„Das Schattenbuch“ gehört zu einer Handvoll phantastischer Romane aus der Eifel, die Michael Siefener – nicht alleine – für den Verlag KBV geschrieben hat. Das Buch erschien das erste Mal 2005 als Taschenbuch. Vierzehn Jahre später legte der Verlag in seiner E Book Edition Eyfalia das Buch mit dem Untertitel Schwarze Eifel noch einmal auf.
Michael Siefener gehört ohne Frage zu den stilistisch stärksten Weird Fiction Autoren des deutschsprachigen Raum. Beginnend mit dem Kurzgeschichtenband „Schächte“ (Auflage 15 Exemplare) bis zu seiner bislang letzten eigenständigen Publikation “Numquam“ hat sich Michael Siefener nicht nur mit dem Übernatürlichen, dem Unheimlichen und nicht selten auch dem Unerklärlichen auseinandergesetzt, sondern seine vom Leben gezeichneten Protagonisten immer wieder auf Schnitzeljagden geschickt, an deren Ende nicht nur sie, sondern nicht selten auch die Leser in den (eigenen) Abgrund der Seele geschaut haben. Zu den Höhepunkte seines umfangreichen Schaffens gehört sicherlich der Liebesroman „Der Ballsaal auf der dunklen Seite des Mondes“, eine bizarre wie poetische Liebesgeschichte um zwei menschenscheue und lebensuntüchtige Charaktere, die am Ende an einem ungewöhnlichen, für die Leser vielleicht undenkbaren Ort ihr persönliches Glück gefunden haben.
Auch in „Das Schattenbuch“ geht es um die langen Schatten der Vergangenheit und gleichzeitig um die Möglichkeit, neu und anders anzufangen.
Arved Winter ist ein ehemaliger Priester, der die Kirche verlassen hat, nachdem er von einer älteren Dame ein Vermögen geerbt hat, um die er sich während ihrer schweren Krankheit bis zu ihrem Tod gekümmert hat. Inzwischen lebt er in deren Anwesen, fährt ihren Bentley, kümmert sich um die beiden Katzen und lebt in den Tag hinein. Nur jeden Mittwoch fährt er nach Trier und besucht die Antiquarin Lioba Heiligmann, kauft von ihr Bücher und unterhält sich nachmittags bei einem Kaffee mit der Frau, die einen erfolgreichen Handel mit okkulten Büchern treibt. Kurz vor seinem Besuch und nach dem gerade aufhörenden Regen findet Winter vor Heiligmanns Tür eine Kiste mit alten Büchern, die jemand abgestellt hat. Dabei handelt es sich um eine bunte Mischung von wertvollen Exemplaren, aber auch Kitsch. Der Kitsch soll im Altpapier entsorgt werden, aber Arved Winter wird von einem kleinen Buch mit drei seltsamen Holzstichen angezogen. Lioba Heiligmann schenkt ihm das Buch. Nach der Lektüre will Winter mehr über den Autoren Carnacki – der Hinweis auf William Hope Hodgson ist kein Zufall und wird von Michael Siefener im Text noch einmal ausdrücklich erwähnt - und den Künstler wissen. Lioba Heiligmann beginnt, ihm zu helfen. Die Beiden ahnen allerdings nicht, dass die Spur in ihre eigene, mehr oder minder dunkle Vergangenheit führt.
Michael Siefener ist ein Autor, der gerne mit dem Übernatürlichen spielt.
Auch wenn es allgegenwärtig erscheint und der Autor sich in einigen seiner Bücher auch vor Erklärungen verschließt, dauert es einige Zeit, bis die ersten unerklärlichen Phänomene auftreten. Dem Autoren hilft dabei nicht selten die rote Faden einer klassischen Suche, die mit Büchern oder Literatur im Zusammenhang steht. Nur in wenigen Fällen wie in „Die magische Bibliothek“ ist die finale Erklärung subversiv, zynisch und in sich logisch, ohne auf das Übernatürliche zu setzen. „Das Schattenbuch“ steht ein wenig zwischen allen Stühlen.
