New York 2140

Kim Stanley Robinson

Kim Stanley Robinsons neuer Roman " New York 2140" spielt in der Theorie im gleichen Universum wie sein vor einigen Jahren ebenfalls im Heyne Verlag publiziertes Epos "2312". In einem Nebensatz wird in dem zweit genannten Buch auf ein halb versunkenes New York eingegangen. Zusätzlich hat Kim Stanley Robinson versucht, die ökologisch klimatischen Aspekte seines Buches mit zwei gänzlich anderen, konträren Ideen zu verbinden. Die Einzigartigkeit von New York und seinen absoluten Schmelztiegel Einwohnern, die in der Gegenwart wie auch der näheren Zukunft auf engsten Raum zusammenleben und miteinander auskommen müssen. Der zweite Aspekt ist eine Auseinandersetzung mit der Hochfinanz. 

 Die einzelnen Ideen sind durch das Schicksal von insgesamt zehn sehr unterschiedlichen Protagonisten miteinander verbunden. Dabei ist es erstaunlich, dass die auf den ersten Blick griffigste Figur - Gen, angestellt bei der New Yorker Polizei - als Kriminalistin eher zu einer Stichwortgeberin mutiert. Ihre Suche nach den entführten beiden Hackern Mutt und Jeff dient in der ersten Hälfte des Buches als eine Art roter Faden,  an dem sich der Leser mehr inhaltlich orientieren kann, während der zweite Teil des Buches stärker auf die einzelnen Pointen konstruiert erscheint, aber auf der anderen Seite sich stimmungsvoller, ein wenig mehr impressionistisch präsentiert. Spätestens ab diesem Moment müssen Kim Stanley Robinsons zahlreiche, gut voneinander unterscheidbare Protagonisten den Leser ergriffen haben. Sonst wird es generell schwer, in diese Lebens- und weniger reine Überlebensgeschichte einzusteigen.

 Auch wenn viele Themen abschließend zusammenkommen, lohnt es sich, "New York 2140" individuell zu betrachten. Der schwächste Handlungsbogen - auch wenn er sehr viel über die Geschichte der Stadt offenbart -  beschreibt die beiden obdachlosen Jungen Stefan und Roberto, die mit ihrer selbst gebauten Taucherglocke an allen möglichen und unmöglichen Stellen nach im angestiegenen Meer unterspülten Schätzen suchen. Als sie den älteren Mann Hexter aus einem illegal bewohnten Gebäude retten, das unter der Last des Wassers zusammengebrochen ist, erhalten ihre ambitionierten Pläne einen zusätzlichen Kick. Mr. Hexter hat alte Karten, aus denen ein besonderes Versteck mit der an Bord eines Schiffes gekenterten Kriegskasse der Briten abzulesen ist. An einer anderen Stelle des Plots suchen nach sie Hermann Melvilles Haus, um dieses Mal erfolglos Sammler und Nerds zu befriedigen. Die beiden Jungen bringen sich als eine Art Running Gag immer wieder in Lebensgefahr, ohne dass ihre Pflegefamilie - das ganze Hochhaus, in dem sie leben - wirklich nachhaltig eingreifen kann. Die Schatzsuche ist von Kim Stanley Robinson auch deutlich gekennzeichnet an die Abenteuer von Mark Twains populärsten Protagonisten angelehnt. Dazu ein wenig New Yorker Literaturgeschichte und fertig ist der schwächste Handlungsbogen des ganzen Buches, weil zu viele Zufälle zu stark konstruiert positiv zusammenlaufen.  

 Amelia ist ein Internetstar, die mit ihrem Luftschiff vor allem Tiere rettet, nachdem sie diese für die Nachwelt digital archiviert hat. Auch dieser Handlungsbogen hat eine bizarre Sequenz, die eher als Slapstick denn eine ernst gemeinte Weltuntergangsgeschichte erinnert. Anschließend hat Amelia ein oder zwei Auftritte, bevor sie zumindest zeitweilig auf dem Rücken des Sturms in die Ferne reitet.

