Paperboy

Christopher Fowler

Christopher Fowlers Erinnerungen an seine Jugend in den fünfziger und sechziger Jahren in einem sich gerade definierenden Großbritannien enden auf einer doppelt süßsauren Note. Auf der einen Seite beschreibt sich Fowlers als publizierter Autor, der niemals aus eigenem Willen die Bestsellerlisten mit vorgefertigtem klischeehaften Material erreichen wird. Auf der anderen Seite stiehlt er sich in seine Lieblingsbücherei, deren alte Angestellte schon lange nicht mehr dort arbeitet, vielleicht nicht einmal mehr lebt, um Bücher seiner Lieblingsautoren still und heimlich in die Regale zu stehlen. Aus Dankbarkeit gegenüber den unzähligen Büchern, die ihm seinen tristen Alltag als sehr phantasievolles, aber deutlich introvertiertes Kind versüßt haben. Es ist das Ende einer Reise, die aber im Grunde nicht zu Ende ist. Christopher Fowler ist vielleicht nicht mehr der „Paperboy, der Papierjunge, er ist zu einem Mann herangewachsen, der von dem Papier neben seiner Arbeit in einer Werbeagentur lebt, aber das Kind in dem Mann lässt sich nicht mehr austreiben und die Stunden, die er in seiner Phantasie und Büchern verbracht haben, formten ihn.

Nicht selten haben Autoren ein eher langweiliges Leben. Selbst der in Shanghai während des Zweiten Weltkriegs aufgewachsene Ballard konnte seine Memoiren in zwei Romanen verarbeiten. Als er schließlich seine eigenen Erinnerungen veröffentlichte, brach der Handlungsfaden mit seiner Übersiedelung nach dem Zweiten Weltkrieg förmlich ab. Bis auf den Inhalt seines außergewöhnlichen Romane gab es nichts mehr zu beschreiben. Bei Christopher Fowler scheint es nicht anders zu sein. Seine Jugend, seine Begegnungen mit der Literatur und schließlich der Übergang vom Leser zum Kinogänger erfolgen programmatisch, aber nicht Welt bewegend. Und trotzdem liest man weiter. Vielleicht liegt es an dem Widerspruch, dass er die Biographie auch seinem Vater widmet, mit dem ihn sein ganzes Leben eine seltsame Hassliebe verbindet. Während sein Vater im Sterben liegt, kommt ihm die Erkenntnis, dass er diesen Mann niemals richtig kennen gelernt hat und das dieser vom Leben und dem dominanten Einfluss seiner Mutter, Fowlers Oma gebeutelte Mann ihn vielleicht niemals wirklich verstanden, aber geliebt hat. Es ist sehr wahrscheinlich, das viele insbesondere männliche Leser keine so exzentrischen Väter – er hat überall Ruinen hinterlassen, da er zwar das Basteln angefangen, aber niemals beendet hat – gehabt haben, aber trotzdem jeden Moment bedauern, in dem sie nicht männliche Gespräche führten, sondern emotional versuchten, die Führung der nicht selten imaginären familiären Heerscharen zu übernehmen. Wie in der Realität wächst diese Erkenntnis spät, vielleicht zu spät. Wie im wirklichen Leben findet man erst nach dem Tod der Eltern die Puzzlestücke, die deren Leben auch für einen Hormon gesteuerten Teenager sinnvoll erscheinen lassen. Es ist der Augenblick, in dem bedauert wird, nichts aber mehr geändert werden kann.

Aber „Paperboy“ ist mehr als eine Auseinandersetzung mit einem Jungen, der zumindest laut Klappentext in der grauen britischen Arbeiterwelt zu viel Phantasie hat. Auch wenn Bücher und Filme immer wieder eine Rolle spielen, dominieren sie nicht die Handlung. Fowler springt mit seinem jugendlichen Alter Ego nicht von einem Leseerlebnis zum Nächsten, sondern er versucht insbesondere jungen Lesern plastisch dreidimensional, unterhaltsam ohne abwertend zu erscheinen die fünfziger und frühen sechziger Jahre nahe zu bringen. Diese Übergangsphase vom Zweiten Weltkrieg, von dem sich England im Allgemeinen und London im Besonderen sehr viel langsamer zu erholen schien als zum Beispiel Deutschland bis Mitte der sechziger Jahre (auch wenn Teile des Buches bis in die frühen Siebziger hineinschauen), als London plötzlich zum Nabel einer neuen Jugendbewegung, einer Revolution und Explosion der Farben/ Formen und Drogen geworden ist.

