Formalhaut

Thomas Le Blanc (Hrsg.)

Der Titel der fünften Sternenanthologie „Eros“ hat zu einer Themenausgabe eingeladen. Mit dem nachfolgenden sechsten Band „Formalhaut“ möchte Herausgeber Thomas Le Blanc nicht ausschließlich, aber Ziel fördernd seinen Autoren ebenfalls thematisch Leitlinien mit dem auf den literarischen Weg geben. Im 21. Jahrhundert wird er diese Idee dank der Miniaturen der Phantastischen Bibliothek Wetzlar auf die Spitze treiben. Im Mittelpunkt von „Formalhaut“ sollen Forschung und Erforschung stehen. Die beiden sekundärliterarischen Artikel „Wachsen in die offene Welt“ von Krafft A. Ericke und „Ein Paukenschlag auf die Erdkruste“ ( Gerd von Hassler) lassen sich aus seiner Distanz von mehr als dreißig Jahren eher historisch als aktuell betrachten, wobei die Idee eines kontinuierlichen Wachstums als Triebfeder des Fortschritts und Andersherum eine Vision ist, welche heute noch mehr die Zentralbänker als die Politiker begeistert.

 Rainer Erler eröffnet die Anthologie mit „Recycling“. Eine Wissenschaftlerin möchte aus Altpapier Zucker herstellen. Wie sich herausstellt, ist sie nur eine von mehreren Forschern, denen es dank der Bakterien auf eine bessere Welt ankommt. Der Leser ahnt deutlich schneller als der in dieser Hinsicht sehr naive Protagonist, in welche Richtung sich die Bakterien entwickelt. Die Geschichte ist unabhängig von der schnell erkennbaren Pointe dank Rainer Erlers pointierten Dialogen kurzweilig zu lesen.

 Deutlich schwieriger macht es Horst- Günther Rubahn mit „Zahnschmerz“ seinen Lesern. Nicht alle Hintergründe des Experiments werden offen gelegt und seine Protagonisten agieren teilweise zu eindimensional, zu pragmatisch. Die „Zahnschmerzen“ als roter Faden lenken auch eher vom zugrunde liegenden Plot ab und der Rückzug der Pharmaindustrie mangels Erfolgen ist eher konsequent als bestürzend zu nennen.

 Drei Geschichten spielen entweder ganz oder teilweise unter der Oberfläche fremder Welten. Bernd Kreimeiers „Berg der Gräber“ und Horst Pukallus „Die Opferhöhle“.Beide Texte ragen aus der Masse der hier gesammelten Geschichten heraus. Beide Texte verbindet auch, dass es sich im Grunde im Zwei- Personen- Dramen handelt.

Der „Berg der Gräber“  ist eine Fundstätte mit sehr gut erhaltenen Mumien eines innerhalb kürzester Zeit untergegangenen Volkes auf einer fremden Welt. Die Wissenschaftler haben eine Art Klon aus dem genetischen Material gezüchtet, in den sie die Erinnerungen seines Volkes implantiert haben. Im Affekt tötet der Klon einen Soldaten und fliegt in das wenig erforschte Höhlenlabyrinth im Berg. Die Atmosphäre ist stimmig, der Plot verläuft bis zum konsequenten wie bitteren Ende stringent und die beiden Protagonisten sind dreidimensional gezeichnet. Vor allem erfährt der Leser wie der den Wissenschaftler begleitende Soldat alle Informationen aus dessen subjektiver, aber durchaus dem eigenen Schaffen auch kritischer Perspektive. Bernd Kreimeier verzichtet auf abschließende Antworten und lässt das Schicksal des Verschwundenen auch ein wenig offen.

Die Geschichte „Die Opferhöhle“ zeigt Horst Pukallus Fähigkeit, einen Plot dicht und spannend, aber durch den Hintergrund auch nachdenklich stimmend zu erzählen. Zwei Forscher sind in einer Höhle unter der Oberfläche des Jupitermondes IO gestrandet. Der Rückweg ist beschwerlich. Die beiden Männer kommen auch nicht sonderlich gut miteinander aus. Im Verlaufe der Handlung erfährt der Leser, dass es in dieser Zukunft möglich ist, eine Bestrafung selbst für Kapitalverbrechen zu entkommen, wenn man sich für die Raumfahrt meldet. Am Ende steht einer der Männer vor einer schweren Entscheidung, die noch schwieriger wird, weil sein „Partner“ ist unsympathischer, wehleidiger Neurotiker und gleichzeitig auch Mörder ist. Es sind diese charakterlichen Nuancen, welche den interessanten Plot aus der Masse vergleichbarer Pulpgeschichten deutlich heraushebt.

