Zeitfuge

Michael J. Sullivan

Nicht nur in einem Nachwort, sondern auch einer langen Danksagung geht der Autor Michael Sullivan auf den Entstehungsprozess basierend auf einer nicht genutzten Kurzgeschichte seines Science Fiction Romans „Zeitfuge“ ein. Michael Sullivan gibt aber einen sehr viel lesenswerteren Einblick in das Verlagswesen in den USA, in dem es inzwischen für einen schon publizierten Autoren vor allem von Fantasy Serien lukrativer ist, ein Buch selbst zu publizieren und die Rahmenbedingungen mittels Crowdfunding zu schaffen. 

Der Roman selbst ist ohne Frage ein ambitioniertes, aber auch den ganzen Plot betrachtend ambivalentes Lesevergnügen,  dessen Schwächen Michael Sullivan mit teilweise irritierenden Querverweisen zu überdecken sucht.  So verweist er mehrmals auf die Fernsehserie „Lost“, in deren Verlauf die Drehbuchautoren mehr und mehr den roten Faden verlassen und alles eingebaut haben, was ihnen spontan in den Sinn gekommen ist. Nur der Knopf muss regelmäßig gedrückt werden.  Diese Art der sinnbefreienden Beschäftigung gehen Sullivans Charaktere nicht nach, aber sie leiden in der zweiten Hälfte unter dem inhaltlichen Kompromiss, den der Autor insbesondere im Vergleich zu einigen Werken eingegangen ist, die ihn anscheinend inspiriert haben. Auch wenn der Roman an keiner Stelle expliziert genannt worden ist, erinnert einiges an „Zeitfuge“ weniger an die klassischen Zeitreisegeschichten, sondern vor allem an Robert A. Heinleins „The Door into Summer“, in  dem auch ein frustrierter Mittelständler allerdings mittels der Gefriermethode in die Zukunft gekommen ist. Sullivans Charakter Ellis Rogers baut seine eigene Zeitmaschine quasi in der Garage. Sowohl Heinleins als auch Michael Sullivans Roman versuchen Aspekte von H.G. Wells sozialkritischem Werk in eigene Bahnen zu lenken. Sullivan wie Heinlein zitieren impliziert durchaus ausführlich aus den entsprechenden Vorlagen und versuchen, die Unterschiede zwischen den Arbeiten des britischen Autoren und ihren eigenen, durchaus sozialpolitischen Werken herauszuarbeiten.  Sullivan macht vielleicht den „Fehler“ aus der Vergangenheit mit dem müden, aber nicht lebensmüden Ellis Rogers zusammen ein wichtiges Stück gegenwärtiger Lebensart mit Gewalt und Verbrechen in eine idealisierte Zukunft zu transportieren und damit die minutiös gezeichnete und durchaus auch nachvollziehbare zukünftige Utopie zu schnell und zu einfach zu vergiften.  Ellis Peters musste einige Schicksalsschläge durchstehen. Sein Sohn hat sich vor einigen Jahren in seiner Werkstatt erhängt. Zu dem Selbstmord hat er eher unbewusst einiges zugesteuert. Mit seiner Frau hat er sich entfremdet und sein Arzt diagnostiziert eine tödliche Lungenkrankheit. Kurz vor seiner Abreise informiert er nur seinen Freund und übergibt ihm Kopien der Pläne, wobei der Soap Tradition folgend der Freund nach dem Tod seines Sohns eine Affäre mit seiner Frau hatte. Diese glaubt, dass er aufgrund aufgefundener Liebesbriefe geflohen ist, während Peters aus der Schatulle vor allem Schmuck und Edelsteine als monetäres Fundament mit in die Zukunft nehmen wollte.

