Nach „Die Scherben der Erde“ und „Die Augen der Galaxis“ ist „Die Herren des Abgrunds“ der dritte und finale Band Tchaikovsky „Final Architecture“ Serie. Es ist aufgrund der Komplexität der Handlung, den ersten Exkursionen in den, im Original poetischer ausgedrückt „Unspace“, den Raum hinter dem realen Universum. Neben der komplexen Zeichnung der Protagonisten beginnend mit dem ersten Band baut der britische Autor seine im Grunde Äonen umfassenden Komplex mit jedem Band der Trilogie weiter aus, um die roten Fäden erstaunlich pragmatisch, aber auch sehr zufrieden stellend in diesem letzten Buch zusammenzufassen. Adrian Tchaikovsky größte Stärke ist seine Fähigkeit, auf den ersten Blick unlogische und verwirrende erscheinende Handlungsstränge zusammenzubinden und vor allem abzuschließen. Natürlich lässt sich der Autor die Möglichkeit offen, in diesem Universum weiter literarisch tätig zu sein und Nebenhandlungen in Kurzgeschichten, Novellen oder Romanen fortzuführen. Für den Leser ist wichtig, dass auf eine teilweise verblüffende Art und Weise die Fragen beantwortet werden, welche sich die Protagonisten stellvertretend für die Leser zu Beginn der Geschichte stellen.
Der dritte Roman beginnt aus der Perspektive eines der Intermediäre, welche die Möglichkeit haben, zumindest in das Wesen der seltsamen Architekten einzudringen, welche vor mehr als einhundert Jahren die Menschheit fast gänzlich ausgerottet haben. Mit dem erneuten Auftauchen der Architekten droht ein weiterer Krieg und inzwischen sind die Architekten teilweise auf die Intermediäre vorbereitet. Gleich zu Beginn beschreibt der Autor noch einmal die komplexe Situation. Technisch sind die Architekten den Menschen überlegen und vernichten ihre Welt. Die einzige Möglichkeit für eine Handvoll von Überlebenden ist, sich eine neue Existenz außerhalb der Oberfläche eines Planeten aufzubauen und permanent auf der Flucht zu sein. Einzelne Teilaspekte dieses Szenarios lassen sich auf die Gegenwart und ihre zahlreichen Konflikte übertragen, bei denen auch nur eine Handvoll begüterter Menschen in den Kriegsgebieten die Chance eines Exodus haben, während Tausende in der Gegenwart, Milliarden Menschen in Tchaikovskys Zukunft sterben. Der Autor beschreibt noch einmal ausführlichen den inzwischen verzweifelten gewordenen Versuch der Intermediäre Andecka und Grave, in das Bewusstsein eines Architekten einzudringen und seine Aggression zu beenden.
Lange Zeit waren die Intermediäre die einzige „Waffe“ gegen die Architekten. Durch einen Zufall haben die Menschen auf Estoc Überreste einer lange vorher untergegangenen Zivilisation entdeckt, welche unter anderem eine Waffe gegen die Architekten darstellen könnte. Auch diese Zivilisation ist vor Äonen von den Fremden angegriffen worden. Die Angriffe auf die Architekten können mittels des Auges – der Begriff ist metaphorisch zu verstehen – im angesprochenen Unspce erfolgen. Dazu müssen aber die Wissenschaftler und Intermediäre ihre eigene Identität bis zu einem bestimmten Punkt auch aufgeben, in dem sie sich in eine Maschine einlocken.
Um diese beiden Komplexe hat Adrian Tchaikosvky noch eine weitere Ideen gesponnen. Estoc ist umgeben von den Trümmern eines gigantischen Raumschiffes wahrscheinlich einer weiteren, längst untergegangenen Zivilisation, welche befeuert von dem Auge eine Art Schutzwall bilden könnten.
