Science Fiction als neue Metaphysik?

Gotthard Günther

Im Gegensatz zu Dr. Gotthard Günthers Einleitungen zu den vier inzwischen legendären „Rauch Weltraum- Büchern“ ist es sinnvoll, diese aus insgesamt fünf Essays bestehende Sammlung mit Dr. Franz Rottensteiners Nachwort zu beginnen. Er versucht nicht nur die Veröffentlichung der vier Hardcover in den richtigen Kontext der utopischen Literatur im Nachkriegsdeutschland zu rücken, sondern stellt Gotthard Günther durchaus kritisch dem Leser als Mensch, als Philosoph und schließlich auch als Herausgeber vor. Im Vorwege ist sein Lebenslauf wichtig, dem im Gegensatz zu einigen anderen auch nebenberuflichen Lektoren und Editoren utopischer Literatur in Deutschland, lebt Gotthard Günther nach dem Studium in Heidelberg aufgrund der jüdischen Herkunft seiner Frau nicht nur in Südafrika im Exil, sondern auch in den vierziger Jahren in den USA, als die Science Fiction in das „Golden Age“ eintrat und die Texte auch unter der Ägide von John W. Campbell weniger wie Western im All aussahen.

Während sich Rottensteiner eher um ein neutrales Bild bemühte, kritisierte Nagl aus den Zitaten erkennbar Gotthard Günther als einen Mann, der die Bedeutung der Science Fiction übertrieb und die Bücher mit seinen zu intellektuellen, zu sehr an Spengler klebenden und die von ihm entwickelte nichtaristotelische Logik propagierenden Nachworten förmlich überfrachtete. Nagl versteift sich allerdings auch in der Aussage, dass man diese Art der amerikanischen Science Fiction auf Jahre nach dem Misserfolg der „Rauch Weltraum Bücher“ nicht mehr zu sehen bekam, was  Franz Rottensteiner mit dem Hinweis auf die Durchdringung der Hans Dominik Nachdrucke im Gebrüder Weiß Verlag mit Robert A. Heinlein oder Edmond Hamilton widerlegt. Aber selbst Franz Rottensteiner hinterfragt die Auswahl der ersten vier publizierten Titel, wobei nicht klar ist, ob und mit welchen potentiellen Klassikern des Genres die Reihe fortgesetzt worden wäre. Die Kritik an Campbell und seinem direkten literarischen und weniger seines indirekten als Ideengeber und Herausgeber zu bemessenden Einfluss auf das Genre und die Publikation des laut Günther existentiellen „Der unglaubliche Planet“ schießt dabei ein wenig über das Ziel hinaus, denn auch andere Autoren sind lange Jahre nicht nachgedruckt worden und in England ist das Buch inzwischen in zwei Teilen ebenfalls wieder erhältlich. Laut Rottensteiners Argumentation müsste auch Kurd Lasswitz demnach kein Anrecht auf den Titel „Vater der deutschen Science Fiction“ haben, denn „Auf zwei Planeten“ ist Jahrzehntelang nicht nachgedruckt worden. Viel eher wäre es interessant, im Nachwort Gotthard Günthers unwidersprochenen Äußerungen in seinen Anmerkungen zu den vier „Rauch Weltraum- Büchern“ zu entgegen und nachhaltiger dessen ohne Frage exzentrische, aber von ihm zumindest nachvollziehbar begründete Gedankenkette an der literarischen Vorlage zu untersuchen. Interessant ist, dass Asimov in seinen Memoiren auf Günthers Trennung der literarischen Wurzeln der alten Welt und dem potentiellen Entstehen neuer literarischer Ströme – siehe auch „Die Entdeckung Amerikas und die Sache der Weltraum-Literatur“ zu Beginn dieser Sammlung – in der Neuen Welt kurz eingeht. Die Zeit hat mit der Wechselwirkung des „New Wave“ – beginnend in Europa, Verstärkung in den USA  - oder den barocken Space Operas Günthers auch von ihm nicht zu beweisende These widerlegt. Interessant ist, dass - obwohl die Science Fiction in seinem umfangreichen Werk eher eine Art Hobby darstellt  - Günther fünf Jahre nach der Einstellung der Weltraum- Bücher in seinen Schriften über die Kybernetik sowie seinen „Manifesten“ zur nicht- Aristotelischen Logik wieder auf die Argumente zurückgegriffen hat, an denen er die von ihm herausgegeben, qualitativ unstrittigen Texte gemessen hat. In dieser Hinsicht scheint sich ein Kreis geschlossen zu haben, den er eher bemüht in seinem Auftaktessay um die Suche nach einer eigenständigen, von den europäischen Wurzeln unabhängigen Literatur in den USA angeschnitten hat. Vielleicht liefert Günther in diesem einführenden Essay die größte Angriffsfläche, denn wie Amerika schon mehrfach vor Kolumbus entdeckt und wieder vergessen worden ist, kann sich die Science Fiction nicht von ihren europäischen Wurzeln und vor allem dem Einfluss – siehe Gernsback, siehe H.G. Wells – befreien. In den sechziger Jahren wird mit dem „New Wave“ die Erneuerung des Genres auch aus Europa heraus eingeläutet. Hinsichtlich seiner Beispiele – Hemingway und Twain – versucht Günther eine These zu etablieren, die so nicht haltbar ist. Insbesondere Twain hat seine Geschichten in einem aus europäischer Sicht einzigartigen und vor allem spezifischen Teil der USA angesiedelt. Wenn Günther später noch mit Campbells „Who goes there“ von einer Metapher auf den Glauben und das Sinnbild des Teufels in Form eines Außerirdischen argumentiert, dann fällt er sich selbst in den Rücken. Ohne Frage haben die Amerikaner die Science Fiction besonders in den vierziger Jahren im Vergleich zum deutschen technokratischen utopischen Roman und H.G. Wells eher sozialen Allegorien auf eine neue, phantasievolle, das Universum umfassende Stufe gehoben. Sie sind aber einem gänzlich anderen, eben für die USA stehenden Genre nicht wirklich entkommen: dem Western. Karl May hat sich bei seinen Romanen von Gerstäcker zum Einen, von den amerikanischen Pulpgeschichten zum Anderen beeinflussen lassen. Aber der klassische Western ist das Genre, das von den Amerikanern in Form unter anderem von James Fenimore Cooper mit erfunden und durch die Frontier Mentalität des Landes weiter entwickelt worden ist. Weder Günther folgt diesem Pfad noch widerspricht der ansonsten einseitig streitbare Rottensteiner ihm in diese Richtung. Viel mehr versucht Rottensteiner mit den Verbindungen zu Spengler nicht nur Günthers „Metaphysik“ Thesen zu unterminieren, sondern sie wieder zu Europäisieren.

