Phantastische Miniaturen Band 5: Nanowelten

Thomas Le Blanc

Band fünf der phantastischen Miniaturen der phantastischen Bibliothek aus Wetzlar ist bislang das umfangreichste Werk. Thomas Le Blanc schreibt in seinem Vorwort auch sehr stolz, dass nicht nur die Anzahl der Geschichten, sondern vor allem auch die Bandbreite der Autoren mit vielen weiblichen Debütanten zeigt, dass seine Anthologiereihe Anklang findet und die Schriftsteller auch durch die lockere Vorgabe von Themen immer wieder zu kreativen Geistesblitzen herausfordert.

 Insgesamt sechsunddreißig Geschichten von neunundzwanzig Autoren hat Thomas Le Blanc in den „Nanowelten“ versammelt. Die Themenbereiche sind sehr breit.  Nicht selten werden die kleinsten Teilchen mit der Organisation eines Ameisenhaufens verglichen. Viele Autoren sehen den Blick in die kleinste Dimensionen als technologischen Ausgangspunkt einer neuen Entwicklung, während auf der anderen Seite einzelne Werke durchaus in den Bereich des Horrors gehen. Auch wenn Paul Felber seine notwendige Pointe in „Sand“ zu leicht erkennbar vorbereitet, ist es eine konsequente Idee, die weniger auf technokratischen Ansätzen, sondern den einfachen Gesetzen der Baudynamik basiert.

 Viele Autoren sehen aber weiterhin den technologischen Fortschritt im Mittelpunkt ihrer Miniaturen. In „Mirabellensommer“ von Kirsten Bors ist ein weiterer entwickelter Kindle in Form eines „Feelreaders“ die Grundidee, wobei die Pointe für den Leser erkennbar, aber inhaltlich nicht unbedingt nachvollziehbar ist. Viel effektiver und überdrehter ist dagegen Rainer Schorms Musikkanal der Zukunft. „Enzymatische Solidarität oder: DNA-Blues“ zeigt die Folgen bestimmter Musikrichtungen nicht auf den Körper, sondern in den Körpern der Produktjunkies, die alles unbedingt ausprobieren müssen, was neu auf den Markt kommt. „Prävention“ von Frank Weinreich könnte sich ohne Unterhaltungsmedien, aber mit dem Blick auf die komplizierten und kostenintensiven Behandlungen im Gesundheitswesen ebenfalls in dieser Reihe eingliedern. Die Grundidee, dass nur mit Nanobot Hilfe die Krankenkasse bereit sind, Leistungen zu erbringen, ist gut und wird auch interessant angesetzt. Ab der Mitte steuert der Texte zu geradlinig auf eine dunkle doppeldeutige Pointe zu, die konsequent ist,  aber wenig subtil inhaltlich vorbereitet worden ist.

  Thomas Le Blanc nutzt mit seinem „Blick auf den Hinterkopf“ eine Idee aus Galoyes verfilmten „Welt am Draht“ aus, um auch optisch wie Klaus Ulrich Burgdorfs „Ein Beitrag aus der Nanowelt“  seine Idee auszudrücken. Der Blick in andere, kleinere Welten bzw. die Sehnsucht, diese Mikroumgebungen zu verlassen drückt sich ebenfalls in einer ganzen Reihe weiterer Geschichten aus. Melancholisch geschrieben ist Iris Leonhards „Das Dorf im Schnee“, während Jacqueline Montemurns „Mein Universum“ in die gänzlich andere Richtung geht. Die absolute Miniaturisierung – selten hat eine der „Phantastischen Miniaturen“ Anthologien besser zum Thema gepasst – erschafft Kunstwelten, die in den beiden Geschichten trotzdem humanistisch und für den Leser aus seiner erhöhten, aber niemals erhabenen Perspektive nachvollziehbar sind.  Friedhelm Schneidewind führt die Idee der Mikroorganismen in Kombination mit literarischen Mythen in „Mini- Demokratie“ auf einen bizarren Höhepunkt. Allerdings findet der Autor nicht ein konsequentes Ende, sondern versucht nicht zielstrebig seine Ausgangsidee zu relativieren und nicht bis zum Ende konsequent zu extrapolieren.

  Hans- Dieter Furrers „Die Fliegerjacke“ ist kurzweilig, ein wenig melancholisch zu lesen, während Nina Eglis „Nach dem Ende“ gleichzeitig auch für eine andere Art von Evolution ein Anfang ist.  Das „Gegenbeispiel“ hat Christian Künne in „Humanforming“ parat. Der Mensch muss optimiert werden. Während in „Nach dem Ende“ der Weg Angst macht, ist bei Künne der Weg im Grunde schon das Ziel und das Ergebnis nebensächlich.

 Wie viele andere Miniaturen vereint solche Texte die Idee, dass die Evolution Geschöpfe und Schöpfer umfassen muss. Die Ausgangslagen sind unterschiedlich, die Wege in die Zukunft unkalkulierbar, aber Bewegung/ Veränderung scheint als einziges Element Sinn zu machen. Wenn alles zu spät ist, hilft nur als Fluchtinstinkt „Paranoia“, wie Monika Niehaus in ihrer kurzweilig zu lesenden, visuell ausgesprochen gut angelegten Geschichte demonstriert. Gegen jede Logik muss einfach mal gehandelt und weniger geschaut werden. Die Folgen bleiben hinter der Protagonistin und dem Leser zurück.

 Die Miniaturen sind natürlich derartig kompakt, dass es für den Autoren wie den Leser schwierig ist, über die eigentliche Grundidee und einer stringent angesteuerte Pointe hinaus zu schauen, aber in vielen der unterhaltsam originellen Texten steckt auch Potential für reguläre Kurzgeschichten oder gar Novellen. Den Reiz dieser Sammlungen macht aber wie bei den Titel gebenden Nanowelten die extreme Konzentrierung aus.

