Sherlock Holmes und der Sohn des Falschmünzers

Michael Butler

Neben einigen anderen Anspielungen auf die Fälle Sherlock Holmes nimmt Michael Butler im Grunde eine Bemerkung, einen Hinweis aus „Die einsame Radfahrerin“ auf und baut daraus einen eigenständigen Roman, der grundlegend kurzweilig unterhält, aber auch an einigen Stellen unglaubwürdigere Ecken und Kanten aufweist.

In „Die einsame Radfahrerin“ erinnert Sherlock Holmes Doktor Watson an den Fall des Falschmünzers Archie Stamford, den er in Farnham überführt hat. Bei der Festnahme ereignete sich eine Tragödie. Diese Episode wird im Roman aus der Perspektive des damals zehnjährigen Sohns erzählt. Auch wenn die Fakten alle auf dem Tisch liegen und Sherlock Holmes sich hinsichtlich seines Handelns keinen Vorwurf machen muss, verdreht der damals leicht beeinflussbare Sohn David die Fakten und sieht im Detektiv ein Monster.

In einem weiteren Rückblick wird aufgezeigt, dass David aus heutiger Sicht als aggressiv, schwer emotional gestört, aber auch ausgesprochen intelligent angesehen werden muss. Vielleicht ist diese klischeehafte Charakterisierung ein wenig zu viel des Guten und soll nachhaltig aufzeigen, wer in dieser Geschichte „gut“ und wer „böse“ ist. Dass die Saat der Rache, der Jagd auf die jeweiligen Monster nicht unbedingt vererbt, aber zumindest relativ früh angelegt worden ist.  

Es ist ein Zufall, der David Stamford wieder nach London und in die Nähe Sherlock Holmes führt.  Sherlock Holmes ermittelt am Hafen und trotz Verkleidung fällt er David auf. Dieser folgt ihm, weil Holmes in seiner Verkleidung eine Belohnung versprochen hat. Durch einen Zufall gibt Doktor Watson David eine Nachricht an Inspektor Lestrade. David erkennt in Watson den Mann, der bei der Verhaftung seines Vaters anwesend gewesen ist, folglich muss der andere Mann Sherlock Holmes sein.

Diese Prämisse ist brüchig. David muss schon lange wissen, dass Sherlock Holmes und Doktor Watson an der missglückten  Verhaftung beteiligt gewesen sind. Jeder Londoner weiß, wo Sherlock Holmes wohnt. Sollte David also seine Rache planen, dann hätte es dieser zufälligen Begegnung gar nicht bedürft. Dramaturgisch ist sie interessant, aber nicht notwendig.

Es gibt noch eine zweite Stelle, die „schwierig“ ist. Lestrade kennt Sherlock  Holmes schon lange. Natürlich wird der Inspektor als der Idiot dargestellt, den Sherlock Holmes braucht, um seine Überlegenheit nicht nur Doktor Watson gegenüber zu demonstrieren. Das Lestrade aber aus dem Nichts heraus glaubt, dass Sherlock Holmes wie Jack the Ripper ein Mörder von Prostituierten ist und er sogar seine Autorität gegenüber Misses Hudson und Doktor Watson zur Schau stellt, wirkt ebenfalls bemüht. Erst Mycroft Holmes kann den Inspektor ein wenig einbremsen, wobei auch hier das Motiv Lestrades – Respekt oder Angst vor dem mächtigen Mann ? – eher ambivalent dargestellt worden ist.

Eher ist noch zu akzeptieren, dass Mycroft Holmes in einer Art perfiden Spiels und mittels doppelter Doppelagenten das Bemühen David Stamfords verfolgt, seinen Bruder erst zu diskeditieren und schließlich sogar zu töten. Vielleicht macht es Mycroft einfach eine perverse Freude, seinen Bruder in einer schwierigen Situation zu sehen, um dann doch aus dem Nichts heraus den gordischen Knoten zu durchschlagen.

Die ersten beiden Ideen sind schwer zu akzeptieren, die abschließende „Hürde“ leidet das dann relativ schnell entwickelte Ende ein. Auch wenn diese angesprochenen Passagen konstruiert erscheinen und der Plot in der Theorie wahrscheinlich besser funktioniert als in der hier präsentieren Form, unterhält „Sherlock Holmes und der Sohn des Falschmünzers“ trotzdem relativ solide.

Das liegt vor allem an den wechselnden Perspektiven, aber auch dem gut entwickelten Hintergrund der Geschichte.    

