Nach spektakulären wie spekulativen Forschungen wie Parapsychologie und Unsterblichkeit kehrt Rainer Erler mit dem letzten Film bzw. Roman „Der Gigant“ zu griffigeren Themen zurück: ein synthetischer Stahl. Der Chemiker Enrico Palazzo arbeitet seit einigen Jahren mit eher primitiven, durch das Budget des blauen Palais eingeschränkten Mitteln an einem Ersatz. Gleich zu Beginn lässt Rainer Erler den frei gewählten Institutsleiter Palm vor dem anwesenden Kuratorium nicht nur über die Grenzen des Wachstums – basierend auf den Ideen des 1968 gegründeten Club of Rome und deren 1972 veröffentlichter Studie – spekulieren, sondern extrapoliert die Knappheit der Rohstoffe beginnend mit Silber bis zum Öl. Die fortschreitende Technik und vor allem auch neue Erdöl- bzw. Gasfunde haben diese Thesen inzwischen eingeholt, aber ökologisch hat Rainer Erler recht. Menschlicher Fortschritt kann nur mit der Natur, aber nicht gegen sie erfolgen. Modernes Gedankengut, verpackt in eine fast steife Präsentation aus den siebziger Jahren mit handgreiflichen Beispielen. Interessant ist die ambivalente Haltung der Kuratoriumsmitglieder gegenüber Palazzos Forschungen. Auf der einen Seite ist der Stahlersatzstoff noch nicht so stabil hinsichtlich der Tragfähigkeit, ist aber weniger spröde und vor allem hinsichtlich des Gewichts deutlich leichter. Das spart Kosten und Energie bei der Verarbeitung. Selbst Palazzo ist verwirrt, als er ausdrücklich für seine bisherige Arbeit gelobt wird, ohne dass ihm weitere Mittel zur Verfügung gestellt werden.
In der zweiten Folge „Der Verräter“ wurde das blaue Palais dem Physiker von Klöpfer zu klein und er verbündete sich mit obskuren Firmen in Asien. Dreh- und Angelpunkt war Hongkong. In “Der Gigant” schiebt das Kuratorium den Chemiker Palazzo im übertragenen Sinne in die USA ab. Ein ehemaliges Mitglied des blauen Palais ist zu einem großen Mischkonzern - “Der Gigant” im Titel - abgewandert, wo er angeblich ebenfalls an einem Ersatz für Stahl arbeitet. Musterbeispiel soll eine 4 Kilometer lange Brücke vor Vancouver in Kanada sein, die auf eine spektakuläre Art und Weise das Symbol für den synthetischen Stahl darstellen soll. Es ist abschließend nicht klar, ob Professor Manzini andere Absichten hat, als Palazzo die Möglichkeit zu geben, effektiver experimentieren zu können. Vieles spricht gegen diese Idee, denn die kapitalistischen Hintergrundbewegungen benötigen sehr viel mehr Zeit und können nicht ohne Kenntnis von Manzini erfolgt sein. Immerhin skizziert Palm zynisch abschließend dem verblüfften Palazzo, mit welchem “Giganten” er sich angelegt hat. Bewusst oder unbewusst ist es Manzini, der den Untergang des Blauen Palais einleitet. Bei seinen wenigen Auftritten ist Manzini immer ein ambivalenter Charakter, der auf der einen Seite an den individuellen Forschungen - insbesondere in der Auftaktfolge “Das Genie” - interessiert ist. Auf der anderen Seite hat er die effektive Nutzung der im Vergleich zur Industrie lächerlich kleinen Budgets im Auge und dritten spielt er zumindest vor, dass nur freies, konzernunabhängiges Forschen der Menschheit wirklich hilft. Ganz bewusst geht Rainer Erler auf den letzten Punkt während des sich lange hinziehenden, ausgesprochen zynischen, aber leider allgegenwärtigen, metaphorischen Endkampf ein.
