Blinde Stimmen

Tom Reamy

„Blinde Stimmen“ erscheint im Apex Verlag neu. Die bislang einzige deutsche Veröffentlichung erfolgte 1982 als kleiner Jubiläumsband 3900 im Heyne Verlag. Es ist der einzige Roman des Amerikaner Tom Reamy.

Der 1935 geborene Reamy begann Mitte der sechziger Jahre zwei Fanzines herauszugeben und organisierte eine Reihe von Cons. In dieser Zeit verfasste er zwar schon Kurzgeschichten, bot sie aber nicht den professionellen Magazinen an. Als talentierter Maler und Graphikdesigner arbeitete er auch kurze Zeit in Hollywood und war Requisiteur an der Softpornoproduktion „Flesh Gorden“, dessen Hauptdarsteller eine ausführliche Biographie mit einem Schwerpunkt über die Dreharbeiten des Films vor wenigen Jahren veröffentlichte. Hier finden sich auch einige Hinweise auf Reamys cineastisches Schaffen.

Ab 1974 widmete er sich nur noch dem Schreiben. Neben Anthologien erschienen seine wichtigsten Kurzgeschichten und kurzen Novelle in „The Magazine of Fantasy & Science Fiction“. Einige Jahre nach seinem frühen Tod sind die wichtigsten dieser Arbeiten in einer Anthologie zusammengefasst worden. Neben der Auszeichnung mit dem John W. Campbell Award als bester neuer Autor erhielt er 1975 den Nebula Award für „San Diego Lightfoot Sue“.

Zwei Jahre später starb Tom Reamy mit nur zweiundvierzig Jahren an einem Herzinfarkt über seiner Schreibmaschine. Im Nachlass fand man seinen einzigen hier wieder neu aufgelegten Roman „Blinde Stimmen“, der 1978 posthum veröffentlicht worden ist. Verschiedenen Quellen zufolge hat Tom Reamy die Korrekturarbeiten nicht mehr komplett anschließen können. Das Buch ist für den HUGO und den Nebula Award vorgeschlagen worden.  

Der Roman stellte den Amerikaner auf die gleiche Stufe wie Ray Bradbury. Vieles an „Blinde Stimmen“ erinnert auch an Bradburys verfilmtes Meisterwerk „Das Böse kommt auf leisen Sohlen“, wobei Bradbury die Verführung der unschuldigen Jungen eines kleinen Dorfes durch einen geheimnisvollen Wanderzirkus und dessen Direktor.

Tom Reamy dagegen konzentriert sich bei seinem Wanderzirkus auch auf unterdrückte sexuelle Energie der jungen Frauen, die vor ihren nicht selten ein wenig arrangierten Ehen noch ein erstes oder letztes Abenteuer erleben wollen.

Beide Geschichten spielen aber im mittleren Westen. Tom Reamy platziert seinen Roman in die zwanziger Jahre zwischen den implizierten Folgen des Ersten Weltkriegs und der sich immer stärker abzeichnenden Wirtschaftskrise. Ein wichtiger Hinweise ist das gleichzeitige Auftreten des geheimnisvollen Wanderzirkuses und der ersten Präsentation eines Tonfilms im örtlichen Kino. Ein Affront, den sich der Zirkusdirektor von der Dominanz bis Arroganz eines Haverstocks nicht bieten lassen kann. Er agiert auf eine sehr originelle Art und Weise.

Obwohl die drei jungen Mädchen eigentlich ins Kino gehen wollen, besuchen sie die Vorstellung des Kuriositätenkabinetts und seiner seltsamen „Wunder“.

 

Vor allem Rose hat ihre Zukunft mit einem vermögenden Mann fest im Blick. Sie begegnet einem der attraktiven Handlanger im Zirkus und verfällt ihm vor allem auch sexuell. Tom Reamy impliziert an einer anderen Stelle, dass der Kuriositätenschaubesitzer Haverstock auf attraktive Männer um sich herum setzt, ohne direkt eine mögliche Homosexualität anzusprechen. Auch die Idee, dass sie als Bauernfänger für den sexuell nicht zu befriedigenden Minotaur fungieren, wird an einer anderen Stelle wieder relativiert, in dem Haverstock vor allem Prostituierte anheuerte. Francine verfällt auf jedem Fall der Kraft des Minotaur. Diese „Beziehung“ löst abschließend auch die Katastrophe aus.

Alleine Evelyn ist fasziniert von dem mitleidserregenden wie mysteriösen Angel, das über die gleichen Kräfte wie Haverstock verfügt. Angel ist der Junge, der ohne weitere Erklärungen auch fliegen kann. Die amerikanische und die deutsche Heyne Ausgabe haben diese seltsame, unerklärte und im Grunde auch unerklärliche Fähigkeit haben ihren Titelbildern festgehalten.

