Charlie Chan: Haus ohne Schlüssel

Earl Biggers

 Wer sich heute objektiv mit Charlie Chan und seinen Kriminalfällen beschäftigt, wird in erster Linie staunend den gewaltigen Unterschied zwischen den diversen Verfilmungen – dabei spielt es keine Rolle, wer den chinesischen Detektiv in seinem markanten weißen Anzug spielt – und den insgesamt nur sechs Romanen, die der kurz vor seinem fünfzigsten Geburtstag verstorbene Earl Derr Bigger verfasst hat, bemerken.

Es empfiehlt sich vor der Lektüre der ersten Charlie Chan Romane, etwas von Biggers Leben zu erfahren. Schon 1917 schrieb er als Romandebüt den unzählige Male verfilmten Band „Seven Keys to Baldplate“. Auch wenn das Buch heute vergessen erscheint, erinnern Adaptionen wie Pete Walkers „House of the long Shadows“ an die kurzweilig zu lesende Geschichte. In der Folge arbeitete Bigger nicht nur an einigen weiteren Romanen, sondern zahlreichen Theaterstücken, bevor er sich kurzzeitig nach Hawaii zur Erholung zurückzog. 

Hier stieß er auf die reale Geschichte eines Angestellten der örtlichen Polizei mit chinesischen Wurzeln und entwickelte noch sehr eng an den Sherlock Holmes Geschichten mit einem starken Bezug zur Vergangenheit des Opfers den chinesischen Detektiv Charlie Chan, der zur Überraschung der Leser in vielen der sechs Arbeiten stetig als Katalysator arbeitet, aber selten das dominierende Element ist. Im vorliegenden ersten Buch muss er nicht nur dem langen Schatten seines Vorgesetzten und dessen nicht immer nachvollziehbarer Denkweise folgen, die wichtigsten ermittlungstaktischen Aktionen teilt er sich im wahrsten Sinne des Wortes mit einem Amateur, der nichts lieber machen würde, als wieder in seinem heimischen Boston an seinem Schreibtisch zu sitzen und festverzinsliche Anleihen für seine Kunden aufzulegen. Bigger geht in seinem nicht unbedingt umfangreichen, aber atmosphärisch sehr beeindruckenden Plot geschickt vor. Aus heutiger Sicht wirkt die zugrundeliegende Liebesgeschichte mit dem theatralischen Ende und dem jungen John Quincy Winterslip, der auf Hawaii das Leben kennenlernt, antiquiert und teilweise zieht sie sich zur sehr in die Länge. Natürlich könnte sie als Alibi dazu dienen, wie sehr Hawaii die Menschen verzaubern könnte, denn von Beginn an sieht sich John Quincy eher als Opfer der Familie, die durch ihn die immer noch attraktive Tanta Minerva aus Hawaii abholen lassen möchte, die anfänglich bei Verwandten inzwischen keine Energie oder Muße mehr hat, die Insel zu verlassen. Quincy sieht sich dabei eher als Pragmatiker.

Kaum auf der Insel angekommen, wird sein Onkel Dan Winterslip ermordet. Es gibt nur einen vagen Hinweis auf einen Mann mit einer Uhr am Handgelenk, deren Ziffer zwei nicht mehr stark leuchtet. Die Polizei auf Hawaii mit dem dicklichen unscheinbaren Charlie Chan nimmt die Ermittlungen auf. John Quincy kann aber nicht stillsitzen und macht sich ebenfalls auf die Suche nicht nur nach dem potentiellen Mörder, sondern vor allem nach dem Motiv. Dabei ist er anscheinend schon in San Francisco involviert worden, als er aufgrund eines Telegramms des kurze Zeit später ermordeten Dan Winterslip nach einer alten Holzkiste mit Initialen sucht, die fast zeitgleich aus dem Haus Dan Winterslips gestohlen worden ist. Interessant erscheint, dass auch das Opfer in erster Linie die Kiste in den Tiefen des Pazifiks versenkt sehen wollte. 