Mit dem Spagat zwischen Forschung und Kapitalismus hat sich Rainer Erler nicht nur in den hier inzwischen vorliegenden fünf Filmen bzw. Büchern um das Blaue Palais auseinandergesetzt. Seit den sechziger Jahren bis in sein Spätwerk argumentierte Rainer Erler anfänglich satirisch übertrieben, später mehr und mehr mahnend wie die Zuschauer schockierend gegen das rücksichtslose Großkapital an, das auf dem Rücken des kleinen Mannes seine Profite maximiert. In “Der Verräter” fällt von Klöpfer den Machenschaften eines möglicherweise amerikanischen Großkonzerns zum Opfer, der mit Leihgaben und später Einblick in das geheime wie gefährliche Projekt zum Mitwisser gemacht wird. Palazzo wird relativ schnell von dem amerikanischen Mischkonzern angestellt, der seine Forschungsstätten mitten in der Wüste neben den ehemaligen atomaren Versuchsgeländen der amerikanischen Armee hat. Sein Freund - er ist inzwischen mit einer Amerikanerin verheiratet - holt ihn vom Flughafen ab und bringt ihn in die Forschungsanlage, die wie eine Art Gefängnis erscheint. Verschiedenfarbige Eintrittskarten, harte Sicherheitskontrollen beim Verlassen der Anlage und ansonsten nur für Meilen Wüste. Mit dem Ausflug über den großen Teich reisen in vier von den fünf Filmen des “Blauen Palais” Forscher außerhalb von Europa, nur bei “Unsterblichkeit” bleiben sie auf dem Kontinent.
Für einen Leser des 20. Jahrhunderts überraschen die Einblicke in die Hierarchien amerikanischer Großkonzerne nicht wirklich. Rainer Erler nutzt auch jedes Klischee, um seinen armen kleinen Italiener Palazzo vor den Kopf zu stoßen. Verführerische Vorgesetzte, die sich beim Erreichen von Zielen als Klapperschlangen im eigenen Firmen-Bett erweisen. Narzisstisch, opportunistisch, egoistisch und nur auf das schnelle Geld versessen. Die Ideen der Angestellten zu Eigen machen und zu patentieren. Die Erfinder mit wenig Geld abfinden und ansonsten mit teuren Rechtsstreitigkeiten drohen. Vorher sich mit angeblichen Erfolgen brüsten, die sich als Luftnummern erweisen, wie Palazzo relativ schnell erkennen muss. Palazzo in seinem Keller Arbeitszimmer war weiter als ein Börsenkonzern, der Milliarden schwer ist. Rainer Erler holt dann auch gleich zum Rundumschlag aus und verweist das Spekulieren an der Börse direkt in die metaphorische Höhle. Nur Banker, Hedgefondsmanager oder Insider könnten mit Aktien Geld verdienen. Das müssen auch die Mitglieder des Blauen Palais erkennen, wobei in mindestens einem Fall klassisch die Gier das Hirn gefressen hat.
Das letzte Drittel des Films und damit auch des Buches ist der Kampf zwischen David - wie Rainer Erler süffisant Palm aussprechen lässt, dieses Mal ohne Schleuder - gegen Goliath in Form des Giganten mit seinen zahllosen globale Beteiligungen und Förderern insbesondere in der hochrangigen Politik.
Palazzo wird in doppelter Hinsicht betrogen. Im Gegensatz zu seinem Kollegen von Klöpfer, dem der geheimnisvolle Konzern eine Erweiterung der eigenen Forschung allerdings mit einem gefährlicheren und gänzlich anderen Endziel präsentierte, muss der Italiener lernen, dass das amerikanische Konglomerat quasi sein Wissen ausgesaugt und dann verarbeitet hat- eine eigene Forschung fand so gut wie nicht statt. Auch hier stellt sich die Frage, ob Professor Manzini über das ehemalige Mitglied des “Blauen Palais” - dieser wird vom Saulus zum Paulus mit einer gewissen Angst, nicht anzuecken - nicht doch Informationen weitergeleitet und Palazzo auf diese betrügerische Art und Weise angeworben hat? Palm macht auch später deutlich, dass Palazzo ja kein Kleinkind ist und wissentlich den amerikanischen Arbeitsvertrag und damit sein Werk unter bzw. überschrieben hat. Palazzo hat zwar nicht seine Seele verkauft, aber viel fehlt nicht.
