Das hohe Lied der Liebe/ Die Nihilit Expedition

Robert Kraft

Mit dem zweiten Doppelband “Das Hohe Lied der Liebe” und “Die Nihilit Expedition” präsentiert Dieter von Reeken einen zweiten selbst zusammengestellten Hardcover mit zwei kürzeren Robert Kraft Texten, die ursprünglich aus “Die Augen der Sphinx” stammen. Alle 28 Abbildungen, eingeleitet von einer der bizarrsten Situationen aus “Die Nihilit Expedition” als Titelbild,  sind neben einer kurzen Einleitung abgedruckt worden.  

Als fünfter Band bzw. Teil der Serie „Die Augen der Sphinx“ erschien mit „Das hohe Lied der Liebe“  ein titeltechnisch auf den ersten Blick ungewöhnlicher Robert Kraft Titel. Auf den zweiten Blick findet sich in der 1908 veröffentlichten Geschichte, deren wichtige Grundelemente in einer Reihe von später veröffentlichten Romanen weiter ausgebaut und teilweise recycelt werden sollten.   

Während einer Europareise gastiert Buffalo Bills Wild West Show auch in den Niederlanden. Der reiche Kaufmann  Mijnheer van Hyden besucht mit seiner Tochter die Show. Während eines waghalsigen Stunts reicht ihr der junge Reiter Texas Jack die Hälfte ihres Schleiers zurück. Wenige Wochen später hält Texas Jack alias Joachim Dankwart um die Hand der Tochter an. Heimlich haben sie sich in den letzten Woche immer getroffen. Van Hyden ist nicht sonderlich begeistert, aber Buffalo Bill bürgt für das Waisenkind, das er vor vielen Jahren im Wilden Westen gefunden hat. Nur wenige Wochen nach ihrer Heirat verschwindet die Frau nach einem Besuch bei ihrer Freundin in Amsterdam spurlos. Es wird keine Leiche gefunden, in den Krankenhäusern liegt auch niemand, auf den die Beschreibung passt. 

Texas Jack erinnert sich an ein junges, im linken Arm gelähmtes Mädchen, das über die Gabe des zweiten Gesichts verfügt.  Wenn sie – pünktlich auf die Minute wie der angeblich „Graf von Saint- Germain“ im gleichnamigen, schon von Dieter von Reeken veröffentlichten Kolportageroman – in einem komatösen Schlaf fällt, kann sie mittels von ihr berührten Gegenständen entweder Menschen sehen/ finden oder erkennen, ob diese noch leben. Auch wird ihr tauber  linker Arm während dieser Phasen der Seherei erwähnt. Sie kann vor allem mit ihr zur Verfügung gestellten Haaren der betreffenden Menschen gut sie an jedem Ort der Erde zeitlos sehen. Das führt in einer Nebenhandlung auch zu Verwechslungen, nimmt einzelnen Passagen die Spannung, ermöglicht es aber Texas Jack, seiner Geliebten bis auf eine kurze, frustrierende Begegnung auf dem Atlantik immer in einem entsprechenden Abstand zu folgen.  

Wenige Jahre später wird Robert Kraft diese Gabe in seinem Kolportageroman „Das zweite Gesicht oder die Verfolgung um die Erde“ ebenfalls in den Mittelpunkt der Geschichte stellen. Während Texas Jack mit Schwiegervater, seinem getreuen Diener, dem Mädchen und einem Kindermädchen nach seiner Ehefrau sucht, jagt in dem späteren Werk ein verzweifelter Vater um die Erde, in der Hoffnung, seine entführte Tochter wieder zu finden.

Im nicht vor seinem Tod fertiggestellten Fortsetzungsroman „Loke Klingsor“ wird Robert Kraft auf eine deutlich dunklere Art und Weise das Thema Hellsehen noch einmal aufgreifen. Im schon angesprochenen „Der Graf von Saint- Germain“ entlarvt er die Hellseherei als eine Art sich selbst erfüllende Scharlatanerie. Angeblich können nur die Inder wirklich auf diese zwei Ebene schauen. Aber auch dieser Ansatz wird in den letzten Kapiteln des empfehlenswerten Romans „zerstört“.

