Herausgeber Neil Clarke schließt das Jahr 2020 auf einer kurzen Note ab. Dabei weiß er gar nicht richtig, ob er sich freuen soll, noch am Leben zu sein und in einem relativ gesicherten Umfeld zu leben oder beängstigend in die Zukunft schauen muss. Zwischen Hoffnung und Angst bewegen sich auch die drei Beiträge, wobei es sich bei zwei Geschichten um Texte handelt, die originär im Internet ursprünglich veröffentlicht worden sind. Daher macht der auch relativ schnelle Nachdruck wenig Sinn.
Carrie Vaughn „The Best We Can“ verfügt über eine interessante Ausgangslage. Eine Raumexpedition wird von der Erde zu einem durchs Sonnensystem fliegenden Asteroiden vorbereitet. Dieser kehrt nur alle zweihundert Jahre zurück. Kurze Zeit später wird ein offensichtlich künstliches Objekt entdeckt, das antriebslos ebenfalls durchs Sonnensystem gleitet. Nur eine Expedition kann gestartet werden. Beide Körper werden in absehbarer Zeit das Sonnensystem wieder verlassen.
Im Mittelpunkt der Geschichte steht ein besessener Wissenschaftler, der viele Jahre die Reise zum Asteroiden vorbereitet hat und nun erkennen muss, dass die Öffentlichkeit wenig Wert auf seine Entdeckungen legt. Vermittelt wird dessen fast mannische Besessenheit fast weniger mit dem Objekt per se, sondern der Jagd nach Ruhm durch dessen Freundin, die ein objektiveres Bild auf die Ereignisse werfen kann. Sehr zum Missfallen ihres Vertrauten, der rationalen Argumenten nicht zugänglich ist. Erschwerend kommt hinzu, dass er nicht das Pferd wechseln kann und bei einer Expedition zum künstlichen Objekt offensichtlich draußen ist.
Absichtlich scheint die Autorin das Bild des Wissenschaftlers zu überzeichnen. Es geht ihr auch nicht um Verständnis des Lesers oder Sympathiepunkte. In erster Linie versucht sie aufzuzeigen, wie schnell eine Erfolg versprechende Arbeit sich quasi in Luft auflösen kann. Die Dialoge sind pointiert und gleichzeitig neutral. Weder die Autorin noch die Protagonistin nimmt eine Schlüsselposition ein, auch wenn das Ende ein wenig zu offen erscheint.
Ray Naylers „Mutability“ wird im direkten Vergleich zu “The Best We Can” zwar vielschichtiger, aber auch deutlich bemühter. In einer fast perfekten Zukunft begegnet ein Mann einer Frau anscheinend aus der eigenen Vergangenheit, an die er sich nicht erinnern kann. Anstatt auf eine Krimihandlung auszuweichen impliziert Ray Nayler, das die Menschen zwar langlebig sind und durchaus mehrere Jahrhunderte alt werden können, ihrem Gedächtnis aber Grenzen gesetzt worden sind. Sophia erinnert sich noch an Sebastian, dieser hat aber alles vergessen. Während er ein besonderes Buch studiert, hat sie es vor einigen Jahren fallen gelassen, um etwas „Neues“ zu machen. Verzweifelt versuchen sie eine gemeinsame Basis zu finden, obwohl sie sich nicht an die Vergangenheit erinnern und sie eher emotional „spüren“ als wirklich wahrnehmen. Dabei befinden sich die beiden durchaus dreidimensional gezeichneten Protagonisten quasi in unterschiedlichen Erinnerungsstadien, was alles noch erschwert.
Zu Gunsten dieser Bindung verzichtet Ray Nayler auf jegliche Plotelemente. Er konzentriert sich eher auf Stimmungen, was sowohl dem ganzen Spannungsbogen wie auch abschließend der Pointe nicht gut tut. Der Leser bleibt auf Distanz zu den Figuren und wartet auf eine größere Pointe, die abschließend nicht kommt.