Die ersten Schritte der Suche nach dem Künstler – seine Namen ergeben das Anagramm Vampyr – und dem Autoren sind noch rein logisch. Der Drucker kann sich nur daran erinnern, ein einziges Exemplar angefertigt zu haben, das er in einem Mühleimer deponieren sollte. Er ist schließlich dem potentiellen Autoren in eines der Ghettos Triers gefolgt. Hier erlebt Lioba Heiligmann eine bittere Begegnung mit ihrer eigenen Vergangenheit. Das kann konstruiert sein, ist vielleicht auch von langer Hand vorbereitet. Später muss sich Arved Winter seiner eigenen Vergangenheit stellen, die er als unterlassene Hilfeleistung sieht. Auch diese „Tat“ – alle Geheimnisse erweisen sich letztendlich als „harmlos“, werden aber durch die magische Wirkung des Schattenbuches extrapoliert – steht nicht nur in einem engen Zusammenhang mit den drei Geschichten im Schattenbuch, sondern mit Lioba Heiligmann, welche er zu diesem Zeitpunkt noch nicht kannte.
Meisterlich verwebt Michael Siefener die einzelnen Situationen und Schicksale. Wenn die Suche nach dem Buch teilweise konstruiert erscheint und dem Zufall die Tür öffnet, ist es Absicht . Nicht nur vom Autoren, sondern vor allem auch hinsichtlich des Inhalts der drei im „Schattenbuch“ enthaltenen Geschichten. Diese drei Geschichten haben aber in einer unterschiedlichen Reihenfolge Auswirkungen auf Arved Winter und Lioba Heiligmann. Hinzu kommt noch ein anderer Aspekt. Ein Rechtsanwalt und Buchsammler – ein Alter Ego Michael Siefener ? – erläutert Lioba Heiligmann einiges über die Schattenbücher. Wie viele Schattenbücher es gibt, weiß er nicht. Aber es müssen viele sein. Jedes Buch gibt es nur einmal. Jedes Buch hat quasi einen Besitzer, der manchmal nichts von der Existenz dieses Buches erfährt. Anscheinend muss er das Buch auch durch einen Zufall – vor der Tür gefunden, in einem Antiquariat erstanden – in seinen Besitz gebracht haben. Auch dem Rechtsanwalt wurde trotz seiner langen Suche der Text zugespielt. Das Buch hat eine besondere Wirkung auf den Menschen, für den es bestimmt ist. Auf keinen anderen Menschen. Wie der eigene Schatten wird dieser Vorbestimmte das Buch auch nicht so einfach los.
Michael Siefener hält sich zwar an die eigenen Prämissen, erweitert die Idee aber durch die zart beginnende Liebesgeschichte zwischen der erfahrenen und ungefähr zehn Jahre ältere Lioba Wintermann und dem nicht nur wegen der seiner langjährigen Priesterschaft ein wenig emotional naiven Arved Winter um eine Komponente. Das vor Lioba Heiligmanns Haustür gefundene Schattenbuch könnte für zwei Menschen bestimmt sein, die zu diesem Zeitpunkt noch nichts voneinander wissen. Während die erste und schließlich auch abschließend zweite Geschichte ein klares Ziel vor Augen haben, lässt sich die dritte und dunkelste Story doppelt interpretieren. Diese Möglichkeit – von Michael Siefener nur angedeutet, aber nicht expliziert ausgesprochen – könnte es den Beiden auch erschweren, sich von den Schatten zu befreien.
Kontinuierlich zieht Michael Siefener das Tempo an. Die Antagonisten bleiben lange Zeit im Dunkeln, scheinen aber Arved Winter und Lioba Heiligmann kontinuierlich zu begleiten. Ihre Präsenz ist im Spiegel erkennbar – der erste offensichtliche Eintritt von etwas Übernatürlichem in die Gegenwart - , Winters Katzen spüren sie und verstecken sich. Der Blick über die Schulter zeigt erschreckende Leere.
Gegen Ende der Geschichte fühlt sich Michael Siefeners aber auch verleitet, dem potentiellen Schicksal nachzuhelfen. So gibt es eine Sequenz, welche eher an Steven Spielbergs „Duell“ erinnert als dass die Episode aus der Tempo Optimierung in diese Geschichte passt. Normalerweise sind Michael Siefeners Schrecken subtiler, sie speisen sich aus dem Unterbewusstsein, wie eine Sequenz auf den Mauern der Burgruine zeigt.