Träume spielen bei Robert Kraft immer eine gewichtige Rolle. Der Zehnteiler „Aus dem Reich der Phantasie“ besteht nur aus Träumen und in verschiedenen seiner frühen Romane wie „Das Gauklerschiff“ oder „Wir Seezigeuner“ erweckt Robert Kraft an notwendigen Stellen den Eindruck, als wenn seine Charaktere oder deren übernatürlich begabte Helfer über den jeweiligen Horizont hinaus schauen und die entsprechenden Informationen einsammeln können.

Der Todes ähnlicher Schlaf gehört nicht nur zum Hellsehen, sondern dient mehr als einmal auch, um in erster Linie Frauen zu entführen. Auch dieser Handlungsteil zieht sich wie ein roter Faden durch Robert Krafts Gesamtwerk.

Mittels des hellseherisch begabten Mädchens kann das kleine Team der Spur von Amsterdam nach New York folgen. Dabei greift Robert Kraft auf ein bei ihm sehr beliebtes Mittel der Spannungserzeugung zurück. Er bietet dem Leser einige Informationen aus der „Zukunft“ an. Dabei geht er fast willkürlich mit Happy Ends und dunklen Prophezeiungen um.  

Immer wieder verfällt Robert Kraft in überfließende Theatralik. Da wird wegen der Zwangsehe vom Ende der eigenen Partnerschaft gesprochen. Aber sie wird eine treue Tochter bleiben. Falsche Todesmeldungen und ein wirklich sehr fieser Cliffhanger in einem Königspalast sollen die Dramatik erhöhen. Da Robert Kraft erst in seinen späteren Kolportageromanen auch wichtige Charaktere meistens gegen Ende sterben lässt, wirkt dieses Element hier spannungs technisch eher stereotyp. Für einen Fortsetzungsroman jeder Epoche handelt es sich aber um legitime Mittel. 

Der Feind lauert zusätzlich in der eigenen Gruppe, denn die Entführung und Zwangsheirat steht in einem engen Zusammenhang mit einem anfänglich immer wieder betonten, anschließend aber in den Hintergrund gerückten Familiengeheimnis. 

Robert  Kraft arbeitet vor allem in der ersten Hälfte des Buches mit zwei Ebenen. Auf der einen Seite die Jagd nach der Entführten von Schottland nach New York (vergeblich), zurück nach Marselle und schließlich in die Sklavenhändler Regionen Afrikas. Immer aus dem Blickwinkel des Mediums, das auf der einen Seite Informationen liefert, auf der anderen Seite aber auch durch die festen Zeiten, in denen sie nicht sehen kann, den Entführern einige Opportunitäten einräumt. Eine falsch aufgeschriebene Zeit wird ihnen natürlich zum Verhängnis. 

Jack ist in der zweiten Hälfte des Romans alleine unterwegs. Sein Ruf eilt ihm in Afrika voraus. Vom Bad im Haifisch verseuchten Meer über die verschiedenen Bluffs, mit denen er sich zum Leidwesen der niedrigen Beamten Pässe und Stempel erschleicht, zu den Amazonen. 

Weibliche Amazonenstämme mit Königinnen/ Kriegerinnen, die sich tragisch in Robert Krafts weiße Helden verlieben, sind ebenfalls ein wiederkehrendes Element. In “Atalanta”, in “Das Gauklerschiff” und schließlich auch “Wir Seezigeuner” sind diese Liebesbeschwüre die sehr starken und tapferen Frauen ergebnislos. Meistens müssen sie einen tragischen, ein wenig kitschigen Tod erleiden, damit der Weg zur wahren Liebe wieder frei gemacht wird. 

Sein Wissen über Afrika bezieht Jack  aus den Schriften Walter Wallons. 

Nach einigen Irrungen und Wirrungen vor allem auch im Palast eines afrikanischen Tyrannen ist es ein Ägyptologe, der Jack wichtige Hinweise hinsichtlich des Aufenthalts seiner Frau und vor allem dem Vorgehen gegen die örtlichen Herrscher mit ihren Harems gibt. 