 Die beiden Hacker Mutt und Jeff sind eher ambivalente Protagonisten, welche der Großfinanz ein Gesicht geben soll. Sie verursachen mit ihren Programmen einen Algorithmus Fehler bei den High Frequency Tradern, ein Zehntel Penny geht an die Börsenaufsicht und sollen auf die teilweise verbrecherischen Front Running Programme einiger Handelshäuser hinweisen, die immer noch in New York angesiedelt sind. Folgt der Leser allerdings dem Bild auf dem Cover wäre die eigentliche Wall Street zumindest signifkant inzwischen unter Wasser. In erster Linie dient dieser Handlungsbogen inklusiv der entsprechenden Entführung als Einleitung in die Amoralität der globalisierten Hedgefondsindustrie, eines der beiden Schwerpunktthemen dieses Buches. Franklin ist anfänglich einer der Gesichter dieser ausschließlich aufs Geldverdienen ausgerichteten Schreibtischtätergeneration. Als Manager und Tradingspezialist geht es ihm ausgesprochen gut. Er hat eine Art Wohnungsindikator entwickelt, der nicht nur auf Fakten, sondern auch auf Stimmungen basiert. Franklin hofft, das sich die entwickelnde Blase - global oder nur auf die US bzw. New York beziehend wird niemals klar herausgearbeitet - noch ein wenig länger hält, damit er Geld verdienen kann. Auf der anderen Seite hat er plötzlich eine brillante Idee, die aus ihm einen netten Jungen von nebenan macht, welcher sich gegen seinen Berufszweig wendet und mit einer pragmatischen Vorgehensweise im wahrsten Sinne des Wortes neuen Wohnraum erschafft. Als Belohnung erhält er am Ende eine neue Freundin, vielleicht die Liebes seines Lebens. Diese Beziehung ist ungewöhnlich, aber der nicht unbedingt emotional schreibende Kim Stanley Robinson schafft es, die Entwicklung nachvollziehbar zu beschreiben.

Franklin ist eine Art Wendehals. Zu Beginn lernt er eine Kollegin kennen; muss immer wieder die beiden Jungs Stefan und Roberto retten; ist dem eigenen Handwerk gegenüber kritisch, auch wenn er opportunistisch und viel Geld verdienen mitschwimmt. Wenn Franklin das Gesicht des Kapitalismus über die obligatorischen, nur kurz gestreiften und dann verhafteten bösen Haie der Wall Street hinaus sein soll, dann beschreibt ihn Kim Stanley Robinson eher als Opfer des eigenen Ehrgeiz denn als abgerundete Figur.

 Charlotte ist der Mittler zwischen den so typischen New Yorker Bewohnern und der Hochfinanz. Ihr Ex Mann ist inzwischen Notenbankchef. Sie arbeitet neben ihrer Tätigkeit als Rechtsanwältin als eine Art Vorsitzende ihres Hochhauses. Kim Stanley Robinson impliziert, dass die größeren Wohnkomplexe wie Genossenschaften aufgebaut worden sind, in denen jeder Besitzer einer Wohnung ein Stimmrecht hat. Charlotte agiert als Sprachrohr des Führungskomitees. Sie ist eine bodenständig, immer noch attraktive intelligente Frau. Sie ist in einigen Punkten die Stimme der Vernunft, an anderen Stellen das zukünftige Sprachrohr einer nicht nur ökologischeren amerikanischen Innenpolitik, sondern progressiver wie im Hintergrund angeleiteter Vordenker eines radikalen Vorschlags, der interessanterweise während der Finanzkrise des Jahres 2008 in Amerika ein wenig härter, in Europa dank der Lobbyarbeit der Banken oberflächlich umgesetzt werden müsste. Ohne zu viel zu verraten folgt Kim Stanley Robins mit dieser auf den ersten Blick nicht nur radikalen, sondern fast sozialistisch erscheinenden Denkweise dem Bedauern mancher Politiker, welche in den Augenblicken der Krise die Daumenschrauben nicht zu stark angezogen haben und jetzt verwundert dastehen, wenn die Banken zehn Jahre nach der Krise die helfende Hand ignorieren.  Ob der Vorschlag wirklich umsetzbar ist, steht auf einem anderen Blatt, da neben den von Kim Stanley Robinson extrapolierten Ansätzen noch andere Aspekte eine Rolle spielen. Längst haben die Banken ihre Rolle eingebüßt und sind zum Spielball nicht nur der Zentralbanken und Politiker geworden- diese aus Europa stammende Idee wird gänzlich ignoriert -, das große Geld für die Reichen wird woanders verdient und sollte Kim Stanley Robinsons Vorschlag nur in den USA umgesetzt werden, gibt es ausreichend andere interkontinental agierende Player, welche in diese Lücken schießen.  Theoretisch braucht der Autor aber diese Art von Abschluss, damit Franklins Wandel vom Saulus zum Paulus funktionieren und New York nach den verschiedenen, über einen Zeitraum von mehr als drei Jahren erzählten Herausforderungen wieder für fast alle Menschen wachsen kann.

