Kalifornia

Marc Laidlaw

 

In den achtziger Jahren veröffentlicht der Heyne Verlag mit „Neon Louts“ und „Kalifornia“ zwei Romane des Amerikaners Marc Laidlaw, der in den USA zu den konsequentesten, aber nicht unbedingt populärsten Cyberpunk Autoren gehörte. Zusammen mit Gibson und Sterling gehörte er zu den Pionieren dieses Subgenres. Nach einer Handvoll Romane zog er sich zurück, um eine Reihe populärer Videospiele zu entwickeln. Vor vier Jahren begann er mit seinem eigenen Debütwerk „Dad´s Nuke“ wieder anfänglich Bücher neu aufzulegen, sowie neue Geschichten zu publizieren.

Der Apex Verlag legt „Kalifornia“ zum ersten Mal auch als Ebook neu auf.

Aus heutiger Sicht greift Marc Laidlaw in seiner überdrehten Mediensatire nicht nur die Exzesse der Facebook und Instagram Generation auf, sondern bewegt sich rechtzeitig auf dem Pfad, den Fernsehserien wie „Max Headroom“ oder Kinofilme wie „The Truman Show“ nur wenige Jahre später emotional allerdings deutlich überzeugender gehen sollten. „Kalifornia“ ist eine von hohem Tempo geprägte Abrechnung mit der Mediengeilheit der Amerikaner. Dabei beleuchtet der Autor zwar nur die Seite der Macher und beschränkt sich hinsichtlich der fast süchtigen Konsumenten auf ein oder zwei Anmerkungen, aber alleine das reicht als Ausgangspunkt, um natürlich in fast grotesk überzogener Art und Weise entsprechende Eckpunkte zu setzen.

In einem Punkt wirkt der Roman aber aus der Zeit gefallen. Die fast fanatische Religiosität mit einer gänzlichen Abkehr von der sozialen Umgebung inklusiv der Integration fernöstlicher Strömungen sind genauso von der Realität überrollt worden wie die angebliche technische Dominanz Japans vor allem gegenüber den sozial erstarrten USA.

Dafür zeichnet Laidlaw ein interessantes, nicht nur zeitloses, sondern vor allem auch aktuelles Bild des Realty TVs mit seinen Sternchen, deren Herkunft genauso verwaschen ist wie die Faszination des Publikums ausgerechnet mit diesen künstlich Unbegabten. 

Die Figueroas sind die erste voll verdrahte Familie. Der nächste Schritt des Fernsehens.  Durch diese künstlichen Nervenverlängerungen können sie ihre Zuschauer eng bei sich haben. Die Sendung ist ein wahnsinniger Erfolg, die Quoten gehen durch die Decke, allerdings gibt es auch kein Privatleben mehr. Eine der Figueroas kommt bei einem seltsamen Unfall ums Leben, ein anderer hat sich aus dem Netz verabschiedet und möchte möglichst Offline leben.  Nur die schwangere Poppy erfreut immer  noch ihr Publikum. Sie plant eine erneute Sensation. Die Geburt ihres Babys. Das erste Kind, das quasi mit den Drähten auf die Welt kommt. Mit dieser Szene beginnt auch der Roman.  

Zusammen mit der Geburt des Kindes feiert Kalifornien zweihundert  seinen zweithundertsten Geburtstag.  Um die Dramatik zu steigern, soll Poppy unmittelbar nach der Geburt des Kindes bedroht werden. Auf der Flucht wirft sie ihr Baby in einen extra geparkten Lastwagen. Nur den falschen. Jetzt wird vor den Augen der entsetzten Mutter, aber auch einem Millionenpublikum das Baby entführt.

 Calafia oder wie es ihre Entführer später nennen Kalifornia ist aber nicht nur das erste Baby mit einem Netzwerk geboren, ihre Macht ist viel größer. Der rote Faden ist das Verbrechen, aber Marc Laidlaw öffnet im Gegensatz zu den dunklen Romanen eines Sterlings oder Gibsons ein anderes Tor. So will der erzkonservative Governor Kalifornien das Baby zu einem Symbol machen, das nicht nur seinen Staat über die Grenzen hinaus bekannt macht, sondern ihm auch Macht schenkt.

Auf der anderen Seite versucht der Opa des Babys das Kleine zu retten. Eine Tat, zu welcher seine Tochter nicht mehr in der Lage ist, da sie anscheinend zumindest kurzzeitig den Verstand verloren hat. Sandy ist als Identifikationsfigur ausgesprochen wichtig. Er hat jahrelang in diesem Medienzirkus gelebt und schließlich durch den Tod seiner Frau abgeschworen. Aber im übertragenen Sinne ist er nicht nur weiterhin sehr gut verdrahtet, vor allem ist er entschlossen, alleine und buchstäblich zu Fuß in die Höhle der Löwen zu marschieren: einem Viertel unterschiedlicher religiöser Kults und Fanatiker, das alleine schon derartig bunt und exzentrisch ist, das es einen eigenen Roman verdienen könnte.