Robert Kraft liebt Doppelungen. Genau wie Tagebücher, die in einigen seiner Bücher eine wichtige Rolle spielen und den Ich- Erzähler ganz eng mit dem Leser verbinden. In “Das Hohe Lied der Liebe” herrschen die angesprochenen Doppelungen vor.  Zwei Schauspielerinnen spielen wichtige Rollen. Es gibt zwei relevante falsche Fährten, auf denen die Protagonisten und Nebenfiguren wandeln. Dabei ist die Hellseherei nicht perfekt, sondern funktioniert nur unter den richtigen zeitlichen Umständen und mit dem richtigen “Medium” in Händen. Zwei Entführungen dominieren die Handlung, wobei eine final tragisch endet. Es gibt noch eine dritte Entführung über Nacht während des Epilogs, diese ist aber weder handlungsrelevant noch wirklich originell. Zwei arabische Herrscher sind die ersten Gegner. Einmal ein Scheich mit einem riesigen, aber aufgrund seines Alters platonisch gehaltenen Harems voller schöner Frau. Und dann die Drusenführer, in deren Heiligtum eine wichtige Spur führt. 

Zwei unterschiedliche Arten der Prophezeiung treiben Texas Jack an. Einmal die Hellseherei des kleinen Mädchens, das ihm mehr und mehr zu einer Tochter wird. Die Drusen lesen im Buch der Vorhersagen und ihre Visionen sind mindestens genau so passend wie das zweite Gesicht des Mädchens. 

Drei Jahre nach “Das Hohe Lied der Liebe” wird die Idee einer auf den Rücken eines Mädchens eintätowierten Karte zu einem besonderen Ort in Atalanta eine wichtige Rolle spielen. Die entsprechende Sequenz - ein Teil des Geheimnisses - entwickelt Robert Kraft aber nicht sonderlich weit, es wird mit einem einzigen Brief wieder verworfen. In “Atalanta” wird sich Robert Kraft dieses Themas deutlich ausführlicher annehmen. 

Die mehr als sieben Monate umfassende Hetzjagd von Europa in die USA, anschließend nach Nordafrika und wieder zurück in die USA ist mit exotischen Plätzen und ausführlichen, manchmal die Handlung ins Stocken bringen, Wissen den Leser vermittelnden Beschreibungen  garniert. Texas Jack ist vielleicht nicht ganz mit Karl Mays Old Shatterhand zu vergleichen, aber Robert Kraft orientiert sich stellenweise an seinem Dresdner Konkurrenten. So eilt selbst im fernsten Afrika sein Ruf inklusive seiner Taten im kilometerweit voraus.  Er ist sich dieser Tatsache auch bewusst und nutzt sie teilweise aus, um gegen die schiere Übermacht der potentiellen Feinde immer einen Schritt voraus zu sein. 

Wie in einigen seiner anderen Kolportageromane lässt Robert Kraft am Ende der Geschichte eine wichtige Figur sterben. Erst kurz vor dem Epilog und fast auf einen kleinen Absatz reduziert. Ihr wird auch in Zukunft gedacht. In vielen Romanen durch entsprechende Tagebucheinträge, hier dank der nächsten Generation. 

Es ist eine dunkle, vielleicht zu pessimistische Note, auf welcher Robert Kraft einen stringenten, emotional ein wenig zu theatralischen, aber kurzweilig zu lesenden Roman enden lässt. 

“Die Nihilit Expedition” erschien ebenfalls als Bestandteil der Serie “Die Augen der Sphinx” 1909 als Heftroman 42- 48. Als Buchausgabe kombinierte der Verlag Münchmeyer die Geschichte mit “Novacasas Abenteuer”.  Sowohl als Einzelband wie auch in Kombination mit “Novacasas Abenteuer”  ist die Geschichte zwischen 1922 und 1927 mehrfach neu aufgelegt worden. 1996 ist “Die Nihilit Expedition aus Bestandteil der Edition Ustad im Karl May Verlag gewesen. Es gab einen Hobby Nachdruck der Münchmeyer Ausgabe in fünf Heften und jetzt bei Dieter von Reeken allerdings kombiniert mit “Das Hohe Lied der Liebe” - “Novanas Abenteuer” hat mit “Das Rätsel von Garden Hall” einen neuen Partner erhalten - einen Nachdruck der Originalveröffentlichung mit allen Innenillustrationen. 