Mit dem Unspace bekommt der Roman eine weitere Perspektive. Wie ein Autor auf seine fiktive Realität schaut, blickt Idris aus diesem Überraum auf sein eigenes Universum. Idris erlangt keine gottgleichen Kräfte, er findet auch keine klassische Wunderwaffe und trotzdem beginnt er eine Reise, wie sie nur wenige Autoren – siehe Olaf Stapledon oder H.G. Wells - in ihren wichtigsten Werken vorgenommen haben. Stephen Baxter ist in seinem umfangreichen Werk eher Arthur C. Clarke gefolgt. Auch wenn sowohl bei Baxter als auch Clarke das Universum voller unerklärlicher Wunder ist und Reisen eher ins Innere als das äußere Universum führen, geht Adrian Tchaikovsky einen anderen Weg. Idris unternimmt tatsächlich diese Reise. Klettert in der trotz der vergangenen Äonen immer noch unvollendeten „Schöpfung“ weiter nach oben, ohne sein Kernproblem aus den Augen zu verlieren. Die Beschreibungen sind exotisch, das Universum stimmungsvoll fremdartig und doch klar strukturiert. Durch die Blicke in die Vergangenheit mit untergegangenen Rassen hat Tchaikovsky dem Leser schon aufgezeigt, dass die Menschheit das berühmte Staubkorn ist, unbedeutend und vom intergalaktischen Wind verwehrt.
In „Die Herren des Abgrunds“ beginnt der Autor den Plot in eine noch andere Richtung zu entwickeln. Die Architekten sind der größte Feind nicht nur der Menschheit, sondern humanoiden intelligenten Lebens per se. Aber die Architekten sind nicht die Krone der Schöpfung, sondern das Gegenteil. Spekulativ reduziert der Autor sie aus Idris Perspektive im Unspace zu Werkzeugen, vielleicht auch Sklaven einer bislang unbekannten, noch höher entwickelten Rasse. Anstatt aber eine „Schicht“ sprich fremdartige Rasse über die nächste zu legen, kehrt der Autor wieder zu den Ursprüngen, zu den anfänglichen Fragen zurück.
Der Kreis schließt sich. Genau wie Idris fragt sich der Leser, warum die Architekten alles intelligente, nicht nur menschliche Leben ausrotten wollen ? Welche Motive haben die Fremden hinter den Fremden? Sind es überhaupt noch intelligente Wesen oder haben die Herrscher des Abgrunds diese Evolutionsstufe zu Gunsten einer Gemeinschaftsintelligenz, vielleicht auch einer Art K.I. übersprungen. Alles intelligente Wesen innerhalb der Milchstraße wird auf das Niveau des Käfers im Ameisenhaufen reduziert, um an einen Titel der Strugatzkis zu erinnern. Im Unspace geht es evolutionär, aber nicht intellektuell nur nach oben. Im realen Universum ist – faszinierend durch eine Reihe von Actionsequenzen beschrieben – der Überlebenskampf in vollem Gange und die Koalitionen lösen sich auf. Krieg ist immer Chaos und Chaos ist kein Fortschritt. So greifen die Menschen ihre Verbündeten an, vernichten deren Raumschiffe, obwohl sie die Transportkapazitäten benötigt. Der Krieg frisst seine Kinder, wobei in diesem Fall der Krieg von einer dritten Seite hineingetragen worden ist. Es gibt auch keine Unschuldigen und Schuldigen mehr. Auch wenn Tchaikosvky eine Reihe von spektakulären Actionsequenzen in allen drei Büchern der Trilogie präsentiert, bleibt er als Erzähler neutral. Er zeigt Schicksale, aber er beurteilt sie nicht. Dieser Ansatz kann kritisiert werden, aber angesichts der Komplexität seines grundlegenden Szenarios will sich der Brite nicht mit den Kleinigkeiten beschäftigen, sondern versucht ein multidimensionales Bild von einer Zivilisation auf dem Buckel, aber nicht den Schultern einer anderen Zivilisation aufzuzeigen, deren Griff nach den fiktiven Sternen nur mit Feuer und Schwert erfolgen kann. Das wirkt pragmatisch ernüchternd, erdet aber nicht nur Idris, sondern vor allem die Lesern, denen diese Geschehnisse; diese Auseinandersetzungen eben aus den Zeitungen, dem Fernsehen oder dem Internet allzu bekannt sind.
