kältegefängnis befunden. Es ist eine doppelte Ironie, das auf der Erde inzwischen auch unwirtliche Temperaturen herrschen und das die Geschichte für zwei Charaktere genau da endet, wo sie beginnt.
Herbert W. Franke nutzt bei der Struktur seiner Geschichte wieder den Ich- Erzähler. Der Leser erfährt alles zur gleichen Zeit wie Richard, der Richard Wallenbrock als Vorsitzender der Ausschüsse Technik, Medien und Propaganda verkörpert hat. Richard ist der Einzige der vier Menschen, der sehr viel enger mit seinem Original verbunden sein wird- vielleicht hat ihn Franke deswegen auch als Ich- Erzähler ausgewählt. Der Leser hat allerdings - dank Frankes sachlichen Stil - nur bedingt die Möglichkeit, Richards Gedanken im Zuge der ausgesprochen stringenten Handlung zu verfolgen.
Neben Richard wurden noch Elliot Brust – der Präsident der westlichen Union-, Einer Fergusson – Admiral, oberster Leiter der Vereinigten Westlichen Streitkräfte – und Kathrin Blijner – Führerin der Vereinigten Westlichen Frauenverbände – gedoppelt.
Das Gericht ist aufgrund fehlender Unterlagen von dieser Doppelgängertheorie nicht überzeugt. Auf der anderen Seite gibt es auch keine handfesten Beweise gegen die Behauptung der wegen verschiedener Kriegsverbrechen angeklagten drei Männer und eine Frau.
Das Urteil könnte auf der einen Seite mit aufschiebender Wirkung salomonisch sein. Sie sollen sie über Winter in einem einsamen Hotel auf einem der wenigen aus der Zeit vor dem Krieg erhaltenen Gebäude aufhalten und Beweise für ihre eigene Existenz tief unter den Schichten des Eises suchen. Ohne Hilfsmittel, auf sich alleine gestellt.
Die ersten Szenen erinnern ein wenig an Thomas Manns „Zauberberg“. Ein aus der Zeit gefallenes Gebäude, inzwischen leerstehend und ebenso eindrucksvoll in den namenlosen Bergen gelegen. Eine kleine Gruppe von Menschen, die mit dem Rest der Welt nicht in Kontakt stehen, die aber eine art Mikrokosmos der Vergangenheit wie der potentiellen Zukunft bilden. Natürlich hat Stephen King wenige Jahre vorher mit dem Overlook Hotel in „The Shining“ das beste Beispiel für den in für den Winter geschlossenen Hotels geliefert, aber Frankes Schöpfung erinnert mehr an den großartigen Mann Roman.
Angesichts Herbert W. Frankes Hang zur inhaltlichen Kompression reißt der Autor dieses Szenario schnell auf. Bei den ersten Erkundungen im Unterbau des Hotels finden sie den Zugang zu einer geheimen Kammer mit einer doppelten Überraschung. Die Vergangenheit hat die vier Menschen nicht nur eingeholt, sondern sie fallen schnell in ihre alten Rollen zurück. Sie sind nicht die einzigen Überlebenden aus der Zeit der Vernichtungskrieg.
Herbert W. Franke setzt sich in diesem Roman mit vielen Formen des Totalitarismus auseinander. In den achtziger Jahren, der Zeit des Kalten Kriegs geschrieben, ist „Die Kälte des Weltraums“ nicht nur eine Extrapolation der NS- Diktatur in eine unbestimmte Zukunft. Hans Esselborn zitiert ausführlich aus Frankes Roman und im Hinterkopf sieht der Leser die SS und SA Truppen; den Führerkult und die ewige, die Wahrheit verdrehende Propaganda von einem Angriffskrieg, um die eigene Existenz zu sichern. Wie zeitlos Frankes Buch ist, zeigt sich in der Gegenwart mit einer neuen Form der Propaganda auf beiden Seiten des Atlantiks. Ob die Fake News harmloser sind als Putins wirre Reden und seine Rechtfertigung des russischen Überlebenskampfs zum Erhalt der eigenen Rasse – wie irrsinnig diese These ist, unterstreicht jede objektive Geschichtsforschung hinsichtlich der Ukraine – kann Leser für sich selbst entscheiden. Gefährlich sind sie auf jeden Fall.
Auch die stetig steigenden Drohungen der Diktatoren gegenüber ihren direkten wie indirekten Feinden; die Drohungen eines Atomskriegs beim Überschreiten bestimmter roter Linien, die sie selbst in ihrer Verwirrung auf imaginäre Landkarten malen und schließlich die komplette Unterdrückung des eigenen Volkes sind alles Themen, die in den dreißiger Jahren genauso aktuell gewesen sind wie im kleineren Rahmen in den achtziger Jahren, als Franke diesen Roman geschrieben hat. Ausgestorben sind sie im 21. Jahrhundert leider nicht. Vielmehr pflanzt sich der Samen in mehr Länder fort, als es ein gebildeter Mensch glauben mag.