Schon 1912/ 1913 erschien eine russische Übersetzung unter dem Titel “Iks- Metall i drugije rasskasy” in der Zeitschrift Na suse i na more. 1995 bzw. in der Neuauflage 1997 übersetzte Vlaminir Sunda die Geschichte ins Tschechische:  Expedice Nihilit. 

 Wie alle Texte aus “Die Augen der Sphinx” handelt es sich von der Grundstruktur her um einen fast klassisch zu nennenden Abenteuerstoff, der möglichst an für Deutsche exotischen Plätzen spielt - in diesem Fall Australien -, einen stringenten Plot hat, aber auch im Vergleich zu den anderen sieben “Augen der Sphinx” Geschichten über eine utopisch klingende, in Robert Krafts Gesamtwerk allerdings nur bedingt neue Idee verfügt. 

  In der Story  ist das geheimnisvolle Metall Nihilit nur das Element, die treibende Kraft der gierigen westlichen Kapitalisten, die Robert Kraft nutzt, um eine feudale, streng hierarchisch geordnete und von den Priestern nach dem Vorbild indischer Kasten regierte und geführte abgeschlossene und in der Wüste fast gänzlich isolierte Gesellschaft zu beschreiben. Dabei beschränkt er sich nicht auf die klassische Schilderung, sondern mit dem anscheinend fast lethargischen französischen Abenteurer und dem deutschen Ingenieur Schwarz etabliert er zwei kritische Beobachter. Konzeptuell scheint der Roman ein Vorläufer des fast drei Jahrzehnte später gedrehten Filmes „In den Fesseln der Shangri-La“ zu sein.  In der Theorie ein wahres Paradies in unwirtlicher Natur, in Wahrheit aber eine Tyrannei der Priester mit strengen Regeln, einer hierarchischen und auf 50.000 Menschen beschränkten Gemeinschaft. Allerdings belassen es seine beiden Protagonisten nicht lange mit der Beobachterrolle und versuchen, in das Geschehen einzugreifen. Das löst zumindest vorläufig eine soziale Katastrophe aus.

Schon der Beginn ist ein klassisches Szenario, wie es Abenteuerschriftsteller wie Sir Henry Rider Haggard gerne beschrieben haben.. Ein junger deutscher Ingenieur erhält in Australien einen bescheidenen Job als technischer Zeichner. Durch Zufall wird in der Wüste Australiens ein bislang unbekanntes Metall gefunden. Nähere Untersuchungen stellen eine ungeahnte Konsistenz fest. In bester Manier utopisch-phantastischer Romane der zwanziger und dreißiger Jahre wird das neue Metall Nihilit genannt. Abgeleitet aus dem Lateinischen „Nichts“ stellt diese Namensgebung eine der vielen sehr ironischen Elemente dar, die den gesamten Text durchziehen. Robert Kraft hat in vielen seiner Kolportageromane geheimnisvolle Metalle oder andere, magnetische Objekte verstreut über die Erde finden lassen. Paul Alfred Müller hat diese Fundgrube an Ideen in seinen Serien “Sun Koh” und “Rah Norton” weidlich ausgeschlachtet.

Wie allerdings diese Entdeckung gemacht worden ist, entspricht Robert Krafts teilweise in seinem umfangreichen Werk aufblitzenden ironischen Humor und seinen Hang zur Farce. 