Die Vorgehensweise des Täters ist interessant. Er imitiert Sherlock Holmes während er ihn beobachtet. Michael Butler macht abschließend nicht deutlich genug, ob der ansonsten doch so obsessive fast paranoide Sherlock Holmes dieses Observieren wirklich nicht wahrnimmt, nachdem er bei der Festnahme eines Verbrechers durch Watsons Unvorsichtigkeit fast gescheitert ist. Vor allem spätestens mit Lestrades naiven Vorgehen, ihn zu verhaften müsste Sherlock Holmes wissen, dass ihm einer eine Falle stellt, für deren Vorbereitung der Täter sich immer wieder in dessen Nähe aufgehalten hat. Eine direkte Konfrontation sucht der Täter nicht, er will den Detektiv in den Augen der Öffentlichkeit diffamieren.

Er durchschaut aber auch die verschiedenen Verkleidungen Sherlock Holmes. In diesem Punkt legt Michael Butler seine Geschichte anders an. Anfänglich irritiert von dem seltsamen mit Belohnungen um sich schmeißenden Captain kann er später die verschiedenen Verkleidungen Sherlock Holmes durchschauen. Das ist weder Lestrade noch Doktor Watson gelungen. Vor allem liefert Michael Butler aus der Perspektive seines verrückten Protagonisten auch für den Leser nachvollziehbare Erklärungen, das es ihm so „leicht“ fällt, den Detektiv zu durchschauen. Das dürfte auch Holmes Ehre verletzen. Es sind aus der Perspektive Davids ungewöhnliche Szenen, wobei Michael Butler gegen Ende des Buches aus einer phasenweise persönlichen Rachegeschichte eher eine Art Serienkillerdrama macht und David weit über das ursprüngliche Ziel hinausschießt. Weniger wäre vielleicht sogar mehr gewesen, eine Reduktion auf den persönlichen Konflikt und eine bessere mehr differenzierte Darstellung des Konfliktes. 

Die Spannungskurve des Romans ist allerdings auch eingeschränkt.  Die meisten Sherlock Holmes Geschichten beziehen ja ihre Spannung aus der Lösung komplizierter Kriminalfälle, die der Exzentriker mit seiner Deduktionsfähigkeit, aber auch einem erstaunlich Durchhaltevermögen sowie genauen Beobachtungen löst. Hier wird er direkt und indirekt von einem Psychopathen bedroht, wobei Michael Butler noch eine weitere Verbindung zur Holmes Familie impliziert und auf Mycroft Holmes Netzwerk ein wenig näher eingeht. Aber diese rote Faden wird genauso opportunistisch genutzt/ benutzt und dann wieder in den Hintergrund geschoben wie der Leser keine Sekunde glaubt, dass der Sohn des Falschmünzers mit seiner Vorgehensweise Erfolg haben wird. Daher handelt es sich ein wenig um die Quadratur des Kreises und einige Szenen erinnern an austauschbare Versatzstücke anderer Pulpgeschichten.

Der Hintergrund ist solide beschrieben, wobei anscheinend die Dirnen sich nicht an die Taten von Jack, the Ripper erinnern können und den Wohltaten sehr offen und ohne Angst gegenüberstehen. Es wird zwar auf den wahnsinnigen Mörder von Whitechapel hingewiesen, aber Konsequenzen zieht niemand.  

Ohne Frage ist „Sherlock Holmes und der Sohn des Falschmünzers“ neben einer offensichtlichen Anlehnung an den ursprünglichen Kanon vor allem der Versuch, eine gänzlich andere Sherlock Holmes Geschichte zu erzählen. Der Leser muss ein wenig Abstand von der klassischen Struktur nehmen, ohne den Protagonisten in der Gänze, aber nicht unbedingt den Details untreu zu werden. Diesen fügt der Autor einige Ideen, welche das Umfeld des Ermittlers unmittelbar, aber auch mittelbar betreffen hinzu. Hinweise wie zum aufstrebende Rechtsanwalt als erste Wahl bringen den Leser zum Schmunzeln.

Das Tempo des Romans ist hoch, wobei im Mittelteil einige innere Monologe und sehr ausführliche subjektive Zitate hätten gekürzt werden können.  Die größten Schwächen sind allerdings im Grundkonstrukt, das der Leser in der vorliegenden Form akzeptieren muss, damit überhaupt ein Spannungsaufbau möglich erscheint. Aber es ist auch sehr schwer, die Grundprämisse Michael Butlers in einer anderen Form zu erzählen. 

 

www.blitz-verlag.de

Taschenbuch,  308 seiten

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