Das Gotthard Günthers über das Ziel hinausschießen kann, zeigt alleine das Nachwort zu „der unglaubliche Planet“, während seine treffenden Anmerkungen zu „Wing 4“ bis auf das Verkennen der satirischen Grundelemente und zu „Ich, der Robot“ die Weg zum Kunstwesen, zum Konkurrenten des Menschen und damit auch der Kybernetik weisen, auf die Günther wie schon angesprochen in seinen späteren Arbeiten ausführlicher eingegangen ist. Dazwischen stehen seine Anmerkungen zu der von ihm überdurchschnittlich gut zusammengestellten Anthologie „Überwindung von Raum und Zeit“, in welcher er auf die einzelnen Texte eingehend weniger seiner Theorien durchsetzen als die Bandbreite der amerikanischen Science Fiction  relativ klar verständlich und einzelne Tendenzen gegeneinander abwägend aufzeigen will. Vielleicht ist deswegen das Nachwort zur Anthologie inhaltlich das Schwächste und inhaltlich das Zugänglichste zugleich.

Natürlich sind die beiden konträren Nachworte zu „Wing 4“ und „Ich, der Robot“ am ehesten als ein Text zu begreifen, denn trotz unterschiedlicher Ansätze behandeln die Romane ja im Grunde das gleiche Grundthema. Der erste Band stammte aber aus der Feder von John W. Campbell und behandelt mit der Idee einer Space Opera natürlich wieder die oben erwähnte Frontier Mentalität der Amerikaner. Ohne Frage kann und muss man Günther wohl gemeinte Überinterpretation vorwerfen, denn wenn das Raumschiff in einen „blauen“ Teil des Universums eindringt, dann hat der Philosoph entsprechende Deutungsmöglichkeiten parat, auch wenn Campbell sicherlich nicht in die Richtung gezielt hat. Günther denkt an ein lebendiges Universum, eine zweite Schöpfung, die von einem Übergott erschaffen worden ist wie Gott in sechs Tagen die Erde erschuf. Und sein liebstes Kind dringt in dieses Universum ein. Betrachtet der Leser einige Facetten der „Perry Rhodan“ Serie aus dem gleichen, religiösen Blickwinkel, dann ließe sich mit den Superintelligenzen als Alternative zum eigentlichen Gott übrigens eine vergleichbare Deutung aufbauen. In seinem Essay geht Günther auch auf einige andere inzwischen klassische, damals auch revolutionäre Werke der Science Fiction ein und unterzieht sie den letzten Fragen, welche die Metaphysik über die messbaren Grundlagen hinaus an Thesen stellt. Seine Ergebnisse sind insbesondere bei „Nightfall“ relativ zugänglich, so dass von einer Überinterpretation ohne Frage gesprochen, von einer zu offensichtlichen Anlehnung an Spengler oder vor allem einer Erdrückung des Lesers nicht gesprochen werden kann.