Der ganze Roman ist eine Tagebuchaufzeichnung. Der deutsche Ingenieur schreibt alle Ereignisse nieder und erwähnt gleich zu Beginn seines Berichts, das die Überlebenden vor der Flucht in die unwirtliche australische Wüste stehen und er nicht weiß, ob jemand dieses Tagebuch überhaupt lesen wird. Diese Frage beantwortet Robert Kraft am Ende der Geschichte allerdings auch nicht. Tagebücher sind wichtige Elemente in einigen Kolportageromanen. So besteht in der Theorie “Wir Seezigeuner” nur aus den Aufzeichnungen zweier Männer, von denen der Zweite erst spät den Faden übernommen hat. 

Ein junger Franzose durchquert auf einem Elektrikfahrrad (!) den australischen Kontinent. An einem Wasserloch findet er die Leichen von achtzehn Einheimischen und einem über zwei Meter großen Kaukasier in einer fremdartigen Rüstung. Die Menschen haben sich gegenseitig umgebracht. Der Franzose nimmt die Waffen aus einem ungemein leichten Metall geschmiedet an sich. Zurück in der Zivilisation übergibt er sie einem Fabrikanten, der aus dieser Entdeckung Profit schlagen möchte. Insbesondere zu Beginn dieses Buches spielt Kraft gegen alle Klischees klassischer Abenteuerstoffe. Sein Held ist ein schmächtiges Männchen, unscheinbar, fast schon melancholisch, aber immer zur rechten Zeit am rechten Platz. Er hat die Welt bereist, Kampftechniken in Japan gelernt, Fechten in seiner Heimat. Dabei hat er einen Hang zur Selbstinszenierung. Bei einer Kanalüberquerung auf einem Fahrrad legt er seinen Sponsor rein. Interessant ist diese Konstellation, weil Robert Kraft selbst halsbrecherisch, aber sportlich den Jadebusen durchschwommen hat. Dadurch wurde der ansonsten eher unauffällige junge Mann auf einen Schlag bekannt und sogar zum Kaiser eingeladen. Die Ähnlichkeiten zwischen Autoren und Charakter erschöpfen sich allerdings schnell und er beginnt, ein vielschichtigeres Portrait des Franzosen zu zeichnen.

Eine Expedition wird mehr schlecht als recht vom gierigen Unternehmer ausgerüstet und in die Wüste geschickt. Hier entlarvt Kraft die menschenverachtende Einstellung der Großindustriellen seinen Arbeitern gegenüber und zeigt gleichzeitig das oft sinnlose Streben einzelner Individuen nach flüchtigem Ruhm auf. Die Schilderung der Wüstendurchquerung ist packend und authentisch. In diese Passagen fließt Robert Krafts umfangreiches Wissen aus seinen Reisen ein. Im Gegensatz zu Karl May, der erst in seinem letzten Lebensabschnitt umfangreiche Reisen unternahm, sammelte Robert Kraft als Seefahrer und phasenweise als Nomade in Nordafrika Erfahrungen. Robert Krafts Reisen sind gefährlicher. So sterben neben einem großen Teil der einfachen Arbeiter die mitgeführten Hunde, die meisten Pferde und sogar ein Kamel, lange bevor der erste wichtige Abschnitt der Reise hinter ihnen liegt.  Das umfangreiche Nachwort der im Ustad aufgelegten Buchausgabe, auf das noch gesondert eingegangen werden soll, entlarvt allerdings viele von Krafts angeblichen Reisen als reine Fiktionen. Wie Karl May hat sich Robert Kraft bei einer Reihe von echten Abenteuerschriftstellern bedient und ausführlich aus ihren Reiseberichten zitiert. Von dieser realistischen Ebene löst sich die Handlung in dem Moment, in welchem die Europäer dank einer Nihilitbrücke – sie überbrückt Vulkanlava – in eine fremdartige Welt treten.