Mit dem Anlaufen der Produktion des neuen synthetischen Stahl zeigen sich - wenig überraschend, aber ignoriert - eine Reihe von ökologischen Problemen. Der Ausstoss ist gesundheitsgefährdend. Das wird Palazza zusammen mit seiner jetzigen Frau Yvonne - der ehemaligen Sekretärin des Blauen Palais - schon in kleinen Versuchen drastisch vor Augen geführt. Ein wenig cineastisch macht es Rainer Erler den Zuschauern und damit auch Lesern am Tag der Hochzeitsfeier im Palais zwischen Palazzo und Yvonne deutlich. Aber die Büchse der Pandora ist geöffnet und alle Versuche Palazzos, auf die Schädigung der Umwelt nicht nur in der Umgebung der Werke, sondern eine Verklappung auf See hinzuweisen, werden auf die typisch amerikanische Art und Weise ignoriert.
Palazzo versucht es erst intern, aber Gutachter wie Politiker lassen sich kaufen. Auch die Öffentlichkeit steht den Thesen des Erfinders sehr kritisch gegenüber. Rainer Erler platziert sich deutlich auf der Seite der Umweltverbände. Fortschritt darf nur mit der Natur und den Menschen, aber nicht aufgrund von Profitstreben gegen sie erfolgen. Natürlich macht es sich Rainer Erler auch ein wenig leichter. Die Forscher im Blauen Palais finden drastische Beweise für die Gefährlichkeit der Abfallprodukte bei der Herstellung des synthetischen Stahls in einem improvisierten Feldversuch im eigenen Keller. Damit ist diese Position gegen alle gekauften Gutachten gefestigt. Die Umweltschäden zeigen sich erst während der Produktionsphase, auch wenn die Luftfilter selbst zu einem weiteren Problem werden. Angeblich fangen sie die Schadstoffe ab, müssen aber entweder teurer gereinigt oder entsorgt werden. Hier entsteht die nächste ökologische Bombe, denn eine Verklappung auf den Weltmeeren hat drastische Folgen für die Fische bzw. die Meeresbiologie. Eine Wiederaufbereitung der Filter ist viel zu teuer, wobei Rainer Erler die Frage nicht klären lässt, ob das andere Folgen für die Umwelt hätte.
Am Ende ist der synthetische Stahl aus ökologischer Sicht betrachtet schädlicher als die klassische Stahlerzeugung, die in den siebziger Jahren ja noch zwischen Rhein und Ruhr den meisten Menschen Arbeit gegeben hat.
Rainer Erler zeigt auch deutlich und zeitlos auf, dass der freie Journalismus nur bedingt frei ist. Viele große Zeitschriften scheuen die Klagen durch die Industrie mit ihren gekauften Gutachtern. Von den Politikern ganz zu schweigen. Am Ende der Geschichte gibt es neben der überraschenden Niederlage nur kleine Pyrrhussiege. Auf einen finalen Ausblick verzichtet Rainer Erler.
So ist auf der einen Seite “Der Gigant” am meisten von allen “Das Blaue Palais" -Episoden gealtert und doch weiterhin modern. Modern, weil es immer noch Großkonzerne und Politiker gibt, die rücksichtslos die eigenen Taschen voll machen und für die Menschenleben oder die Vernichtung der Natur Kollateralschäden sind. Dieses Verhalten zieht sich durch die Menschheitsgeschichte. Dirk C. Fleck hat in seinem Buch “Heroes” verschiedene Umweltschutzorganisationen und Individualisten aufgeführt, die sich seit den fünfziger Jahren gegen die Machenschaften der amerikanischen Konzerne stellen. In dieser Hinsicht betritt Rainer Erler mit dem fünften Teil des “blauen Palais” kein Neuland. Aber der Kampf einzelner gegen nicht selten gesichtslose Konglomerate - in “Der Gigant” hat der Gegner nicht nur einen Namen, ist börsennotiert und vor allem hat auch eine schleimige Vorstandsebene voller Feiglinge in Nadelstreifen Anzügen und Opportunisten - wird mehr und mehr zu einem roten Faden in Rainer Erlers folgenden Filmen.
In einem Punkt ist “Der Gigant” natürlich gealtert. Das Internet mit seiner Breitenwirkung, die Mobilisierung der Öffentlichkeit abseits der klassischen wie nicht selten gekauften Wege über Gutachter, Fachzeitschriften, das Fernsehen oder die Tageszeitungen hat inzwischen einen schlagkräftigen, aber auch leicht manipulierenden Einfluss. Wahrscheinlich würden die Konzerne heute mit dem Schlagwort “Fake News” gegen schlechte Nachrichten im Netz vergehen.