Natürlich geht bei der Zeitreise einiges schief. Er landet nicht 200 Jahre in der Zukunft, sondern 2000. Er findet sich in einer idyllischen, menschenleeren Gegend wieder. Bevor er sich in dieser Zukunft ohne Tod und damit auch ohne Krankheiten nachhaltig akklimatisieren kann, wird er in einen Mord verwickelt, den er zumindest teilweise dank seiner „Rückständigkeit“ und Erfahrung  mit zumindest literarischen Verbrechen aufklären kann.   Auf den ersten Blick wirkt dieser Einbruch von Gewalt und Brutalität in eine durchaus idealisierte und deswegen zumindest in der Theorie funktionierende Welt sehr befremdlich, aber es ist ein wichtiger Aspekt, der an einen anderen Science Fiction Streifen „Time Crimes“ erinnert. Es ist eine im Kern selbstbefruchtende Situation, denn wäre Rogers nicht in der Zukunft aufgetaucht,  dann hätte es wahrscheinlich wie ein Rattenschwanz folgend auch dieses Verbrechen nicht gegeben.   Der Handlungsverlauf ist auch die größte Schwäche des vorliegenden Romans. Während das Verbrechen vielleicht noch nachvollziehbar, die schnelle viel zu simple Aufklärung aber konstruiert erscheint, zerfällt der Plot auf den letzten knapp 200 Seiten – das entspricht fast der Hälfte des ganzen Buches – in klischeehafte gut/ böse Schemata, wobei der Autor ein breites Spektrum von einer perfektionierten, aber auch langweiligen und damit beeinflussbaren Landschaft bis zur Sexparadies eines im Grunde Primitiven spinnt.  Der Impuls muss in dieser Geschichte von „außen“ kommen, da sich der Autor in einer Hinsicht treu bleibt. Diese futuristische Welt ist perfekt und vor allem über einen langen Zeitraum für den Leser jederzeit nachvollziehbar auch perfektioniert worden. Alle Schwächen der Vergangenheit und damit der Gegenwart des Lesers entsprechend sind rational wie brachial entfernt worden. Die sozialen Beziehungen überarbeitet und vor allem alle Schwachpunkte wie Machtstreben und damit Gier, soziale Ungerechtigkeit oder politische Unterdrückung in Kombination mit der Herstellung von Waffen buchstäblich ausgerottet worden. Zumindest denken das lange Zeit Peters und der Leser. Sie ruhen aber nur unter einer sehr dünnen Oberfläche, wie die hinsichtlich seines Endes viel zu früh erkennbaren Handlungsverlauf zu überdeutlich macht.   

Es ist der Weg zu diesem Ende, der allerdings von teilweise sehr eindimensionalen und ausschließlich funktional gezeichneten Protagonisten begleitet sehr gut unterhält und sich von vielen Arbeiten des Genres unterscheidet. Während negative Utopien insbesondere in fernen Zukünften gang und gäbe sind, folgt Sullivan den Beispielen, die Autoren wie Wells und vor allem Heinlein in einigen ihrer Arbeiten entwickelt haben. Wells traute sich weniger in „Die Zeitmaschine“ als auch „Der Schläfer erwacht“ an umfangreiche gesellschaftliche Entwürfe heran und auch Heinlein hat in dem schon angesprochenen „Die Tür in den Sommer“ viel mit der Extrapolation gegenwärtiger, aus seiner konservativen Sicht einige Fundamente für diesen Roman gelegt. Ob diese Gesellschaft wirklich funktionieren kann, umschifft Sullivan sehr effektiv, in dem er die Weltbevölkerung drastisch reduziert und dabei klassische Unruhetreiber wie Not/ Elend eliminiert. Hinzu kommt, dass im Gegensatz zu Wells und Heinlein für alles Produktive eine „Deus Ex Machina“ Lösung gefunden worden ist. Bizarr erscheint das amerikanische Refugium, eine Art Museum darstellend, das plötzlich durch die Idee der Zeitreise nur in eine Richtung und nur einmalig eine besondere  Bedeutung erhält.  Dabei macht der Autor auch nicht vor der Veränderung zwischenmenschlicher „Beziehungen“ Halt, wobei diese Entwicklung teilweise von einem elementaren, aber zum Klischee des möglichen Schurken stilisierten Charakters immer wieder zynisch bis bösartig kommentiert wird, während der emotional angeschlagene Ellis damit sehr gut leben kann.  Auf der anderen Seite negiert Sullivan einige wichtige Probleme zu schnell. Das Dilemma um den Tod seines Sohnes wird relativiert und wirkt teilweise sehr rührselig. Die tödliche Lungenkrankheit kann natürlich in einer Zukunft ohne Tod sehr schnell geheilt werden.  Dadurch entweicht der Druck auf Ellis zu schnell und viele der Konfrontationen stehen in einem engen Zusammenhang mit seinem persönlichen Umfeld, was auf der einen Seite den Plot stärker fokussiert, auf der anderen Seite aber auch einige der verschlungenen Ansätze stark, wenn auch logisch in sich konstruiert erscheinen lässt.    Aber alleine die Ansätze heben „Zeitfuge“  aus der Masse heraus. Im Original heißt der Roman „Hollow World“, was hintersinnig auch auf eine der Schwächen dieser im Grunde künstlich entwickelten Gesellschaft und weniger Welt hindeuten könnte. Da aber im Herzen des Romans eine isolierte „Idee“ zusätzlich platziert worden ist, kann der Leser an den Nuancen beginnend im Titel erkennen, mit welcher positiven Sorgfalt der Autor vorgegangen ist, die sich leider inhaltlich nicht in allen Aspekten des Buches widerspiegelt, so dass „Zeitfuge“ eine intellektuell herausfordernde, aber nicht gänzlich befriedigende Lektüre darstellt. 

Originalausgabe erschienen 2014

„Hollow World“

deutsche Ausgabe erstmals 2015,

448 Seiten.ISBN 3-453-31678-9 Heyne Verlag

Übersetzung ins Deutsche von Oliver Plaschka.