Auf phantastischen Pfaden

Thomas Le Blanc

In seinem Vorwort spricht der Herausgeber Thomas Le Blanc davon, dass ein in der Gegenwart lebender Karl May wahrscheinlich Fantasy Schriftsteller geworden wäre, um seine abenteuerlichen Geschichten zu erzählen. Da die Karl May Romane vor allem in Form respektvoller Neuausgabe immer noch sehr populär ist, kann diese These auch angezweifelt werden. Aber basierend auf dieser Prämisse hat der Karl May Verlag mit „Karl Mays Magischer Orient“ eine neue Reihe ins Leben gerufen, zu der auch die von Thomas Le Blance zusammengestellt Anthologie gehört. Allerdings ist für diesen Band mit mehr als zwanzig Geschichten der Titel falsch, denn nur die erste Hälfte der zusammengestellten Storys beschäftigt sich mit dem Orient, im zweiten Abschnitt des Buches gehen die Autoren auf Karl Mays im Wilden Westen spielenden Abenteuer ein.

Das Spektrum der Geschichten ist breit. Thomas Le Blanc bietet dem Leser eine zeitlose Parabel an, in welcher die Orks ohne Probleme durch jeden Aggressor oder Potentaten der Gegenwart ersetzt werden kann. Auf der anderen Seite stehen Anekdoten wie Jörg Weigangs „Halef in Nöten“, in denen das Übernatürliche impliziert und dank einem brillanten Einfall eine Lösung gefunden wird.

 Es gehört sich im Grunde für eine derartige Anthologie, dass Karl Mays erstes offizielles Buch – die Kolportageromane außen vor gelassen – „Durch die Wüste“ im Mittelpunkt verschiedener Storys steht. Sowohl Maike Brauns „Die Weisheit des Hadschi Halef Omars“ als auch Hans- Dieter Furrers kurzweilig zu lesende Story „Fata Morgana“ nehmen den Ritt durch das Schott, den Salzsumpf zum Anlass, um ihre ergänzten Versionen zu erzählen. Während Maike Braun sehr unbestimmt bleibt und diese Visionen durchaus auch ein Teil des originalen Karl Mays gewesen sein könnten, präsentiert Furrer einen kurzen Abstecher in die Zukunft. Aus diesen sich mit „Durch die Wüste“ beschäftigenden Texten der Sammlung ragt „Das Vermächtnis des Kara“ von Jacqueline Montemurri in anderer Hinsicht heraus. Die beschreibt in einem nachdenklich stimmenden Rahmen die erste Begegnung zwischen Karl alias Kara Ben Nemsi und seinem Hadschi Halef Omar. Es ist der Rahmen mit einem verzweifelten an den Realitäten zweifelnden Karl während der Fahrt den Nil entlang, der anrührt. 

 Das Magie nicht immer Magie sein muss, zeigt Monika Niehaus in „Das Auge des Zyklopen“. Empfangen von einer wunderschönen Frau mit zwei Hyänen soll Kara Ben Mesi ihrem Vater gegen einen Fluch eines angeblichen Heilers helfen. Monika Niehaus interpretiert nicht nur Karl Mays so einzigartigen Stil, sie folgt dessen inhaltlichen Beispielen, in denen Kara Ben Nemsis Verstand den Aberglauben der Einheimischen besiegt und ihr Ausnützen verhindert. Die Geschichte ist sehr unterhaltsam geschrieben und funktioniert vor allem auch wegen der Balance zwischen Aberglauben/ „Magie“ und den anschließenden rationalen Erklärungen so gut.

Es ist aber nicht die einzige Geschichte, in welcher sich Kara Ben Nemsi über Karl Mays Niveau hinaus verliebt. Oder handelt es sich nur um eine weitere Illusion? Thomas Le Blanc lässt in seinem zweiten Beitrag „Alleine mit Quendressa“ diese Frage offen. Stimmungsvoll geschrieben steht die Geschichte irgendwo zwischen „Die Weisheit des Hadschi Halef Omars“ und „Das Auge des Zyklopen“. 

Einzelne Episoden – wieder greift ein Autor auf den ersten Band „Durch die Wüste“ zurück -  verfremdend ist ein Stilmittel, auf das zum Beispiel Friedhelm Schneidewind in „Senitzas wahre Befreiung“ zurückgreift. Kara Ben Nemsi muss gegen Tentakeldämonen kämpfen, als er die Frau im Haus des arabischen Gastgebers heilt. Dabei wird ihm eine weitere Begegnung mit dem Übernatürlichen prophezeit. Auch wenn Friedhelm Schneidewind den Stil Karl Mays gut imitiert, fehlt dieser Story die Balance. Die Idee, Kara Ben Nemsi vielleicht sogar gegen Inkarnationen von Lovecrafts Alten antreten zu lassen, wird zu kompakt, im Grunde zu pragmatisch distanziert ohne ein Gespür für die entsprechende Atmosphäre wahrscheinlich durch die Wahl einer Tagebuchaufzeichnung, präsentiert.  Kai Riedemann lässt die Helden in „Durch die Wüste und Hades“ sogar den Styx überqueren. Sie reiten Knochenrappen. Kara Ben Nemsi muss sich gegen die Höllenkreaturen durchsetzen, wobei diese Geschichte mehr Raum benötigt als wahrscheinlich der Platz der Anthologie zugelassen hat. Das Potential für eine außerordentlich phantastische Reise ist vorhanden.    