In den fünf Folgen des “blauen Palais” wird Palm zweimal vor schwierige Entscheidungen gestellt. In “Der Verräter” lässt ihm der Physiker von Klöpfer Forschungsunterlagen überreichen, die er entweder - höflich gesprochen - geliehen oder drastisch formuliert gestohlen hat. Palm weiß, dass weder von Kloepfer noch er ein Recht auf diese gefährlichen Forschungsergebnisse haben. In “Der Gigant” lehnt Palm die Unterlagen ab. Er verweist auf die Sinnlosigkeit von Patentprozessen angesichts der exorbitanten Kosten und rückt Palazzo, dass er ja bei vollem Bewusstsein den amerikanischen Arbeitsvertrag unterschrieben und damit auch sein Know How eingebracht hat. Auch von Kloepfer ist durch das Leihen von Geräten mit Palms Zustimmung einen Handel mit dem kapitalistischen Teufel eingegangen. Am Ende beider Forschungsreihen ist das Wohl der Menschheit gefährdet. Aber es ist leichter, Ideen unter den Tisch zu kehren und möglichst vor der Verbreitung zu schützen, als gegen den Sturm anzukämpfen, welcher einer seiner Mitarbeiter ausgesät hat. Aber diese fatalistische Einstellung reiht sich in ein dunkles, nihilistisches Ende, das nur im letzten Abschnitt des Films und dem Epilog des Films ein ganz klein wenig aufgehellt wird.
Neben dem Konflikt zwischen Forschung- Kapital und Ökologie beschreibt Rainer Erler mit dem Leben in den USA - amerikanische Wüsten- Einöde und New York - auch das Elend in Mexiko, noch nicht im Drogensumpf versunken. So wird Palazzos Ausweis minutiös von der örtlichen Polizei untersucht. Gemeinsam schauen sie in die Fahndungslisten, die in die örtliche Kneipe gebracht werden. Am Ende tanzen sie alle auf den Tischen. Die Polizei, der verzweifelte italienische Forscher weit weg von der Heimat; die Kneipenbesucher und der Wirt, welcher Palazzo seine zehn Dollar zurückgibt, mit denen er die Gäste einladen wollte. Einen Moment der Idylle in einer der dunkelsten Geschichten dieser Miniserie.
“Der Gigant” basiert wie “Der Verräter” eher auf harten wissenschaftlichen Fakten und wirkt nur in Details spekulativ. Science Fact eher als Science Fiction. Im Gegensatz zu den PSI Geschichten bzw. den biologischen Themen enden die beiden Geschichten auch deutlich dunkler, zynischer.
“Der Gigant” ist ein konsequenter und lesenswerter Abschluss einer der auch heute noch interessantesten Serien im deutschen Fernsehen. Auch wenn die Buchversionen - Rainer Erler sieht sie ja wie eingangs erwähnt nicht als Adaptionen - an einigen Stellen ein wenig karg hinsichtlich der Charakterisierung der handelnden Personen wirken, gibt das geschriebene Wort Rainer Erler die Möglichkeit, die Hintergründe - vor allem Sitten und Gebräuchen in für die deutschen Sessel Touristen noch fast unbekannten Regionen - ausführlicher zu erläutern und Fiction sehr gut mit auf Augenhöhe präsentieren Fakten zu kombinieren. Rainer Erler ist als Filmemacher, aber auch Autor, ein Mann des direkten Wortes. Immer wieder verdichtet er wichtige Situationen auf das Wesentliche. Es besteht die Gefahr, dass die Feinheiten beim flüchtigen Betrachten bzw. Lesen übersehen werden. Aber Rainer Erler hat den entsprechenden Anspruch an sich selbst, aber auch sein Publikum, das er zum Mitdenken auffordert und diese Einladung auch angenommen wird. In dieser Hinsicht sind die fünf unterschiedlichen Geschichten aus der abgewrackten Villa irgendwo im deutschen Hinterland mit den Forschern, welche erst zu spät erkennen, welche Freiheiten ihnen diese Umgebung bietet, zeitlos und ein unvergesslicher Höhepunkt im umfangreichen Schaffen Rainer Erlers über mehr als drei Jahrzehnte.
- Herausgeber : p.machinery; 1. Edition (20. Juni 2023)
- Sprache : Deutsch
- Taschenbuch : 644 Seiten
- ISBN-10 : 3957653401
- ISBN-13 : 978-3957653406
- Lesealter : Ab 14 Jahren