Tom Reamy beschreibt die drei so unterschiedlichen Frauen gefangen in ihren ländlichen Dörfern sehr minutiös. Er nimmt sich Zeit, ihr Leben zu beschreiben, um es dann nachhaltig zu verändern oder gar zu zerstören.

Als Hommage an Ray Bradbury zieht sich aber auch ein anderer roter Faden durch den Roman. Zwei unternehmungslustige Jungen in den Sommerferien, der besten Zeit des Jahres. Im Gegensatz zu „Das Böse kommt auf leisen Sohlen“ greifen sie nicht direkt in das Geschehen ein. Sie sind Beobachter für die Leser. Am Ende geben nicht nur sie dem dunklen Plot eine leicht optimistischere Ausrichtung.

Und der Wanderzirkus. Bradbury setzt auf einen charismatischen „Dompteur“, der zahlreiche groteske Wunder der staunenden Bevölkerung präsentiert. Die Ausgangslage ist auch bei Tom Reamy gleich. Im Gegensatz zum ambivalenten  fast übernatürlich erscheinenden Schluss des Bradbury Romans initiiert Reamy die Katastrophe als impulsive Aktion. Am Ende versucht Haverstock seine Fähigkeiten zu erläutern, wobei er wie eine verrückte Mischung aus Dr. Moreau sowie dem jähzornigen Gandalf daher kommt.

Die finale Erklärung wirkt wie der Versuch, das Unbeschreibliche, den magischen Schrecken in Worte zu fassen. Hinzu kommt die finale Auseinandersetzung mit einem für den dunklen Roman fast unpassenden Happy End, in dem nicht nur die überlebenden Frauen, sondern einige der bislang geknechteten Schaustücke über sich hinauswachsen und gegen die dominanten Herrscher rebellieren.

Das Ende wirkt im Gegensatz zur ersten fast nur aus Stimmungen und Implikationen bestehenden Hälfte des Buches zugänglicher. Auf der anderen Seite setzt sich der finale Kampf auch aus bekannten Versatzstücken zusammen. Dabei schreibt sich Tom Reamy nicht immer richtig aus der Situation heraus, in welche er einige seiner Figuren gebracht hat, sondern versucht mit ein wenig Konstruktion und viel gutem Glauben die Schurken zu bekämpfen.

Tom Reamy hat aber eine klassische Geschichte aus dem mittleren Westen verfasst. Unabhängig von der überdurchschnittlichen Atmosphäre, dem deutlich schärferen Spiel zwischen verborgenen Leidenschaften und der Faszination des Morbiden ist es erstaunlich, wie schnell eine unter Druck erschaffene Gemeinschaft auseinanderfällt.

Vor allem für einen Kurzgeschichtenautor hat Tom Reamy in diesem wie eingangs erwähnt nicht abschließend bearbeiteten Roman ein sehr gutes Gespür wie Balance und Timing, Die erste Vorstellung des Zirkus wird ausführlich beschrieben. Vor allem aber nicht aus der Sicht der Erwachsenen, sondern der Jugendlichen und Heranwachsenden, deren erste Gefühle und vor allem die Sehnsucht nach sexueller Befriedigung/ Befreiung ihnen teilweise den Blick verstellen und sie noch stärker von dieser scheinbar zügellosen Gesellschaft in Beschlag nehmen lassen.

Routiniert und souverän bewegt sich Tom Reamy in diesem historisch märchenhaft erscheinenden Niemandsland zwischen der sich endgültig verabschiedenden Frontiergesellschaft und dem Verlust der Unschuld in Weltwirtschaftskrise und später Zweitem Weltkrieg. Mit nur wenigen Beschreibungen erschafft der Autor eine stimmige Atmosphäre.

„Blinde Stimmen“ bewegt sich allerdings auch in dem engen Korsett einer erweiterten sehr seltsamen und doch fesselnden Hommage eben an Ray Bradburys Meisterwerk und dem Erstling – leider auch letzten Buch – eines jungen stilistisch überdurchschnittlichen, sehr emotional schreibenden Autoren, der beginnt, sein Potential auszuloten. Es ist daher doppelt tragisch, dass seine literarisch kraftvolle Stimme verstummte, bevor sie volle Stärke erlangte.

Zusammen mit den wenigen Kurzgeschichten wirft „Blinde Stimmen“ ein Schlaglicht auf den dritten hellen Stern, der in den siebziger Jahren im Genre zu leuchten begann. Die anderen beiden sind natürlich John Varley und George R.R. Martin. Tom Reamy hätte mit mehr Zeit ihren Bekanntheitsgrad ohne Probleme erreichen können.       

 

 

BLINDE STIMMEN: Der Science-Fiction-Klassiker!

  • Taschenbuch: 334 Seiten
  • Verlag: Apex Verlag (25. Juni 2019)
  • Sprache: Deutsch
  • ISBN-10: 3748556721
  • ISBN-13: 978-3748556725