 Horst Pukallus muss der Text auch sehr gut gefallen haben. Die Kurzgeschichte bildet Wort für Wort das erste Kapitel seines Romans „Krisenzentrum Dschinnistan“, der 1985 im ULLSTEIN Verlag publiziert worden ist.

Gerd Maximovic beendet mit „Der schwarze Planet“ diese kleine Reihe. Eine Expedition erkundet einen verlassenen Planeten, dessen Oberfläche seltsam verbrannt erscheint. Unter der Erde finden sie eine gigantische künstlich erschaffene Höhle mit einem Raumschiff. Der Bericht eines der toten Raumfahrer enthüllt die ganze Tragödie. Auch wenn die Geschichte für sich genommen nicht sonderlich originell oder aufregend wirkt, schafft es der Autor mit einem getragenen, aus der richtigen Mischung Mitgefühl und Distanz bestehenden Stil das Schicksal nicht nur dieses Volks, sondern extrapoliert der ganzen Galaxis zu beschreiben.  

 Wolfgang Hohlbein eröffnet mit „Expedition nach Alacantara“ den Komplex der Erforschung. Auf einer wunderschönen Welt, die bis auf einen Wald den Besuchern einer intergalaktischen Kreuzfahrt offen steht, ist eine Passagierin verschwunden. Sie hat mit einem der Reiseführer angebändelt, um den verbotenen Wald betreten zu können. Spätestens mit der Suche nach dem attraktiven Vamp und der Beschreibung der Ureinwohner ahnt der Leser die Auflösung. Wolfgang Hohlbein erweist sich vor allem in der ersten Hälfte als ein sehr guter Erzähler, der mit seinem melancholisch verklärten Stil nicht nur den Protagonisten, sondern auch die Leser in eine Art Scheinsicherheit wiegt, bevor er in der zweiten Hälfte allerdings ohne überzeugende wissenschaftliche Erklärung eine zweigeteilte, zwar konsequente, aber nicht unbedingt überraschende Pointe präsentiert.     

 Thomas Le Blancs „Wo die Steine flüstern“ fällt auch in diese Kategorie. Durch ein Versäumnis wird erst Jahrzehnte später festgestellt, dass sich eine frisch gegründete Kolonie auf einem Dschungelplaneten nicht meldet. Bei der Ankunft der Rettungsmannschaft finden sie nur eine verlassene Siedlung, vom Dschungel wieder eingenommen. Die Pointe ist nicht erkennbar, ergibt auch keinen überzeugenden Sinn. Zumindest hätte den Wissenschaftlern entweder das ungewöhnliche Phänomen auffallen müssen oder es finden sich überall derartige Anzeichen. Antworten gibt der Autor leider nicht. 

 In den Bereich der „Selbsterforschung“ fallen einige der kürzeren Texte.  „Und einer segelte davon“ von Robert Steffen ist Programm. Ein Raumfahrer hat sich im All von seinem Schiff abgeseilt und treibt zwischen den Sternen in der Gewissheit, bald sterben zu müssen. Er denkt wehmütig an die Zeit der echten Raumfahrt mit Sprüngen zwischen den Sternen. Auf nicht einmal drei Seiten zeichnet der Autor fatalistisch das Portrait einer sich radikal und schnell ändernden Technik, welche zumindest im Auge des sterbenden Betrachters kein „Fortschritt“, sondern emotional ein Rückschritt ist. 

 Carla Möttelis „Schwarzweiße Ewigkeiten“ signalisiert ihre Pointe schon weit im voraus. Auf nur drei Seiten entwirft sie zwar ein bizarres Szenario, das aber an Intensität verliert, weil der Leser nicht beurteilen kann, ob es sich um einen Alptraum kafkascher Dimensionen handelt oder auf einem realen Erlebnis basiert.