Christopher Fowler wuchs in einem so typischen und später mit teilweise drakonischen Maßnahmen umgebauten Arbeiterstadtteil auf. Tragischer Wendepunkt der Familie ist ohne Frage der Entschluss seines Vaters gewesen, nicht mit dem Unternehmen nach Kanada umzuziehen. Es folgten Gelegenheitsjob, sowie der Aufbau von Frustration, der aber nicht in einer typischen Alkoholikerkarriere endete, sondern in der Tatsache, dass er sich mehr und mehr an Motorrädern und später der Bruchbude auf dem Lande vergriff. Christopher Fowlers Vater ist ein penibler Tüftler, der nur auseinanderbauen aber kaum zusammensetzen konnte. Der Angst vor dem endgültigen sozialen Abstieg mit Geiz und einer stoischen Gleichgültigkeit zu kompensieren suchte. Dessen größter Wunsch es urlaubstechnisch gewesen ist, mit der Familie in einem Miniwohnwagen auf die neblige Küste von der Zivilisation vergessener britischer Orte zu schauen. Der immer wieder „Schutz“ bei der eigenen Mutter suchte, die das Kind förmlich erdrückte. Im Grunde ist Christopher Fowlers Vater ein klassischer Verlierer in mehrfacher Hinsicht. Alleine bei den späteren „Hammer“ Horror Double Feature konnten Vater und Sohn kurzzeitig eine Beziehung aufbauen und dem Einfluss der auf der einen Seite dominierenden Großmutter und der zu perfekt beschriebenen eigenen Mutter entkommen. Es stellt sich die Frage, ob Christopher Fowler seinen Vater unterkompensierte, wie er eigene Lebensabschnitte manipulierend überkompensierte. Denn Christopher Fowler vergisst als lebenslanger Film Maniac die Tatsache, dass er nicht gleich zu einem guten, soliden Autoren geworden ist, sondern mit sechsundzwanzig Jahren die „Creative Partnership“ gründete und insbesondere in Großbritannien das Vermarkten von Filmen revolutionierte. Erst in „Film Freak“, der überwiegend in den siebziger Jahren spielt und sich teilweise mit „Paperboy“ inhaltlich überlappt, stellte er dieses Bild genauso wie den Anfang seiner Karriere „gerade“. Aufhänger ist ein Vorgriff auf den Besuch der Hochzeit seines besten Freundes, auf der er sich als Autor zu erkennen gibt, aber weitere Teile seines „Lebens“ achselzuckend und auf den zweiten Teil seiner Biographie schielend aus lässt.

Heute würden viele Kritiker seine Familie als dysfunktional beschreiben. Selbst die Familientreffen erinnern eher an die Schlachten diverser Kriege. Christopher Fowlers Mutter versucht diese „Fragmente“ zusammenzuhalten. Nur einmal flieht sie für eine Woche, niemand weiß wirklich, wohin. Anschließend kehrt sie wieder nach Hause zurück und das Leben nimmt nicht nur seinen gewohnten, seinen im Grunde stoischen Verlauf. Aber wie Christopher Fowler seine Mutter beschreibt, zeigt eine fast abgöttische, aber nicht zerstörerische oder mit der Abhängigkeit seines Vaters von dessen Mutter vergleichbare Liebe. Sie wirkt eher wie ein stilles Wasser, die ihren Mann auf eine schwierige, für Außenstehende kaum verständliche Art und Weise liebt. Den Mann, der seine weitere Karriere in Kanada auch für seinen Sohn stillschweigend geopfert hat, weil dieser sich auf seiner Schule so wohl fühlte. Sie hat indirekt Fowlers literarischen Geschmack – nicht in Richtung Phantastik oder Pulp, sondern hinsichtlich der Klassiker beeinflusst -, ist ihm aber auch später zu Beginn der literarischen Karriere ein strenger Lektor gewesen.

Die beiden Extreme inklusiv der Sprachlosigkeit zu Hause und der eher bieder konservativen Schule, mit welcher der intelligente, aber auch Abkürzungen suchende Fowler niemals wirklich etwas anfangen konnte, sorgten dafür, dass er in die Phantasie der Literatur, der Comics flüchtete. Viele Leser können sich nicht nur damit identifizieren und oberflächlich erscheinen diese Memoiren am ehesten zu den Lesern zu sprechen, wenn Fowler über die ersten Begegnungen mit den Comics genauso belustigend oder intelligent subversiv wie über die Obsession mit britischen Filmen der fünfziger Jahre (und wer alle „Carry On“ Filme oder die schlechten Ealing Komödien gesehen hat, wird wissen, was das heißt). Wer jetzt aber glaubt, dass Fowler über das ausführliche Kritisieren aller Filme, die er gesehen hat, hinaus in phantastische Welten flüchtet, die er für seine Leser rekapituliert, der wird enttäuscht sein. Auch seine Anfänge als Schriftsteller bestehen in erster Linie aus dem Kopieren von Ideen und wirken schwerfällig. Es dauert Jahre, bis er aus einer schwierigen Situation heraus – er hat sich beim Besuch seines Vaters in dessen Krankenhaus im Parkhaus verfahren und verfällt in Panik – den Mut findet, seine Ängste in Form von Kurzgeschichten niederzuschreiben.

„Paperboy“ ist eine auffällig unauffällige Geschichte, die erst nach und nach trotz des bestechend schönen Auftakts dem Leser ans Herz wächst. Die fünfziger und sechziger Jahren entstehend durch die genaue Beobachtungsgabe des Autoren wieder und erinnern in ihrer detaillierten, aber Obsessionen erinnernden Genauigkeit an die Romane, die Walter Kempowski über die eigene Familie geschrieben hat. Von der Freude über einen neuen Comics in Kombination mit einem Schokoriegel bis zum Auftauchen Dr. Whos als anarchistischer Element, das Fowlers Geist am ehesten entsprechen könnte, entwirft der Autor ein rückblickend interessantes Bild einer Ära, in welcher er bis auf die kleinen alltäglichen Niederlagen und Erfolge im Schatten jeglicher Literatur und darüber hinaus dem von ihm bevorzugten britischen gegenüber dem amerikanischen Kino zu einem nicht unbedingt einfachen Menschen aufgewachsen ist, der seine Hobbys zum Beruf gemacht hat. Damit schließt sich ein Lebenskreis, der dem interessierten Leser weniger den nicht immer sympathischen Menschen Christopher Fowler, aber eine heute eher als langweilig und unwichtig titulierte Ära näher gebracht hat.               

 

 

 

  • Paperback: 304 pages
  • Publisher: Bantam (18 Feb 2010)
  • Language: English
  • ISBN-10: 0553820095
  • ISBN-13: 978-0553820096