 Alexander Röder schreibt im Karl May Verlag neue Romane, basierend auf den Orienterzählungen des Sachsen. Er präsentiert mit Die Zedern des Libanon“ die längste Geschichte dieser Sammlung. Alleine den orientalischen Teil betrachtet ist es auch die Story, welche die Vorlagen ernst nimmt und um magische Momente gezielt und trotzdem das Original immer respektierend positiv gesprochen nur eigenständig erweitert, aber nicht verfremdet. Kara Ben Nemsi und sein treuer Diener Half verfolgen einen Banditen und seinen Begleiter nach einem wilden Feuergefecht in eine enge Schlucht. Dort befindet sich eine sehr alte groß gewachsene Zeder, welche in eine unterirdische Höhle führt, wo die beiden Helden nicht nur den Banditen, sondern anscheinend einem Dschinn begegnen. Alexander Röder baut die Spannung nach der klassischen Vorlage konsequent auf. Der quengelnde Diener, der so pragmatische Kara Ben Nemsi, keine Spur vom Übernatürlichen. Die Überraschung während des Showdowns ist gelungen, auch wenn Kara Ben Nemsi selbst am Ende immer noch Zweifel plagen. 

 Wie der Orientteil im Grunde nur mit der Eröffnungsszene aus „Durch die Wüste“ beginnen kann, gibt es in „Winnetou 1“ nur eine Sequenz, welche die zweite Hälfte dieser Anthologie einleiten kann. Das Wettschwimmen zu einer im Strom gelegenen Insel, auf welcher eine Zeder steht. Kirsten Brox macht aus diesem Wettspiel in „Zederzauber“ etwas besonders. Ein Magierschüler übernimmt quasi Old Shatterhands Körper und muss versuchen, das Leben der Kameraden und sein Eigenes zu retten. Solide geschrieben weckt die Kurzgeschichte eher die Erinnerungen, als das sie aus dieser Szene wirklich etwas Neues, etwas nachhaltig Originelles machen kann.  

Am Schönsten sind die Geschichten in dieser Anthologie, die auch ohne Karl Mays Protagonisten funktionieren könnten. Ihr Erscheinen gibt den Texten eine besondere Note. Karl- Ulrich Burgdorf liefert mit „Der Frevel des Waka- teh“ eine entsprechende Story ab. Von einer Mission aus den hohen Schnee bedeckten Bergen kommend finden Winnetou und Old Shatterhand eine Leiche ohne Gesicht. Anscheinend ist er nicht skalpiert worden. Die Todesursache ist nicht klar. Auf dem Weg zu einem befreundeten Stamm mit einem kundigen, aber nicht weisen Medizinmann begegnen ihnen neben dem seltsam umschlagenden Wetter einige weitere Phänomene anscheinend übernatürlichen Ursprungs. Im Rahmen dieses spannend, vor allem auch atmosphärisch unheimlich entwickelten Plots nutzt Burgdorf auf der einen Seite die Bekanntheit der Figuren aus, während er auf der anderen Seite vor allem im Vergleich zu anderen Texten wie Paul Felbers „Windigo“ die übernatürlichen Aspekte effektiv wie durchdacht einsetzt. Die Moral am Ende des Erlebten entspricht wieder klassischem Karl May. Zusammen mit Alexander Roeders Text einer der Höhepunkte dieser Anthologie.  Holger Marks fügt mit „Begegnung mit einem Scout“ eine weitere sehr unterhaltsame Story hinzu. Es geht um die fast mystische Befreiung von über zwanzig Soldaten der Konförderierten durch einen alten Scout unter mysteriösen Umständen mit einem Unsichtbarkeitsnebel und schließlich dem fast wundersamen Auftauchen von tierischen Rettern. Die Geschichte ist spannend geschrieben und profitiert durch die Nutzung von „Old Death“  zusätzlich, da sich der Leser nicht sicher sein kann, ob diese spektakuläre Aktion auch wirklich gelingen kann. Bei Winnetou und Old Shatterhand hätten da keine Zweifel bestanden. „Old Onehand“ von Anja Stürzer schließt diesen Reigen von herausragenden Texten in einer durchgehend guten Anthologie. Sie benutzt Karl May in Form eines Besuchers in seiner Villa in Radebeul, um eine Geschichte zu erzählen, die unter anderem auch Martin Baumann aus einem der frühen “Winnetou“ Abenteuer nutzt. Es ist eine komplizierte Geschichte nicht nur um gegenseitige Rache, sondern vor allem die Idee, das sich Menschen in Bären verwandeln können. Anja Stürzer entwickelt beginnend für „Old Onehand“ einen interessanten Plot, welcher den Leser wie den Ich- Erzähler zwischen allen Fronten zurücklässt.     