Frankes Totalitarismusvision hat aber seinen Gipfel überschritten. Da hilft es auch nicht, dass die geheime Überlebensfestung in einen der höchsten Berge Europas gebaut worden ist, um vor den verschiedenen Waffen geschützt zu sein. Frankes teilweise absurdes Kammerspiel ist über weite Strecken kein verharmlosender Blick zurück, sondern eher eine fortlaufende Auseinandersetzung mit der teilweise in der Gegenwart bizarre Züge erreichenden Vergangenheit. Es ist kein Zufall, dass Frankes Protagonisten vom Gipfel – auch eine Art Gefängnis – in die Abgründe steigen müssen, um teilweise der Wahrheit auf die Spur zu kommen, aber vor allem sich direkt wie indirekt mit der eigenen Vergangenheit und den immer noch sichtbaren Spuren des Sündenfalls auseinandersetzen.
Mit den potentiellen Doppelgängern macht es sich Franke ein wenig leichter, über Schuld und Söhne; Verantwortlichkeit und Feigheit zu diskutieren. Die Positionen sind relativ schnell klar. Zweifel kommen nicht auf. Auch die Möglichkeit, dass die Doppelgänger doch teilweise die Originale sind und sich im Rampenlicht leichter verstecken können, schließt Franke als klassisches, vielleicht auch klischeehaftes Spannungselement ausgesprochen früh aus. Das hat auch mit dem Fund in der opulent gestalteten Schlafkammer zu tun, welche die vier Verbannten entdecken.
Frankes Vorbild ist der Faschismus mit seiner das Volk blendenden Propaganda, basierend auf dem Dritten Reich. Bei Frankes Science Fiction Geschichten gibt es aber keine Nationalstaaten mehr. Er teilt seit den sechziger Jahren seine Welt in politische Blöcke ein. Der Westen oder der Osten. Die Bezeichnung Osten ist dabei ambivalent. Es kann sowohl die ehemalige UdSSR sein als auch die chinesische Diktatur. Mit dieser auf den ersten Blick simplen Weltaufteilung abstrahiert der Österreicher auch seine Geschichten. Macht sie zeitloser und allgegenwärtiger zugleich. Geschichte ist etwas, aus dem Mensch lernen kann und lernen sollte, aber nicht zwangsläufig muss. Ansonsten gäbe es keine reale Grundlage für diese dunklen Antiutopien.
Auf dem Abstieg vom Gipfel – des Berges und nicht des Triumphs – erreichen die inzwischen fünf Menschen und ein Hund neben einigen Schwierigkeiten auf dem Weg wie eingestürzte Treppen schließlich die Insel der Vergessenen. Wie die japanische Soldaten auf den Pazifikinseln ist für diese Handvoll Krieger der Kampf nie zu Ende. Sie können es gar nicht glauben, wem sie das wirklich begegnen, wobei es sich ja inzwischen um die sechste Generation von Soldaten handeln müsste, welche die charismatischen wie verführerischen Anführer nicht mehr leibhaftig gesehen haben.
In einzelnen Szenen zeigt sich Frankes eigene Erfahrung als Höhlenforscher. Es gibt im Bergmassiv unter dem Hotel keine geraden Gänge mehr. Nicht selten müssen sie umkehren oder schließlich den Wassertunnel benutzen, der eigentlich im Sommer das Schmelzwasser ableiten soll. In Dunkelheit – Licht ist wertvoll – und Kälte versuchen sie, aus ihrem selbst gewählten Gefängnis zu entkommen. Die eigentliche Mission, in bzw. unter den Resten der zerstörten militärischen Anlagen die eigene Identität zu finden, wird angesichts der äußeren Umstände schnell fallen gelassen. Es ist für einen Herbert W. Franke Roman allerdings erstaunlich, dass er sich mit dem Thema einer falschen Identität, der Suche nach der Wahrheit nur zu Beginn der Geschichte aufhält. In einigen seiner frühen Romane blieben seine Figuren am Ende einer langen Suche identitätslos oder mit zynischer Berechnung stellte der Österreicher die sorgfältig entwickelte und detailliert beschriebene Welt auf den Kopf. Wer mit dieser Erwartungshaltung an „Die Kälte des Weltraums“ herangeht, wird unwillkürlich enttäuscht.
„Die Kälte des Weltraums“ – der Titel ist nicht ganz richtig, da die Weltraumkälte nur zu Beginn und am Ende der Geschichte eine Rolle spielt, dazwischen ist die Erde durch den Einsatz von Wunderwaffen erkaltet, aber die Temperaturen sind noch höher als im Weltraum – ist eine politische Allegorie mit den Schwerpunkten totalitäre Diktatur bis zu einer kontinuierlichen Gehirnwäsche der Bevölkerung – in Russland, Nordkorea oder China ein alltägliches Thema – und Gruppendynamik. Obwohl in Überzahl wagen die vier „Schauspieler“ nicht, sich gegen den alten Zwang durchzusetzen. Erst als sie alle am eigenen Leib die Brutalität der vergessenen Soldaten spüren, beginnen ihre Überlebensinstinkte sich zu regen.