Robert Kraft lässt seinen Ich-Erzähler Schwarz - wie zu Beginn erwähnt - ein Reisetagebuch führen, in welchem er auch seinen einjährigen Aufenthalt in dieser Oase beschreibt. Dadurch kann dieser kurz, knapp und präzise die wichtigen Daten dieser isolierten Gemeinschaft dem Leser gleich zu Beginn des neuen Handlungsbogens vermitteln. Das nimmt den kommenden Ereignissen einen großen Teil ihrer Faszination und baut in diesem Buch im Gegensatz zu einigen anderen Robert Kraft Kolportageromanen eine zu  große Distanz zum Leser auf und  wirkt nicht mehr wie ein auf Augenhöhe erlebtes Abenteuer.  Auf der anderen Seite kann sich Robert Kraft aus dieser in der Theorie erhabenenen Beobachterposition des Tagebuchschreibers auf die vielschichtigen Konflikte zwischen aufgeklärten Europäern und im Kastensystem verharrenden Eingeborenen konzentrieren. Der sportliche Wettkampf zwischen einem Läufer gegen Fahrrad darf nicht fehlen. Solche sportlichen Auseinandersetzungen finden sich in fast allen Robert Kraft Kolportageromanen mit unterschiedlichen Konstellationen. 

 Zuerst fällt die absolute Priesterhörigkeit auf. Diesen Unterschied zum mehr toleranten europäischen Gemisch aus Adel und Kirche manifestiert Kraft an den drakonischen Strafen, da jeder kleinste Fehler und jede Verfehlung mit dem Tod bestraft werden. Aus dieser Exposition kann nicht unbedingt offensichtliche Kritik am Klerus abgeleitet werden. Viel mehr orientiert er sich - wie in einigen anderen  Geschichten - an den Abenteuer Stoffen eines Retcliffes, eines Haggards oder auch Kiplings.  Allerdings entlarvt Robert Kraft die Religion teilweise auch als Farce, denn an  der  Spitze der anzubetenden und auf Menschenopfer wartenden Religion steht eine junge Engländern, eingezwängt in Tigerfelle, die entführt worden ist.   

Robert Kraft vermischt nicht zum ersten Mal in seinem Werk (siehe “Kampf um die indische Kaiserkrone” ), die insbesondere noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts allgegenwärtigen Strukturen Indiens mit Traditionen der Maya-Kulturen. Herauskommt ein Volk, das die Welt vergessen hat, das aber ihrerseits  in begrenztem Rahmen die Welt im Auge behält. Außerdem muss eine Kultur, die auf nicht einmal zwei Quadratmeilen lebt, sich anderen Herausforderungen stellen. Über weite Strecken reagieren Schwarz und seine beiden Kollegen nur auf die vorgefundene Situation aus der Position privilegierter Gefangener heraus. Erst als Schwarz aktiv in die Geschehnisse einzugreifen sucht, verschiebt sich das Gleichgewicht. Robert Kraft verzichtet allerdings auf jegliche Kritik. In den Beschreibungen erscheinen diese Ureinwohner als fatalistisch. 

Zusätzlich mischt Robert Kraft noch kräftig die Historie unter: Die geheimnisvollen Talbewohner tragen Rüstungen des Mittelalters mit Symbolen ihrer indischen Herkunft, die Landwirtschaft erinnert an die Mehr-Ernten Bewirtschaftung des frühen industriellen Zeitalters. Im krassen Widerspruch steht nicht nur auf den ersten Blick das moderne, leichte und widerstandsfähige Metall zu einer überwiegend einfachen strukturierten Gesellschaft. 

Nicht umsonst träumen die Europäer gerade in der Zeit, in welcher diese Art von Quest Utopien entstanden sind,  von einer kleinen Oase, zu einer modernen Industrienation geschmiedet mit den autarken Zügen eines sich selbst versorgenden Volks. Das Ideal einer zukünftigen Kriegsnation. Diese Situation wird nur bedingt ausgeführt. Als Bittsteller wollen sich die Einwohner des Tals nicht sehen. Darum fällt es ihnen schwer, zivilisierten Kontakt mit den Australiern aufzunehmen. Die beiden Europäer haben allerdings auch erstaunlich wenig Skrupel, ihren Gastgebern für die Handlungszeit und ihre Umgebung moderne Waffen herzustellen. Überlegene Feinde sind in diesem unwirtlichen Land nicht in Sicht.  