Es ist ein schmaler Grat, auf dem sich Adrian Tchaikovsky hier bewegt. Die emotionalen Momente – Idris sucht die Nähe seiner einzigen Gefährtin im Unspace Solace - , welche die Besonderheit der Menschheit, ihren Drang nach emotionaler, nicht unbedingt sexueller Nähe ausdrückt. Aber macht das die Menschen angesichts der kosmischen Katastrophe zu besonderen Wesen? Die Antwort muss nein heißen. Auch Außerirdische lieben ihre Kinder. Daher versucht sich der Autor ein wenig an einer emotionalen Manipulation des Lesers, einhergehend mit einer Reihe von politischen Diskussionen, welche von der faszinierenden Handlung im Unspace und Idris als ewigen Wanderer ablenken. Mit dieser versuchten Erdung erreicht der Autor eher das Gegenteil. Das Ziel ist klar: die Waffen der Vernichtung müssen zerstört werden, auch wenn es sich mit den Architekten um intelligente Vernichtungswerkzeuge handelt. Einen moralischen Kompass gibt es nicht. Mit den Kriegstreibern im diesseitigen Universum geht Adrian Tchaikovsky ein wenig gelassener um. Ihre faschistischen Reden und ihr unmenschliches, im Grunde auch asoziales Handeln wird als Exzess geduldet, wenn nicht stellenweise toleriert. Sie sind das lange Zeit erfolgreiche Krebsgeschwür im Schatten der Architekten. Narzisstische Opportunisten, wie es sie heute mehr denn je gibt und denen die Dummen, die Blinden gerne folgen... in den eigenen Abgrund, die eigene Vernichtung.
„Die Herren des Abgrunds“ ist aufgrund der vielen, allerdings wie eingangs erwähnt auch ein wenig unstrukturiert, aber effektiv zusammenlaufenden Handlungsfäden sicherlich keine einfache Lektüre. Tchaikovsky erwartet, dass der Leser eigene Lösungen findet. Er darf sich an Idris Odyssee orientieren, aber dessen „Erfolge“, dessen Suche nach der Wunderwaffe, dem vielleicht heiligen Gral ist stellenweise auch nur eine Ablenkung von den aktuellen, grundlegenden Problemen, welche der britische Autor in dieser ohne Frage herausfordernden, aber auch intellektuell stimulierenden, die verschiedenen Versatzstücke der modernen Space Opera im Vergleich zu den barocken Arbeiten eines Iain Banks oder Allistair Reynolds anders, nicht grundlegend neu zusammenbauenden Trilogie abarbeitet. Am Ende starrt Mensch in den Abgrund und sieht nur die eigene Fratze. Ob es sich dabei um Architekten handelt; deren Hintermänner oder die Hinterlassenschaften einer vor Äonen ebenfalls an sich selbst und ihrem Gottwahn gescheiterten Zivilisation, denen „Mühl“ auf Estoc den intellektuellen Horizont genauso sprengen wie das berühmte Pciknick am Wegesrand. Alles spielt keine Rolle, alles ist Schall und Rauch... im Diesseits wie auch im Jenseits des U
- Herausgeber : Heyne Verlag; Deutsche Erstausgabe Edition (10. Juli 2024)
- Sprache : Deutsch
- Broschiert : 720 Seiten
- ISBN-10 : 3453321847
- ISBN-13 : 978-3453321847
- Originaltitel : Lords of Uncreation – Shards of Earth Trilogy Book 3