Auch das Finale wirkt seltsam greifbar und scheint auf den ersten Blick dem aufgebauten, auf Stimmungen basierenden Handlungsbogen zu widersprechen. Ein wichtiger Aspekt aus dem Schattenbuch muss noch umgesetzt werden und dazu müssen sich die Hintermänner „zeigen“. Michael Siefener verwischt den potentiell bodenständigen Ansatz gleich wieder und deutet an, dass es doch Übernatürliches sein könnte, aber der Leser wird durch deren psychopathisches Verhalten aus der bizarren Alptraum Atmosphäre gerissen. Gegen einen klassischen Rache-Krimi spricht, dass das Schattenbuch Besonderheiten aufweist, die sich nicht wissenschaftlich rational erklären lassen.
Zusätzlich ist „Das Schattenbuch“ in mehrfacher Hinsicht ein Heimspiel. Michael Siefener wohnt nicht nur in der Eifel, sondern sein Heimatort Manderscheid spielt in einzelnen Szenen eine wichtige Rolle. Der Lokalkolorit, die Besonderheiten der Eifel zwischen mystisch-phantastischer Legenden Vergangenheit und der nicht immer rosigen Gegenwart tragen sehr zur Stimmung dieser stringenten Geschichte bei.
Aber die größte Stärke Michael Siefeners ist weiterhin die Zeichnung von liebenswerten, skurrilen und vom Leben gezeichneten, aber nicht gebrandmarkten Menschen. Seine Protagonisten wirken immer dreidimensionaler und trotz einiger Macken auch sympathisch. Der Leser lernt schnell mit ihnen zu hoffen, aber auch zu bangen. Das zeichnet seine Bücher aus und hebt Michael Siefener aus den Weird Fiction Autoren, die Elemente des klassischen Grusels modernisiert präsentieren, zusätzlich heraus. Während Malte S. Sembten die alten Vorbilder konsequent in die Gegenwart übertragen und so irgendwie Weird Fiction mit Pfiff geschrieben hat, bleibt Michael Siefener seiner antiquiert wirkenden, aber gut lesbaren Schreibe treu. Mit Arved Winter und Lioba Heiligmann sind ihm zwei besondere Charaktere gelungen. Insbesondere die attraktive, sich aber inzwischen vor Männern und Aufmerksamkeit durch unattraktive Kleidung und Stiefel versteckende Lioba ist eine Frau mit ungewöhnlicher Tiefe, einer scharfen durchaus verletzenden Zunge, die erst nach und nach wieder aus ihrem Schildkrötenhaus kriecht. Sie versteckt sich hinter dem Handel mit okkulten Büchern, obwohl sie ihre bisher größte „Niederlage“ aus diesem Bereich einstecken musste. Arved Winter ist technisch zwar noch ein Priester und ans Zölibat gebunden, er hat sich aber gänzlich von Gott abgewandt. Dieser Aspekt kommt im ganzen Roman nicht zur Sprache. Er lebt inzwischen – geerbt wohlhabend – ein gutes Leben, das aber sklavisch bis langweilig geordnet ist, als ob er seinen ketzerischen Schritt aus der Kirche mit einem eigenen Gefängnis auszugleichen sucht. Im Laufe der Suche lernen sie sich nicht nur näher kennen, Michael Siefener öffnet auch die dunklen Türen in ihren Seelen, wobei hinter einigen Türen auch ein Schrecken steht, den sie trotz ihrer schlechten Gewissen nicht zu verantworten haben. Das macht den Reiz dieser Figuren aus und der Leser beginnt wirklich, um sie zu bangen. Michael Siefener ist ein Autor, der sich um den Plot wegen auch von derartigen Figuren für den Leser schockierend auf manchmal eine brutale Art und Weise trennt.
„Das Schattenhaus“ ist eine spannende, sehr originelle und vor allem vor dem Hintergrund der Eifel auch touristisch interessante Geschichte mit der richtigen Mischung aus übernatürlichen Elementen und den schon angesprochenen dreidimensionalen Charakteren. Der Roman ist ein guter Einstieg in das umfangreiche Werk eines der besten deutschsprachigen Weird Fiction Autoren, der mit seiner kantigen und auch nicht kommerziellen Art und Weise ungewöhnliche Geschichten abseits des ausgetretenen Mainstream Pfades präsentiert.
- Herausgeber : KBV (30. November 2005)
- Sprache : Deutsch
- Taschenbuch : 250 Seiten
- ISBN-10 : 3937001697
- ISBN-13 : 978-3937001692