Der erste Charlie Chan Roman ist 1925 veröffentlicht worden. Es ist nicht nur die erste literarische Arbeit mit einem Detektiv chinesischer Herkunft, der sich in seiner Kultur bewegt und seine Stärke aus den inzwischen markant gewordenen Sinnsprüchen eines Konfuzius zieht, sondern Bigger arbeitet durch seinen Aufenthalt auf der Insel selbst den Wandel des Paradieses immer in einem engen Zusammenhang mit dem Kriminalfall heraus. Obwohl Teile der Geschichte in den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts lange vor dem von den amerikanischen Zuckerbaronen inszenierten Aufstand gegen die örtliche Monarchie spielen, steht im Mittelpunkt eine Insel, die durch die stetige Ankunft des Militärs und dem Ausbau des Hafens, die nicht nur aus Europa kommenden arroganten wie reichen Einwanderer oder den Verlust der eigenen Identität geprägt worden. Auf Hawaii leben bedeutet nicht gleichzeitig erfolgreich sein oder reich werden. Es ist keine unabsichtliche Ironie, das der einzige wirklich auf der Insel lebende vermögende Charakter sein Geld gestohlen hat. Mit John Quincy als verliebten Ermittler wider Willen verfügt Bigger als Brücke zum Leser über eine Figur, welche dem Leser das auf der einen Seite ohne Frage wunderschöne, verführerische touristische Hawaii nahe bringt, während er auf der anderen Seite als simplifizierter Resonanzkörper den rassistischen tatsächlichen Unterströmungen dient. Die erste Begegnung mit dem deutlich übergewichtigen und nicht so sehr dem Filmhelden ähnelnden Chan besteht aus einer Mischung von Arroganz John Quincys dem anscheinend devoten Mann und stetig wachsendem Respekt seinen kriminalistischen Fähigkeiten beginnend mit dessen ersten Fragen genau in dem Stil, der wiederum die Filme auszeichnet.  Bigger ist sich der konträren Widersprüche bewusst und setzt sie im Laufe der Handlung auch effektiv ein. Sie dienen dazu, die Komplexität des Falls zu erweitern, wobei in diesem Punkt der erste Charlie Chan Roman kritisch als reiner Krimi gesehen auch ein wenig enttäuscht. Es werden sehr viele falsche Spuren gelegt, die sich auch in Hinblick auf ihre Vergangenheit als wichtig, aber nur bedingt relevant erweisen. Wer eine Mischung aus „Die Schatzinsel“ und „Eine Studie in Scharlachrot“ erwartet, wird hinsichtlich des Täters und seine Motivs enttäuscht. Im Verlaufe der Untersuchungen wird beginnend mit dem angesprochenen Diebstahl bis zu einer netten Erpressung immer wieder auf die Vergangenheit, die achtziger Jahre des 20. Jahrhunderts mit seinen Piraten hingewiesen. Tote sind nicht tot und Erkundigungen führen alle nach Hawaii, ohne dass diese Ideen effektiv im Plot eingesetzt werden. Sie halten nicht nur vor allem Quincy und eher im Hintergrund agierend Charlie Chan in Atem, sie ermöglichen es Bigger, noch ausführlicher sein Szenario zu entwickeln, bevor sich die Ereignisse durch einen „Zufall“ überschneiden und der Täter sich abschließend fast selbst stellt, während die Polizei in einem klassischen Agatha Christie Szenario fast alle in Frage kommenden Protagonisten in einem Raum bzw. auf einem Schiff versammelt hat, um die einzelnen gefundenen Puzzlestücke miteinander zu verbinden. Diese klassische, vielleicht sogar ein wenig stereotype und den Mustern des viktorianischen Kriminalromans eher folgende Aufbau der Handlung wird durch Charlie Chans dreidimensionale, sich stetig in diesem ersten Band weiter entwickelnde Persönlichkeit. Der Leser lernt zwar den ältesten Sohn von bislang neun Kindern Charlie Chans neun Kindern kennen, er hat aber keine Ähnlichkeit mit der späteren Comic Relief Filmfigur. Viel mehr dient dieser Exkurs zu zeigen, das der modern denkende Detektiv in seinem tiefsten Inneren der traditionellen chinesischen Kultur weiterhin unterworfen ist und dadurch noch mehr wie ein äußerer Anachronismus auf dem stetig expandieren Hawaii wirkt, das im Gegensatz zum am Ende natürlich relativ triumphierenden Charlie Chan seine Seele dabei verkauft.

Ohne den Fokus auf den nicht immer präsenten, aber irgendwie auch allgegenwärtigen sich noch als Figur entwickelnden Charlie Chan zu legen, präsentiert Bigger ausgehend von dem Mord ein sozial sehr komplexes Szenario mit ausgefeilten teilweise auch hinsichtlich der Herkunft der Welt gewandten Winterslips aus Boston kommend satirisch angelegten Hinweisen, das dank der so zeitlosen Atmosphäre eines in dieser Hinsicht auf Augenhöhe der Handlungszeit beschriebenen exotisch verführerischen und doch auch gefährlichen Hawaiis auch heute noch fast einhundert Jahre nach seine Entstehung unterhält. Der Titel ist eher symbolisch zu betrachten, denn die Zeit des grenzenlosen Vertrauens in die Ehrlichkeit des Nachbars ist selbst auf Hawaii der zwanziger Jahre längst vorbei. 

 

Charlie Chans erster Fall

320 Seiten , Originaltitel: The house without a key
Erscheinungstag: 31.10.2012
ISBN 978-3-8321-8694-4 Dumont Verlag

Übersetzung: Volker Neuhaus i

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