 Robert Kraft fehlt oft die Entschlossenheit, diese kritischen Punkte europäischer Kolonisierung Ideen auszusprechen, viel lieber weist er nur auf sie hin und wendet sich dann einem anderen Handlung Höhepunkt zu.

Wenige Seiten weiter relativiert er die Verteidigungsambitionen wieder und schiebt die eigentliche Schuld der Arroganz eines Vertreters des englischen Volkes zu. Dieser hat die Einführung einer Monarchie versucht und ist schließlich als alter verwirrter Mann verschwunden. Die Talbewohner suchen auf der einen Seite neuen Lebensraum und fruchtbares Land außerhalb ihres Tales, damit die Bevölkerungskontrolle aufgeweicht werden kann. Auf der anderen Seite machen sie Schwarz gegenüber  klar, dass die von ihm zu bauenden Waffen kein Verteidigungsmittel sind, sondern die von ihrem Gott auserwählten Talbewohner sich notfalls das Land mit Gewalt nehmen und niemals akzeptieren, dass die Australier ihnen überlegen sind.  

 In vielen Robert Kraft Romanen sind englische Vertreter Erzfeinde. Höhepunkt dieser Auseinandersetzung ist die Demütigung eines modernen britischen Kriegsschiff durch den Einsatz einer einzigen Kanone auf der kleinen Landinsel, welche die Seezigeuner unter ihrem Kapitän für sich beansprucht haben. Eine Schmach, welche die Briten im Verlauf der weiteren Handlung zu tilgen suchen. Daher ist es interessant, dass Schwarz generell nichts gegen einen Krieg gegen die Briten mit seinen Waffen hat, aber die eigene Positionierung der Talbewohner in seinem tiefsten wie hilflosen Inneren ablehnt. 

 Dass sich die Talbewohner gegen Überfälle ihrer Nachbarn wehren und konsequent ihre Grenzen beobachten, geht auf die übertriebenen Erzählungen des vorher gestrandeten Engländer zurück. Diese Szenen unterstreichen die Naivität der Isolierten. Nur so kann ihre auf absolutem Gehorsam gegenüber den Priestern aufgebaute kleine Gesellschaft funktionieren.

Insbesondere der Franzose Leonhard agiert im Untergrund. Sein Ziel ist eine gesellschaftliche Umwälzung fast in der Tradition der französischen Revolution mit ihm, allerdings als neuer König. Hier entlarvt Robert Kraft dessen Verhalten nicht als idealtypisches Gedankengut der französischen Revolution, sondern Egoismus und Eigennutz stehen im Vordergrund der Handlungen. Nicht zuletzt dank weiterer kleinerer technischer Erfindungen gelingt es den Europäern, für kurze Zeit die Macht zu übernehmen. Allerdings - wie in einem literarischen Trichter - konzentriert sich die Grundstruktur der Handlung mehr und mehr auf eine bürgerliche Hommage an Ryuard Kiplings herausragende Erzählung „Der Mann, der König sein wollte“. Schiebt man Sean Connery und Michael Caine als Schauspieler im besser bekannten Film zur Seite, lassen sich die beiden vielleicht unbewusst ähnlichen Texte gut vergleichen. Das bei Kipling gesuchte Gold lässt sich durch das Nihilit ersetzen. Die vorherrschenden Strukturen mit den Europäern erst als bevorzugte Gäste - die beiden Engländer werden schnell zu Königin - werden im eigenen Sinne gebogen, bis die Illusion aus unterschiedlichen Gründen platzt. In beiden Fällen müssen die Europäer fliehen bzw. bei Kipling wird einer der beiden Männer abgeschoben. Beide Geschichten werden auch direkt bei Kipling und indirekt bei Kraft durch das Tagebuch distanziert erzählt.  