 Kai Riedemanns „Ruf der Träume“ und Wolfgang Fienholds „Ewiger Frühling“ beschäftigen sich mit Vorläufern der Virtuellen Realität. Während der Protagonisten in ihren Vision in Riedemanns Geschichte nicht nur ein Kobold erscheint, sondern sogar passende Märchen erzählt werden, ist Wolfgang Fienholds Miniatur nur ein kleinere stimmungsvoller Ausschnitt, dessen Hintergrund sich der Leser selbst erschließen muss. In dieser Hinsicht ist Kai Riedemanns Text umfassender und zufrieden stellender, allerdings wirken einzelne Teile der Handlung auch ein wenig zu stark konstruiert bis belehrend. Im Gegensatz zu den auf fernen Planeten spielenden Abenteuern sind Texte wie diese wahrscheinlich in den achtziger Jahren modern und innovativ gewesen, haben aber über dreißig Jahre später ihre Strahlkraft verloren.  

 Alleine Elmar H. Wohlraths „Heimatgrüße“ ragt aus diesem Themenkomplex positiv heraus. Das liegt an der schlüssigen, aber nur einmal funktionieren Pointe.

 Die beste Miniatur ist Günther Zettls „Der Zeitpunktspitzenhelm“, in welcher ein Erfinder die Zeit nicht mehr kontinuierlich, sondern gleichzeitig ablaufen lässt. Diese Idee gipfelt in einer Abfolge von „wirren“ Bildern, die alle gleichzeitig geschehen sollte. Natürlich lässt sich die Pointe erkennen, aber sprachgewaltig wie kompakt hält Günther Zettl dem Genre einen ganz kleinen Eulenspiegel ins Gesicht.

 Ulrich Harbeckes „Terminal“ mit der Verdammung der frühen Computerspiele wirkt aus der Distanz von mehr als dreißig Jahren und der technischen Entwicklungen antiquiert. Zumindest haben auch heutige Generationen nicht derartige Ausfallerscheinungen zu beklagen. So Falk Ingo Klees „Karma“ leidet unter einem Plot, der in den achtziger Jahren schon nicht neu oder auch nur originell gewesen ist. Spätestens mit der zweiten Handlungsebene weiß der Leser den weiteren Verlauf und so ist die Pointe keine wirkliche Überraschung.

 Ernst Vlceks „Wasserverkauf ist Vertrauenssache“ zeigt die ganze Routine des Perry Rhodan Autoren. Ein ehemaliger Wasserpolizist und inzwischen Schwarzmarkthändler mit Wasser wird durch Dehydration zum Tode verurteilt. Dabei hat er in einer verseuchten Welt reines Wasser verkauft, das andere gestreckt haben. Das Ende wirkt ein wenig überzogen und theatralisch, aber die erste Hälfte mit den sehr guten Dialogen und den pointierten Bemerkungen gehört zu den besten Passagen der ganzen Sammlung.

Zeitlos ist Michael Weissers „GES Projekt A13“. Durch ein Zufall wird eine Menge von 9500 Personen bestimmt, denen die „Gesellschaft für extrapolierte Seinsformen“ Entscheidungen aufzwingt, mit welcher diese künstliche Intelligenz anscheinend gegen das Problem Mensch vorgehen will. Ausschließlich in Form von Telefaxen geschrieben greift der Autor eine Reihe von damals wie heute noch aktuelleren Umweltpolitischen Themen auf und führt sie auf eine absurde, aber auch irgendwie logische Spitze. Ein nachdenklich stimmender Ausklang der literarischen Abteilung dieser Anthologie.

 Einige der Kurzgeschichten sind illustriert. Gerd Striepecke geht mit seinen Zeichnungen auf die Besonderheiten der einzelnen Autoren ein. Zusammenfassend hilft ein lockerer thematischer Strang der Anthologiereihe qualitativ deutlich. Die Texte sind zwar weiterhin von konservativ spannend bis experimentell wild, aber die gemeinsame Mitte – ausgedrückt durch zwei Themenbereiche – lässt die Sammlung kompakter und Zielführender erscheinen. Die Qualität der Texte ist bis auf wenige Ausnahmen unter bekannten Pointen leidend ausgesprochen hoch und die Ideen sind selbst aus der Distanz von fast dreißig Jahren teilweise noch brandaktuell. 

Verlag :Goldmann

Jahr: 1983

Umfang:  249 Seiten
Reihe: Goldmann Science Fiction 23435 - Sternenanthologie Band 6
ISBN13: 978-3-442-23425-7