Noch interessanter wird die Auseinandersetzung mit dem Ebenbild des Menschen sowohl in „Wing 4“ als auch „Ich, der Robot“. Beide Werke setzen sich ja mit unterschiedlichen Zielrichtungen und Implikationen mit dem Menschenbild und dem von ihm direkt in „Ich, der Roboter“, indirekt durch die einen Menschen erdrückenden Fremden in „Wing 4“ erschaffenen dienenden Ebenbild auseinander. Wie schwierig es ist, für den „Roboter“ Logikketten zu formulieren und die Assoziation konsequent zu halten, zeigt Günther an einigen Beispielen im entsprechenden Abschnitt, während er bei Williamson auch auf die unterschiedlichen Staatsformen inklusiv der Tyrannei des Menschen unter sich eingeht. Das interessante an allen vier Essays ist, dass Günther keine Antworten anbietet, sondern Wege aufzeigt, eigene Gedankenketten zu entwickeln und vor allem seine Thesen/ Ideen in spätere Science Fiction Werke sowie vor allem den technologischen Fortschritt impliziert eingeflossen sind. Aus der neutralen Position des Herausgebers, aber als Anhänger dieser Spielarten der Science Fiction entmystifiziert er Asimovs Roboter und macht sie wieder zu Dienern, die nicht an, sondern durch ihren Schöpfer scheitern müssen, während er allerdings bei Williamson die satirischen Seitenhiebe auf den amerikanischen „Way of Live“ nicht erkennt, vielleicht auch nicht erkennen will.

Die Neuveröffentlichung der fünf Texte durch Dieter von Reeken in dieser sorgfältig illustrierten Taschenbuchausgabe lädt ein, weniger über Franz Rottensteiners zu kritisches und zu wenig detailliertes Nachwort, sondern über den Günthers Essays schwebenden, heute teilweise auch relativierten Zeitgeist der fünfziger Jahre den leider gescheiterten Versuch zu verfolgen, Science Fiction auf einem gehobenen Niveau in Deutschland zu etablieren. Die verkauften Auflagen werden von Franz Rottensteiner aufgeführt, aber der Einfluss dieser vier Bände scheint deutlich weiter zu reichen als es sich der Verlag und der Herausgeber  jemals vorgestellt hat. Und dazu gehören auch diese niveauvollen, herausfordernden, teilweise vielleicht auch sich in die Ecke argumentierenden, aber einen Nebenzweig der metapysikalischen Philosophie erhellenden Nachworte. Auf jeden Fall kann der Leser nach der Lektüre dieses Bändchens die im Titel gestellte Frage nach der Science Fiction als neue Metaphysik mit einem klaren Nein beantworten, da Günther sie eher als Mittel zum Zweck denn als neue philosophische Strömung, aber auf jeden Fall als Ausdruck der amerikanischen literarischen Befreiungsbewegung von europäischen Wurzeln sieht. In diesem Punkt liegt aber Dr. Gotthard Günther falsch, wie die Wurzeln auch der PulpÄra sowie die nächsten Jahrzehnte beweisen sollten. Science Fiction ist eine globale, die jeweilige Kultur berücksichtigende, aber nach neuen Ufern strebende den Zeitgeist kritische untersuchende literarische Bewegung, deren Einfluss vor allem in die wissenschaftlichen und technischen Bereiche nachhaltiger ist in die Philosophie.   

Einleitungen und Kommentare zu den vier »Rauchs Weltraum-Büchern« (1951/52)
Klappenbroschur, 137 Seiten, 18 Abbildungen, Nachwort von Dr. Franz Rottensteiner
 
Verlag Dieter von Reeken — ISBN 978-3-940679-93-2