In diesen Reigen von Storys, die auch ohne die Hauptfiguren Karl Mays funktionieren, reiht sich auch Kai Fockes „Wette unter Gentlemen“ ein. Ein eher finsterer Geselle soll einen wettlustigen britischen Lord, der ihm im Grunde in allen wettkampftechnischen Belangen überlegen ist, nicht nur durch das Land, sondern zu möglichst vielen Abenteuern führen. Das Ende erscheint ein wenig konstruiert und lässt zu viele Fragen offen, aber Kai Focke baut zumindest eine solide Atmosphäre der Frontier auf und unterhält sehr kurzweilig.

 Tanja Kinkel füllt mit ihrer Story „Der Lehrmeister“ Lücken in Karl Mays Werk und beschreibt die erste Begegnung zwischen dem deutschen Lehrer und seinem zukünftigen Schüler Winnetou als kleiner Junge. Die übernatürlichen Elemente sind ambivalent in die Handlung eingebunden. Tanja Kinkel beschreibt einen Mann, der aufgrund seiner Feigheit während der deutschen Revolutionen des Jahres 1848 von innen heraus zernagt wird, bis er eine neue Aufgabe findet. Es ist positiv wie passend eine im Tenor für Karl May so typische Geschichte, dessen „Helden“ aus sich selbst heraus über sich hinaus wachsen und die Vergangenheit als mahnendes Beispiel, aber nicht mehr als Ballast ihr Leben lang tragen müssen.    

 In einigen Texten taucht Karl May oder zumindest eine erkennbare Inkarnation des Sachsen auf. Dabei sucht Angars Schwarzkopf mit seiner melancholischen Geschichte nach Mays Inspirationen,  während sich Jacqueline Montemurri in „Durch das wilde Ernstthal“ mit der Verschmelzung von Wirklichkeit – Karl May wird von der örtlichen Polizei in seinem Höhlenversteck aufgegriffen – und Fiktion – er träumt sich in seine eigenen Abenteuer – ein wenig ironisierend mit Karl Mays literarischer Vorgehensweise auseinandersetzt. Kai Riedemann geht in „Unter der Teufelskanzel“ anfänglich einen vergleichbaren Weg, bis er abschließend in einer sehr gut beschriebenen Szene den ultimativen Feind entlarvt. Kai Riedemanns Story hätte genauso an der Stelle von Ansgar Schwarzkopfs Geschichte als Schlusswort dieser Anthologie dienen können.

 Nicht nur in „Old Shatterhands“ Bereich sind einige Geschichten mit drei Textseiten sehr kurz. Während sich die magischen Momente der Orient Geschichtchen auf Parabeln und Anekdoten konzentrieren, wirken die Western Abenteuer entweder die Fragmente oder einzelne Kapitel. Paul Felber verlegt Karl Mays Figuren in Algernon Blockwoods „The Wendigo“ Geschichte mit einem zynischen Ende. Atmosphärisch dicht baut diese kurze Episode aber zu wenig innere Spannung auf, während zum Beispiel  Rainer Schorms „Old Undeath“ mit dem alten Westmann, der nicht an seinen eigenen Tod nicht glaubt, zwar eine Westernatmosphäre aufbaut, den echten Bogenschlag zu Karl May nicht finden kann. Bei den ganz kurzen Texten geht Tim Piepenburg mit „Der Old Shatterhard Security Service“ dann dank des ironischen Untertons ganz in Vollen und entlarvt das Hilfsmodell vor allem des Deutschen Old Shatterhands als nicht überlebensfähig. Andere Methoden müssen her.  „Das Geisterpferd“ von Karl Weigand könnte überall spielen. Es ist diese typische Legende vom tierischen Retter in der Not, wobei Winnetou, Old Shatterhand oder Sam Hawkins eher funktional in diese kurze, aber von der Stimmung her überzeugende Story eingebaut worden sind.  

 Zusammengefasst sind nicht alle dieser 23 Geschichten wirklich „magisch“ im Sinne einer übernatürlichen Definition zu nennen. Nicht selten verzichten die Autoren auch auf übernatürliche Elemente und lassen Realität/ Fiktion miteinander verschmelzen, ohne weitergehende Erklärungen zu geben. Wenn diese Grenzen aber vor allem in den längeren Geschichten fallen und die Autoren ausgehend von den markanten Protagonisten eigene und vor allem eigenständige Storys entwickeln, dann zeigt sich das auch gegenwärtig noch vorhandene Potential Karl Mays. Beginnend mit Elif Siebenpfeiffers so passender wie schöner Titelbildillustration hat Thomas Le Blanc eine lesenswerte, eine phantasiereiche Anthologie auch mit Autoren zusammengestellt, von denen insbesondere Science Fiction Leser viel zu lange viel zu wenig gehört haben. Ein Einstieg in Karl Mays magische Welten – die Anthologie beschränkt sich ja nicht nur auf den Orient – ein idealer Türöffnern.  

Seiten:

256
Format:13,5 x 21,5 cm
Umschlag:Klappenbroschur
Titelbild:Elif Siebenpfeiffer
Erscheinungsjahr:2016
Verlag:Karl-May-Verlag
Bestell-Nr:02599
ISBN:978-3-7802-2599-3
Kategorie: