Über dem Abgrund der Himmel

Cornelia Schneider

Die Krimiautorin Cornelia Schneider präsentiert in der Sammlung „Über dem Abgrund der Himmel“ insgesamt neun, teilweise unveröffentlichte Kurzgeschichten angereichert mit phantastisch erscheinenden, aber nicht notwendigerweise wirklich nachhaltig phantastischen Elementen, in denen sie vor allem in die exzentrischen, bedrohlich verschrobenen und gefährlichen Hirngebirgslandschaften ihrer Protagonisten schaut.

 „Fledermäuse“ eröffnet die Sammlung. Eines Tages findet eine Arztwitwe in ihrem alten Haus einen Mann in ihrer Küche sitzen, der anscheinend behauptet, dort auch zu leben. Es entsteht eine seltsame Lebensgemeinschaft, da die Protagonistin außer Stande ist, ihm die Tür zu weisen. Der Titel bezieht sich auf ein surrealistisch phantastisches, aber nicht expliziert angesprochenes Element dieser Story. Von der Protagonisten her ist es wahrscheinlich die zugänglichste Arbeit dieser Sammlung.

 „Der Spucker“ – erschienen in „Gefährliche Gefühle“, einer Sammlung der für den Agatha Christie Preis eingereichten Kurzgeschichten 2006 – ist eher typisch für die Sammlung. Ein psychopathischer Verrückter und Verlierer des alltäglichen Lebenswahnsinns begeht aus seiner subjektiven Sicht das perfekte Verbrechen. Einmal der Gewinner sein, obwohl die Pointe seine Schwäche zeigt.

 Auch in der längsten Arbeit – der Titelgeschichte „Über dem Abgrund der Himmel“ – steht ein gefährlicher Verrückter im Mittelpunkt. Während in „Der Spucker“ die Autorin trotz der Kürze das Milieu gut vorbereitet, überschüttet sie den Leser zu Beginn der zweiten Geschichte mit nicht richtig einzuordnenden Informationen. Carlos liebt heimlich ein junges Mädchen aus der Nachbarschaft, die von ihrem Vater missbraucht wird. Eines Tages wird ihre Freundin ermordet aufgefunden, das Mädchen ist verschwunden. Carlos soll der Verschwundenen 3000 Euro nach Berlin schicken, macht sich aber selbst auf die Reise.

 Während „Der Spucker“ von einer voyeuristischen Obsession handelt, ist Carlos ein emotional auffälliger im Grunde fast gestörter Mann, der sich einbildet, mehr und mehr zum Retter des Mädchens werden zu müssen. Sie aus ihrem in Berlin etablierten Umfeld zu retten und als das nicht planmäßig funktioniert, zumindest den Sündenbock zu spülen, um aus seiner verqueren Sicht ihre Aufmerksamkeit, vielleicht impliziert auch ein wenig dankbare Zuneigung zu erhalten.

 Der Mittelteil der Geschichte schleppt sich fast erdrückt von den nicht immer angenehmen Beschreibungen dahin, bis sich die Ereignisse am Ende nicht unbedingt überschlagen, aber der Leser wie Carlos nicht mehr zwischen Realität und Einbildung unterscheiden kann. Daher ist es schwer, nur eine einzige Figur nicht nur in dieser Geschichte selbst oberflächlich zu mögen. Aber diese Distanzierung zwischen „normalen“ Lesern und den in ihren Zwängen gefangenen „Freaks“ macht auch in wohldosierten Dosen den Reiz einzelner Texte dieser Sammlung aus.  

 Verbrechen hinterlassen bei Cornelia Schneider lange Schatten. In „Der Paravent“ weckt der Besuch auf dem Friedhof und dessen morbide Faszination mit alten Gräbern Erinnerungen an ein schreckliches Verbrechen. Die Zusammenhänge zwischen den einzelnen Grabstätten und der lebenslangen Schuld werden erst im letzten Kapitel effektiv und überzeugend präsentiert, wobei sich der Leser fragt, ob der Protagonist ihn nach so vielen Jahren einfach zum Mitwisser machen möchte oder ihm die einzelnen Versatzstücke aus seinen unterschiedlichen Erinnerungen zusammengesetzt erst jetzt bewusst geworden sind.

 Ebenfalls aus einer Anthologie der besten Geschichten für den Agatha Christie Preis 2008 stammt „Wassernickels Glatze kratzen“. Der Familientyrann, seit einigen Jahren an den Rollstuhl gefesselt, ist bei möglicherweise einem Unfall auf dem Steg am Teich ums Leben gekommen. Während des Beerdigungsmahls brechen im Grunde alle Dämme, die Gier wird deutlich und das gegenseitige Misstrauen. Es ist die Ich- Erzählerin, welche als „neutrale“ Zeugin die einzelnen Versatzstücke zusammensetzt. Ihr einziger Vertrauter ist wie bei einigen anderen Texten der Leser.

 Auch in „Tötet mich. Der Beweis“ ist der Leser der einzige Verbündete, die Hoffnung auf Rettung. Allerdings hat Cornelia Schneider die Story sehr verführerisch aufgebaut. Zuerst denkt der Leser, dass die Protagonisten entführt und in einem Keller gefangen gehalten wird. Ein alter Mann ist ihr einziger Kontakt zur Wirklichkeit. Im Laufe des Plots dreht sich das Szenario um einhundertachtzig Grad und die Zusammenhänge erscheinen in einem anderen Licht. Vielleicht ist unabhängig von der realen Bedrohung die Maßnahme sehr drastisch, aber diese Wendung erwischt den Leser auf dem falsche Fuß und lässt ihn über das Gelesene zumindest nachdenken.    

 Aus dem fantastischen Romanprojekt „Die ägyptische Mau“ stammen zwei Texte.  „Am Hafen“ beschreibt eine fast idyllische Landschaft mit den Einheimischen und den Reichen, die eine vor der Küste gelagerte Insel gekauft haben. Die Autorin konzentriert sich lange Zeit eher auf Stimmungen. Das phantastische Element mit den Katzen wird nur impliziert. Viel komplizierter und in der vorliegenden Form weniger befriedigend ist „Tear us apart“. Verschiedene Handlungsebenen laufen ineinander, wobei die in einem Nachtclub arbeitende Andrea mit ihrer abschließenden Explosion vielleicht am Griffigsten erscheint. Die Familiengeschichte mit dem geilen Pfarrer und der von zwei Brüder möglicherweise schwangeren Magd hängt abschließend ein wenig zu sehr in der Luft. Der Auftakt ist schwerfällig.

 Das Hin- und Herspringen zwischen den Ebenen impliziert ein umfangreicheres Projekt, dessen abschließende Beurteilung erst bei Vorliegen des ganzen Textes erfolgen kann. Die Autorin folgt zwar ihren Leitmotiven von verbotener Sexualität und dem Hang zum Voyeurismus aus den anderen Texten, aber als Ganzes betrachtend wirken die beiden Passagen aus „Die ägyptische Mau“ zu wenig eingängig, um wirklich die Neugierde der Leser stillen zu können. 

 „Das Kreuz am See“ verfügt über wenige phantastische Elemente. Wie bei einigen anderen Geschichten dieser Sammlung ist sich der Leser nicht wirklich sicher, ob die Protagonisten bei ihrer Rückkehr ins Elternhaus erdrückt von den Erinnerungen Realität und Phantasievorstellung miteinander verbindet. Es ist eine vor allem auch gedankliche Reise in die Zeit, als die Eltern in Österreich noch Urlaub gemacht haben. Inzwischen sind sie im Rentenalter an den Ort gezogen. Die Autorin konzentriert sich vor allem auf Stimmungen und weniger auf einen stringenten Plot. Zusätzlich positiv ist, dass ihre Charaktere in „Das Kreuz am See“ wahrscheinlich am Bodenständigsten, am Realistischen erscheinen.

 Jede der Geschichten in „Über dem Abgrund der Himmel“ wird von farbigen bearbeiteten Bildern begleitet, welche die Stimmungen der einzelnen Texte gut einfangen. Zusammengefasst handelt es sich bei dieser innerhalb des im „Außer der Reihe“ veröffentlichten Kurzgeschichtensammlung um eine Sammlung von Texten, welche den Leser durchaus fordern, teilweise durch den Hang zur grotesken Übertreibung auch herausfordern. Am Zugänglichsten und trotzdem subtil sind die beiden in den „Agatha Christie“ Bänden veröffentlichten Texte, wobei „Über dem Abgrund der Himmel“ wahrscheinlich lange Zeit die Geduld der Leser strapaziert, bevor die Autorin mit einem hohen Tempo einen interessanten Bogen schlägt. Lesenswert auf eine ungewöhnliche, nicht unbedingt negativ gemeinte Art und Weise sind allerdings alle Texte. 

ÜBER DEM ABGRUND DER HIMMEL: Erzählungen

  • Taschenbuch: 164 Seiten
  • Verlag: p.machinery (3. Juli 2019)
  • Sprache: Deutsch
  • ISBN-10: 3957651581
  • ISBN-13: 978-3957651587
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