Immer wieder hat Robert Kraft aus Zeitmangel und unter dem Druck seiner Herausgeber oft Ideen bei anderen Werken entliehen oder bei Interesselosigkeit bzw. zu komplizierten Handlungssträngen Texte schnell und abrupt beendet. Das ist hier auch der Fall. Auf den letzten Seiten überschlagen sich die Ereignisse. Die Europäer werden verhaftet, ihr kurzlebiges und gegen jegliche Priesterordnung verstoßendes Regime verbannt. Sie können fliehen und hier enden die Aufzeichnungen. Mit diesem pessimistischen Ende kann Robert Kraft auch das Kapitel Nihilit abschließen. Obwohl er sich mit seiner Bemerkung zu Märchen – in diesem Fall moderne Märchen – am Ende von allen logischen Brüchen freizusprechen sucht, wirkt die Tatsache, dass die Reisenden nicht mehr die Zivilisation erreicht haben und wir als übergeordnete Leser trotzdem ihr Tagebuch kennen, widersprüchlich.
Über weite Strecken nutzt allerdings Robert Kraft die oft nur indirekte Tagebuchform, um das gesamte Geschehen aus der Sicht Schwarz zu erzählen. Alle anderen Handlungsebenen erfährt der Leser nur durch Berichte, die Schwarz ihm erzählt anschließeend in sein Tagebuch überträgt. Das erhöht auf der einen Seite die Intensität der Handlung. Leser und Erzähler sind eng miteinander verbunden. Arthur Conan Doyle wird nur wenige Jahre später dieses Mittel zum Zweck in einem Teil seiner Professor Challenger Arbeiten intensiv nutzen.  Auf der anderen leider negativen Seite kommt kein Erzählfluss, über weite Strecken keine flüssige Handlung auf. Immer wieder schweift Robert Kraft ab, fügt Bemerkungen in den Text ein, die er später wieder negiert oder sie plötzlich bis zur Verzerrung wiedergeben lässt. Auch das wertvolle Nihilit verliert im Laufe der Handlung in mehrfacher Hinsicht ihre Bedeutung.

Nach Abschluss der Lektüre bleibt dem Betrachter ein skurriles Bild im Gedächtnis: Zwei Meter große Krieger in archaischen Nihilitrüstungen mit Gewehren über der Schulter auf einem Fahrrad die Wüste in Australien überquerend. Leider sind diese absurden und trotzdem so unterhaltsamen Geistesblitzes rar ausgestreut und in seinem Grundgerüst fehlt dem Roman die handlungstechnische Eigenständigkeit, welche einige seiner utopischen  Werke wie „Die neue Erde“ oder „König, König“ ausgezeichnet hat. Zu sehr klebt er an den klassischen Abenteuer- oder Reiseromanen und zu wenig durchbricht er dessen oft simple Gesetze. Dazwischen finden sich wie bei der oben beschriebenen Szene mit den Fahrradfahrern einige auch heute noch lesenswerte Szenen. Diese zeigen Robert Kraft als innovativen, klassischen Erzähler mit reichhaltigem Wissen und der Motivation, seine Leser mitzureißen.  Im direkten Vergleich zu “Das hohe Lied der Liebe” und andere Kolportage Romane verzichtet der Autor auch auf seine dem Tagebuchschreiber übergeordnete allwissende und manchmal Ereignisse der Zukunft andeutende Position, was den Lesefluss der Geschichte deutlich verbessert, ohne grundlegend die Spannung zu unterminieren. 

Auf der anderen Seite geht Robert Kraft mit dem seltsamen Stoff “Nihilit” in der Tradition Jules Vernes den vor allem auch utopisch technischen deutschen Science Fiction Autoren wie Hans Dominik und natürlich Paul Alfred Müller in den angesprochenen Heftromanserien zeitlich deutlich voran, auch wenn sich der Leipziger weigert, der zivilisierten Welt bzw. dem deutschen Ingenieur ein Metall zu schenken, mit dem das damalige militärische Gleichgewicht am Vorabend des Ersten Weltkriegs noch weiter auseinanderklaffen sollte. 




Robert Kraft
Das Hohelied der Liebe · Die Nihilit-Expedition

Neuausgabe in neuer deutscher Rechtschreibung der erstmals 1909 erschienenen Romane in einem Band.
Hardcover, 467 Seiten, 28 Abbildungen - 32,50 €
— ISBN 978-3-945807-87-3

Verlag Dieter von Reeken