Clarkesworld 134

Clarkesworld 134, Titelbild, Rezension
Neil Clarke (Hrsg.)
Neil Clarke schreibt in seinem Vorwort über die Schwierigkeit, vor größeren Menschenmengen aufzutreten. Über seinem Job hat er sich dieser Aufgabe erst für "Clarkesworld" nähert, um auf Convention aufzutreten. Chris Urie spricht ausführlich mit Paul McAuley über seinen neuen Roman. Durch die Fokussierung auf ein einzelnes Thema überzeugt das Interview mehr als die letzten Gespräche Uries, in denen er viel zu sehr hin und her gesprungen ist. Mark Cole schreibt in seinem Artikel "Science Fiction and the Fall of the Evil Empire" über vor allem utopische Filme aus dem ehemaligen Ostblock inklusive eines Link zu weiteren Informationen. Selbst Filmfans werden viele  unbekannte Streifen zum ersten Mal kennenlernen, was diesen Artikel zu einem der Höhepunkte dieser "Clarkesworld" Ausgabe macht. James Patrick Kelly schreibt über Hörbücher und deren Wandlung von den Langspielplatten/ Cassetten zum gegenwärtigen Angebot von "Audible", wobei der Autor auch auf die Wirkung eingeht, welche die eigenen Arbeit als Hörbuch professionell bearbeitet auf ihn hat.
 
Aus der Anthologie "Old Mars" stammt der längere der beiden Nachdrucke. Alan M. Steeles "Martian Blood" ist wie seine Geschichten um die Besiedelung des Planeten "Coyote" erzähltechnisch ein in die Zukunft verlegter Western in der Tradition John Fords. Getragen von einem Stil, der gerne in Balladen verwendet wird, erzählt Steele eine interessante, wenn auch vorhersehbare Geschichte. Ganz bewusst basierend auf der literarischen Vorlagen Borroughs und George Pals "War of the Worlds" ist der Mars zwar besiedelt, aber die wenigen menschlichen Kolonien sind weit verstreut. Die Marsianer haben sich wie in Bradburys "Die Mars- Chroniken" rar gemacht und meiden jeden Kontakt zu den Menschen. Der Ich- Erzähler ist ein Scout, der Menschen durch die Wüste führt. Ein Forscher von der Erde möchte das Blut der Marsianer untersuchen, um festzustellen, ob die Menschen und Marsianer verwandt sind. Es ist eine tragische Geschichte, in welcher am Ende ein Mord steht um eine Revolution zu verhindern. Stimmungsvoll zeichnet Steele das Bild eines archaischen Mars, auf dem die Menschen eher von den technologisch unterlegenen, aber zahlenmäßig überlegenen Marsianern geduldet werden. Es ist eine melancholische Novelle, in deren Mittelpunkt die Neugierde des Menschen steht, auch wenn die Resultate der Forschungen die Grundfesten erschüttern können. Auch wenn die Protagonisten eher pragmatisch charakterisiert worden sind, überzeugt die generelle Stimmung, welche Steele stellvertretend durch seinen Ich- Erzähler erzeugt. 
 
"Second Person, Present Tense" von Daryl Gregory behandelt die Wirkung einer neuen Droge auf einen Teenanger. Anfänglich scheinen die besorgten potentiell neuen Pflegeeltern ihre adoptierte Tochter zu sehr in das Korsett ihrer verschwundenen Tochter zu pressen, bis im Laufe der Handlung herauskommt, dass eine gefährliche Droge das alte Bewusstsein der Tochter gelöscht und mit einer neuen Persönlichkeit überschrieben haben könnte. Durch Gregorys sperrigen Stil kommt das emotionale Element nicht nachhaltig genug zum Tragen, um die eines Keyes würdige Grundidee zufriedenstellend umzusetzen.  Als Gedankenelement den Persönlichkeitswechsel aus einer intimen Perspektive beschreibend ist die Geschichte aber herausfordernd und Gregory versucht überzeugend, die unterschiedlichen Ideen einer Persönlichkeitsstörung für den Leser allgemein verständlich darzustellen. Ob die Droge Ursache oder nur eine verstärkende Wirkung hat wird nicht mehr expliziert herausgearbeitet, aber sie spielen auch nur eine untergeordnete Rolle. Die Position der Eltern wird im Verlaufe der Handlung deutlich besser herausgearbeitet und die erdrückende Liebe anscheinend zu einer Ersatzperson schockierend offen relativiert, so dass deren Aktionen überzeugender sind als die Versuche des Teenagers, die eigene neue Persönlichkeit über das alte immer wieder durchscheinende Ich zu stellen.
Der Kontrast zwischen den beiden Nachdrucken ist vielleicht im direkten Vergleich zu den letzten Ausgaben ungewöhnlich stark,  aber qualitativ sind die beiden längeren Texte ohne Frage eine Wiederentdeckung wert.
 
Auch wenn es wahrscheinlich durch Zufall thematische Übersdchneidungen zwischen den fünf neuen Geschichten und den beiden Nachdrucken wie Handlungsschauplätze auf dem Mars gibt, überzeugen alle fünf neuen Storys leider nur bedingt. 
 