Die Novelle Of Love and Other Mothers“ von Vandana Singh ist ebenfalls frei zugänglich auf den Internetseiten von Tor.com. Natürlich führt die Veröffentlichung in einem lang laufenden Magazin der Geschichte neue Leser zu, aber Neil Clarke sollte sich für 2021 überlegen, ob es nicht sinnvoll ist, aus dem Ziehkind „Forever Magazine“ ein interessanteres Nachdruckvehikel zu machen, in dem er unter anderem zusammenhängende Geschichte nachdruckt, in die Vorinternetzeit zurückgeht oder aus Magazinen seltenere Perlen hebt, die nicht nur eine Wiederentdeckung verdient haben, sondern durch die Gitter der „Best Of...“ Anthologien gefallen sind.
Die indischen Wurzeln Vandana Singhs sind positiv an vielen Stellen dieser Geschichte zu erkennen. Der Erzähler Arun ist mit siebzehn Jahren aus einem brennenden, eigentlich verlassenen Gebäude gerettet worden. Er hat keine Erinnerung und keine Identität. Seine Retterin nimmt ihn bei sich auf und gibt ihm nicht nur ein Zuhause, sondern auch Arbeit.
Im Laufe der Jahre findet er mehr durch Zufälle heraus, dass er den Geist seiner Mitmenschen nicht nur auslesen, sondern auch manipulieren kann. Die Ausgangsprämisse ist nicht sonderlich originell und die Idee des Außenseiters haben eine Reihe von Autoren wie James Blish, Robert Silverberg, Katherine McLean oder besonders auch Philip K. Dick in exzellenten Romanen und Kurzgeschichten vor allem in den sechziger und siebziger Jahren ausführlich beschrieben. In den späten siebziger und frühen achtziger Jahre hat Octavia Butler unter anderem mit ihrer „Patternist“ Serie eigentlich das Schlusswort gesetzt und einen basierend auf der afrikanischen Kultur weit in die Zukunft und emotional wieder zurückreichenden Bogen geschlagen.
Immer am Rande des Klischees bewegt sich Vandana Singh, wenn mit Rahul Moghe ein Mann auftaucht, dessen Fähigkeiten größer und effektiver sind. Bis dahin hat Arun zwar auch seine übernatürlichen und nicht erklärbaren Fähigkeiten ausprobiert, sich aber erstaunlich vorsichtig und im Grunde menschlich verhalten. Er hat keinen Geist unterdrückt oder seinen Mitmenschen Schaden zugefügt. Ein schmaler Grat insbesondere für einen Heranwachsenden, aber die Autorin hat ihre Argumente überzeugend und für die Leser nachvollziehbar auf dem literarischen Tisch ausgebreitet.
Von seiner Ziehmutter wird Arun gewarnt. Rahul Moghe scheint weniger an Aruns Fähigkeiten, sondern an dessen Unterdrückung interessiert zu sein. Arun soll nach Indien fliehen, obwohl Rahul Moghe natürlich über die Antworten hinsichtlich seiner Vergangenheit und Identität verfügen könnte.
Die zweite Hälfte der Novelle ist kompakter und intensiver geschrieben worden. Vandana Singh zieht das Tempo deutlich an. Positiv ist, dass sie ihre Charaktere dreidimensional entwickelt hat und sie in die asiatische Kultur nachhaltig eingebaute.
Allerdings folgt sie abschließend den Handlungsmustern des Genres und kann sich der Versuchung nicht entziehen, ein für zwischen den Zeilen lesende Betrachter viel früher als für Arun erkennbares Ende zu präsentieren.
Vor allem die Ausgangsbasis der Geschichte überzeugt mehr als die Pointe. Der Autorin muss aber Respekt gezollt werden, dass sie ein altes Thema zumindest frisch, wenn auch nicht immer wirklich nachhaltig originell erzählt.
Da die Novelle im direkten Vergleich zu den beiden Kurzgeschichten über eine Reihe von Schwächen verfügt, wirkt die 71. Ausgabe des „Forever“ Magazins nicht befriedigend genug, um von einem starken Jahresabschluss zu sprechen. Die Qualität der Ausgaben das ganze Jahr betrachtend wirkt zu uneinheitlich und einige der hier präsentierten Nachdrucke sind hinsichtlich ihrer Erstveröffentlichung zu frisch, um neue Leser anzusprechen.
E Book
112 Seiten