Auch wenn Herbert W. Franke – bis auf die Nebenfiguren – sich auf fünf sehr unterschiedliche Charaktere konzentriert, wirkt die Entwicklung der einzelnen Figuren eher pragmatisch und schematisch. Es handelt sich weniger um Menschen aus Fleisch und Blut. Selbst die Liebes bzw. Sexszene wirkt antiseptisch. Franke sieht in seinen Protagonisten eher Stellvertreter für Allgemeingültigkeit, als das er sie auf die Schwächen einzelnen Menschen bzw. Protagonisten reduzieren will. In seinen ersten Kurzgeschichten – die Erstveröffentlichung erfolgte auch im Rahmen der Franke Werksausgabe bei p. maschinery – ist es genau anders herum. Menschen aus Fleisch und Blut kämpfen auf dem Papier des Schriftstellers stellvertretend für den Leser um ihre Existenz. Sie lieben und leiden. Vieles wird in Herbert W. Frankes Science Fiction Romanen auf das Wesentliche, Funktionale reduziert, damit es allgemeingültig bleibt. Daher geht das Schicksal der vier zwangsverpflichteten Schauspieler dem Leser nicht wirklich nahe. Es fehlt in dieser Hinsicht die emotionale Brücke. So hätten einige Szenen zu Beginn der Geschichte kraftvoller, intensiver gewirkt.
Die Handlung beginnt als Kammerspiel in einem einsamen Hotel mit aus der Zeit gefallenen, in der Öffentlichkeit verachteten Menschen. Sie endet mit der Suche nach dem „Verräter“ in den eigenen Reihen, welcher die Niederlage erst möglich gemacht viele. Während des Finales kommen dafür nicht mehr sehr viele Menschen in Betracht. Der Leser stellt sich unwillkürlich aber auch die Frage, ob diese klassischen literarischen Arbeiten entsprechende Entlarvung – sie erfolgt schließlich fast nebenbei – überhaupt notwendig ist. Je mehr sich Franke von der anfänglichen Abstraktion eines totalitären Regimes entfernt und auf die zwischenmenschlichen Beziehungen zwischen „Herr“ und „Sklaven“ konzentriert, um mehr unterinteressanter und vor allem auch konstruierter erscheint die Geschichte. Es ist die Reise, welche den Reiz dieser Geschichte ausmacht. Das Ende ist – typisch Franke – pragmatisch und wenig verschlüsselt. Direkte Aussagen, Aktion und Reaktion. Es ist ein weiterer Pyrrhussieg im langen Werk des Österreichers. Er vermeidet in allen im 20. Jahrhundert verfassten Romanen (aber nicht in seinen Hörspielen oder den letzten vier bei DTV veröffentlichten Taschenbüchern) ein die aus seiner Sicht kritische Situation verklärendes Happy End.
Das Ende durchbricht den zu Beginn etablierten Zyklus nicht. Wie in „Dr. Seltsam oder wie ich lernte, die Bombe zu lieben“ ist es nur noch ein kleiner Schritt zwischen dem Abgrund, in den die Menschheit seit mehr als zweihundert Jahren blicken muss, und dem finalen Schritt. Im Gegensatz zu Doktor Seltsam, der angesichts der Schönheit der explodierenden Atompilze von einem Überleben im Bunker mit einem Mann auf 20 Frauen träumt, bietet Herbert W. Franke in der Kälte des Weltraums mit der stetig auf dem Mond und in vier im Orbit befindlichen Raumstationen wieder nach außen strebenden Menschheit einen kleinen Hoffnungsfunken an. Die Ewig Gestrigen haben im Angesichts des Todes ihr Werk vollendet. Auch wenn sie es nur bedingt miterleben. Das rückt den zugrunde liegenden Plot wieder näher an die sechziger und hinsichtlich des Kalten Krieges auch wieder an die achtziger Jahre heran, während Frankes Politikkritik auch heute noch erschreckend aktuell ist. Es ist nicht nur so, dass die Menschheit nichts lernt, sondern das die meisten Menschen auf die gleichen Scharlatane hereinfallen wie vor vierzig, sechzig Jahren oder irgendeiner anderen Zeit. Diese bittere Erkenntnis hebt „Die Kälte des Weltraums“ aus zahlreichen anderen Dystopien Frankes noch einmal mehr heraus und die Neuauflage im Rahmen der Werksedition ist überfällig.
Herbert W. Franke
DIE KÄLTE DES WELTRAUMS
Science-Fiction-Roman
SF-Werkausgabe Herbert W. Franke, Band 19
hrsg. von Hans Esselborn und Susanne Päch
AndroSF 98
p.machinery, Winnert, Januar 2024, 160 Seiten
Paperback: ISBN 978 3 95765 366 6 – EUR 16,90 (DE)
Hardcover: ISBN 978 3 95765 367 3 – EUR 29,90 (DE)