 Diese besondere Art Mensch vertritt Vlade, der Hausmeister in leitender Funktion bei Charlottes Tower. Er ist ein Mann mit einer persönlich schwierigen Vergangenheit. Er ist aber hilfsbereit, ehrlich, fleißig, pragmatisch clever und die Person, welche mit seinen Teams das Gebäude am Leben und am Funktionieren hält. Vlade zeigt, wie die zum Teil im Wasser stehenden Hochhäuser vor Jahren gesichert, teilweise umgebaut und vor allem autark gemacht worden sind.          

  Es gibt aber noch einen weiteren Protagonisten. In einer Verbeugung vor dem Schelmenroman hat Kim Stanley Robinson mit "Der Bürger" einen unzuverlässigen wie spöttischen Erzähler eingebaut, der nicht selten das Geschehen nicht nur kommentiert, sondern ironisch relativiert. Dieser Protagonist durchbricht auch die Wand zum Leser und bezieht ihn durch aktive Ansprache in das Geschehen ein. Der Autor könnte dafür kritisiert werden. Es ist ein schmaler Grat, auf dem er sich bewegen muss. Zu viel Spott und Hohn könnte die Handlung unrealistischer und dadurch auch eher wie eine Komödie erscheinen lassen. Zu viele depressive Gedanken könnten den Optimismus der eigentlich handelnden Personen unterminieren. "Der Bürger" macht aber immer wieder vielleicht unabsichtlich deutlich, dass der Leser sich in einem Roman befindet und keine realistische Untergangsgeschichte verfolgt.

 Auch wenn der Fokus auf einem breiten Spektrum von interessant gezeichneten, aber selbst in Norbert Stöbes guter Übersetzer zu gleich sprechenden Protagonisten verfügt, liegt der Schwerpunkt einmal auf dem neuen Venedig direkt am Atlantik, zum Anderen auf den einzelnen Voraussetzungen. Neben dem intensiven Verkehr zwischen den einzelnen Inseln mittels Wasserbooten; gespannten Brücken oder im klirrenden Winter direkt über das Eis wird ein Sturm beinahe New York zum Verhängnis. Immer wieder stürzen an den Rändern ungesicherte Gebäude ein und töten die illegalen Bewohner. Es sind die kleinen Details, die neben der obligatorischen Warnung vor einer ökologischen Katastrophe "New York 2140" zu einem interessanten wie lesenswerten Roman machen.     

 Vor allem weil Kim Stanley Robinson eindrucksvoll und konsequent aufzeigt, dass nur die wenigen wirklich Reichen - auch hier hat der Sozialist Robinson eine entsprechende Antwort - zumindest für einen Moment den Folgen der globalen ökologischen Katastrophe entkommen können. Auf der anderen Seite zeigt Robinson nicht nur in diesem Buch auf, wie einfallsreich die Menschen sind. Das zieht sich wie ein roter Faden beginnend in seinem empfehlenswerten Erstling "Das wilde Ufer" über die "40 Days" Trilogie bis hin zu diesem in dieser Hinsicht faszinierenden Frontierabenteuer. Auch wenn das Hintergrundszenario herausfordernd bis düster erscheint, ist es eine respektvolle Würdigung der Menschen, die sich nicht unterkriegen lassen und irgendwie/ irgendwo Wege finden, um nicht nur zu überleben, sondern ein zwischenmenschliches Leben zu ermöglichen. Am Ende ist New York genau die Stadt, die es immer gewesen ist und wahrscheinlich solange auch nur eine Hochhausspitze aus dem Wasser ragt sein wird. Ein Schmelztiegel der Nationen; ein einmaliges Erlebnis und eine Stadt die aufgrund ihrer kulturellen Vielfalt niemals schlafen wird. 

New York 2140: Roman

  • aschenbuch: 816 Seiten
  • Verlag: Heyne Verlag; Auflage: Deutsche Erstausgabe (14. Mai 2018)
  • Sprache: Deutsch
  • ISBN-10: 3453319001
  • ISBN-13: 978-3453319004
  • Originaltitel: New York 2140