 Zu den humorvollen Texten gehört unter anderem Andre Lautenbachers „Disconight“.  Die Tatookunst hat eine neue Dimension erreicht. Nanobots können nicht nur Kunstwerke unter der Haut der Menschen erschaffen, sie werden zu modernen Botschaftern mit teilweise enttäuschenden Ergebnissen für die intellektuell eingeschränkten Menschen, die nur die neuen Technologien nutzen, aber nie über ihre Anwendung nachdenken oder gar „Gebrauchsanweisungen“ lesen.  „Gullivers Planet“ von Monika Niehaus ist einer der Kneipengeschichten, die sich aus allen literarischen Themen extrapolieren lässt. Dem Geschichtenerzähler am Rande der Galaxis wird der Leser mindestens in einer weiteren der „Phantastischen Miniaturen“ begegnen. Auch Alexander Röders „Lesefehler“ ist eine der humorvollen Anekdoten, die in erster Linie durch ihre aus dem Titel abzuleitende Pointe funktionieren. Aber mit subtilen Humor und einer gekonnten Überzeichnung des Protagonisten denkt der Leser solange nicht über die Grundidee nach, bis zu ihm förmlich mit dem letzten Wort um die literarischen Ohren geschlagen wird.

 Beide Seiten des technischen Fortschritts werden beleuchtet. „Pandoras Pandemie“ von Ansgar Schwarzkopf warnt eindringlich mit dem Ursymbol vor grenzenloser Forschung, wobei er sich stilistisch zu sehr konzentriert und dabei einen stringenten Plot vernachlässigt. Bei anderen Miniaturen ist es das simple Aufeinandertreffen von verschiedenen Kosmen, wobei meistens die Folgen für die Nanowelten offensichtlich sind. Diese Storys sollten in erster Linie als eine Art bunter stilistischer Bilderreigen angesehen werden, die Konträres auf zwei Seiten unter einen Hut bringen.

 Jörg Weigand und Karla Weigand präsentieren in ihren ohne Frage thematisch so unterschiedlichen, aber hinsichtlich der satirisch bizarren Konzeption vergleichbaren Texten „Das Nanobot- Experiment“ und „Ein Fall von Mäusephobie“ im Grunde absurde Grundkonzepte. Die Scharfmachung der Soldaten durch Nanobots im Tabak bzw. im Schnupfler bzw. die Gegenwehr der Chinesen aus dem Nichts heraus gegen die tapferen Erfinder im alten Europa sind gut zu lesen. Beide Texte steuern nicht ausschließlich auf die Pointen zu, sondern nehmen sich ein wenig Zeit, bestimmte politisch soziale Exzesse satirisch übertreibend aufzuzeigen. 

 Nicht alle Geschichten funktionieren nachhaltig gut. Das liegt manchmal an der zu überzogen konstruierten und vor allem nicht sonderlich originellen Pointe wie bei „Schöne neue Heimat“ von Gudrun Reinboth oder Merlin Thomas „Auf der Spitze der Nadel“, die ideentechnisch überzeugt, aber hinsichtlich des Hintergrunds mit den „Wunderheilungen“ konstruiert erscheint. Hier wäre es sinnvoller gewesen, den Plot auszudehnen und dem Täter ein nachhaltig überzeugendes Motiv zuzugestehen als einen Brückenschlag zu veranstalten, der nicht mit den grundlegenden Lehren übereinstimmt. 

 Die letzte Story der Sammlung „Göttliche Nanosteuerung“ von Michael Wink ist einer der Texte, dessen Pointe viel zu früh zu erkennen ist. Die griechische Götterwelt möchte mit Hilfe der Nanoroboter wieder unterschiedliches „Leben“ unter die Menschen bringen. Es ist klar, dass eine göttliche Manipulation mit der Tastatur eines Smartphones nicht lange funktionieren kann. Die erste Hälfte ist unterhaltsam mit einigen Anspielungen auf die europäische Hilfspolitik geschrieben worden, während das Ende wie eingangs erwähnt zu vorhersehbar und leider zu klischeehaft daher kommt.

 Wie Thomas Le Blanc in seinem ebenfalls sehr kurzem Vorwort schon angesprochen hat, bieten die insgesamt sechsunddreißig Geschichten inhaltlich ein sehr breites Spektrum. Nicht jede Story kann einen neuen Themenbogen anreißen. Manchmal überlappen sich die Texte vor allem in struktureller Hinsicht, aber sie sind alle kurzweilig zu lesen, regen manchmal über das Schmunzeln zum Nachdenken an und zeigen dennoch auf, das die schöne neue Nanowelt nicht unbedingt ein Ort zum Fürchten sein muss. 

Phantastische Kürzestgeschichten, Phantastische Bibliothek WetzlarNano cover klein

Herausgegeben von Thomas Le Blanc

mit Texten von: Kirsten Brox, Karl-Ulrich Burgdorf, Nina Egli, Paul Felber, Sabine Frambach, Hans-Dieter Furrer, Katja Göddemesyer, Daniela Herbst, Christian Künne, André Lautenbacher, Thomas Le Blanc, Iris Leonard, Claudia Mayer, Jaqueline Montemurri, Monika Niehaus, Jan Osterloh, Marc-André Pahl, Michael Rapp, Gudrun Reinboth, Alessandra Reß, Alexander Röder, Friedhelm Schneidewind, Rainer Schorm, Ansgar Schwarzkopf, Merlin Thomas, Jörg Weigand, Karla Weigand, Michael Wink

September 2013 - Broschüre – 80 Seiten

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