Anscheinend stellt "The Catalog of Virgins" von Nicoletta Vallorani - übersetzt von Rachel S. Cordasco - einen Auszug aus einem Roman da. Wie sich herausstellt werden Klone extra gezüchtet, damit Sadisten sie quälen und relativ schnell töten können. Die Tagebuchauszüge in Kursiv zeigen nur indirekt, wie brutal diese Quälereien ablaufen. Problem ist, dass der Titel irritierend ist, das die Mädchen vor ihrer Ablieferung vergewaltigt werden. Es gibt keine richtige Exposition und der Hintergrund bleibt verwirrend, aber nicht interessant genug, um diese aktuelle und leidvolle Thematik überzeugend und vor allem nachdenklich stimmend zu präsentieren.
 
Ebenfalls sehr schwach ist unabhängig von der eindringlichen Thematik "Prasetvo Plastics" von D.A. Xialin Spires.  Warum Neil Clarke die Geschichte nicht stilistisch und gramatikalisch umfangreicher überarbeitet hat, bleibt wahrscheinlich  sein Geheimnis.  Das Plastik schmutzt die Meere, das Plankton wird quasi von dem Mühl befallen. Das aber Plankton und Plastik eine Synthese eingehen, an deren Ende eine bedingte Intelligenz herauskommt, ist unwahrscheinlich und wird nicht mal im Ansatz erklärt oder extrapoliert. Auch weist diese belehrende Geschichte keine innere Dynamik auf, so dass der ganze Plot wie ein Expose erscheint und keine zufriedenstellende Geschichte. Diese Kompression findet sich in einigen Texten Spires, die in letzter Zeit bei "Clarkesworld" veröffentlicht worde sind. 
 
Die dritte unzusammenhängend erscheinende Story ist "Dead Heroes" von Mike Buckley. Der Hintergrund ist interessant gestaltet und der Autor entwickelt auch eine erdrückende Atmosphäre, ohne zu viele Fakten zu präsentieren. Leider bleiben fast alle Fragen des Plots unbeantwortet. Handelt es sich bei den Soldaten um Rekrutierer, die aus einer Zeit in der fernen Vergangenheit oder Zukunft kommen, um Einheimische im Grunde zu entführen? Die umherstreichenden Soldaten verfügen anscheinend über keinen echten Status in der Geschichte. Sie sind Mittel zum Zweck, um eine zynische Atmosphäre aufzubauen. Der Leser möchte sie aber gerne einschätzen. Fast alles  bleibt in dieser Hinsicht unausgesprochen und frustriert deswegen. Mike Buckley sollte das Gerüst zu einer Novelle ausbauen und vor allem die Stärken seines Textes erhalten, aber die konzeptionellen Schwächen komplett überarbeiten.
 
"Retrieval" von Suzanne Walker ist auf den ersten Blick die stringenste Geschichte dieser  Ausgabe.  Riva will in den Tiefen des Alls den Geist ihres Vaters finden, der vom Tyrannen hingerichtet worden ist. Die Expedition muss eine Reihe von Schwierigkeiten überwinden und das Ergebnis entspricht nicht unbedingt Rivas Erwartungen, gibt den Unterdrückten aber Hoffnung.  Während die Charaktere eher eindimensional und pragmatisch gezeichnet worden sind, sind Ursache und Auswirkungen überzeugend beschrieben worden. Suzanne Walker ist auch die einzige Autorin dieser Ausgabe, die sich Mühe gibt,  die Handlung effektiv mit dem entwickelten Hintergrund zu verbinden. 
 
Die längste neue Story dieser Ausgabe ist "Who won the Battle of Arsia Mons?" von Sue Burke. Sie verzichtet auf eine klassische Extrapolation oder gar für den Leser identifizierbare Protagonisten. Die Grundidee ist, dass vier international Teams jeweils Kampfroboter entwickeln, die sich live im Fernsehen übertragen einen entsprechenden Schaukampf liefern. Ohne klassische Strukturen sind es vor allem die abschließenden Kämpfe, welche für die lange Exposition und den eher langweiligen Epilog entschädigen. Natürlich bleiben viele Fragen offen und Sue Burkes Novelle wirkt eher wie ein Hollywood Film, in dem gegen alle Wahrscheinlichkeiten einfach sinnlos mit der Unterstützung des Fernsehens auf dem Mars Geld verprasst wird, um die Massen in einer Variation der römischen Gladiatorenspiele zu unterhalten. Nicht jede Motivation der vier Teams ist nachvollziehbar. Vor allem das organisierte Verbrechen kann die Ausgaben nicht mal als Geldwäsche absetzen, daher wirkt ihre Teilnahme am Wettkampf nicht überzeugend. 
Durch ihren Erzählstil mit vorgreifenden Anmerkungen baut die Autorin ausreichend Spannung auf, die sich im angesprochenen Kampf der Giganten entlädt. Allerdings ist es auch schwer, die Materialschlachten der "Transformer" Filme zu übertreffen, so dass der ganze Plot unterhaltsam, aber weder originell oder gar einzigartig ist. Wie Allan Steeles Novelle spielt die Handlung aber auf einem Mars, der von der Frontier Mentalität des Wilden Westens geprägt worden ist.  
 
Zusammengefasst ist die Novemberausgabe von "Clarkesworld" allerdings eine eher schwache Lektüre. Im Gegensatz zu seinen großen Rivalen hat Neil Clarke ohne Frage den Mut, bei den präsentierten Geschichten experimenteller zu sein, während die Nachdrucke in erster Linie konservativ konzeptioniert worden sind. Es stellt sich aber die Frage, ob diese inzwischen statische Balance zwischen Original und Nachdruck manchmal aufgebrochen werden sollte, wenn nicht ausreichend qualitativ zufriedenstellende neue Storys vorliegen.  

www.clarkesworldmag.com

E Book, 112 Seiten Umfang