Natürlich findet er dort sehr viel mehr als er erwarten konnte. Sein medienkritisches Weltbild wird weiter auf den Prüfstand gestellt, wobei abschließend nicht klar ist, ob nicht doch die falsche Reality TV Welt in diesem Fall die ungefährlichere Wahl für die Menschen ist. Die Alternative wird eher angedeutet und Marc Laidlaw ist sich auch nicht sicher, in welche Richtung er den Plot abschließend zufriedenstellend entwickeln möchte, aber die einzelnen grellen Lichter, welcher der Autor setzt, wirken wie ein Panoptikum unterschiedlicher Gesellschaft, im hippen Kalifornien untrennbar nebeneinander platziert.

Anstelle sich ausschließlich auf diesen grelle Medienwelt zu konzentrieren, fügt der Autor unter anderem mit den „Seehunden“ – hier wäre es sinnlos, Details zu verraten – ein weiteres groteskes Element hinzu, das technologisch zu herausragend erscheint, um wirklich überzeugen zu können. Es ist ein schmaler Grat, diese Veränderung von Menschen und indirekt auch Tieren abschließend zu beurteilen, aber teilweise wirkt es so, als wenn Marc Laidlaw von seiner grundlegenden und stringenten Handlung ablenken wollte, um dem Plot allerdings unnötig mehr Fleisch zu schenken.

  Auch „Neon Lotus“  setzt sich mit religiösen Kults auseinander.  Die klassischen Religionen werden genauso ignoriert wie mögliche Konflikte vor allem mit dem Islam. Marc Laidlaw Gläubige wirken wie aus einem fiktiven Niemandsland nach Kalifornien umgesiedelt mit einem Überbaby als Heilsbringer, das aber schnell an Verletzlichkeit verliert und quasi mit einer Art Rüstung ausgestattet zu einem neuen Fanal einer Technogruppierung werden könnte. Die bizarre Idee, eine Art künstliche Intelligenz nicht aus der Retorte, sondern dem Mutterleib zu erschaffen, wird allerdings zu wenig nachhaltig vorbereitet und erscheint manchmal ein wenig zu provozierend plakativ.

 Natürlich ist die Botschaft klar.  Die absolute virtuelle Welt ist ein Irrweg.  Die Menschen sollten wieder buchstäblich an die Luft und sich der Realität stellen. Aber im Gegensatz zu Gibsons Neoslums konzentriert sich Marc Laidlaw auf nur wenige Schauplätze und zeigt den Protagonisten stellvertretend für die Leser gar keine Alternativen auf.

Es empfiehlt sich, „Kalifornien“ als eine grelle Satire auf die Medien und ihre Sensationsgier anzusehen, die bei den bereiten wie im Grunde sinnestechnisch auch dummen Menschen auf offene Ohren trifft. Den Hype, der gegenwärtig um einzelne Formate gesponnen wird, konnte Laidlaw nicht ahnen. Mit einzelnen Szenen lässt er erahnen, welche Superstars diese einzigartige und anscheinend angesichts ihrer Popularität auch einzige vedrahtete Familie wirklich ist. Der Leser kann nicht prüfen, warum die manchmal ein wenig zu eindimensional und klischeehaft gezeichneten Figuren wirklich so besonders sind und Konkurrenten anderer Kanäle über lange Zeit keine Chance gelassen haben. Aber der Leser erkennt, wie geplant ihr Leben trotz der angeblichen Improvisationen wirklich ist.

Zusätzlich ist „Kalifornia“ dank des schrägen, aber nicht zynischen Humors; des hohen Tempos und der vielen verfremdeten, aber auch erkennbaren Schauplätze auch mehr als dreißig Jahre nach der Entstehung des Buches ein exzentrischer, erstaunlich „warmherziger“ Vertreter des Cyberpunks, dessen Protagonisten vor allem den perfiden kalifornischen Traum feiern, während um sie herum die Welt jegliche Vernunft verloren hat.    

 

 

 

KALIFORNIA: Ein Cyberpunk-Roman

  • Format: Kindle Ausgabe
  • Dateigröße: 1241 KB
  • Seitenzahl der Print-Ausgabe: 297 Seiten
  • Verlag: Apex
  • Verkauf durch: Amazon Media EU S.à r.l.
  • Sprache: Deutsch
  • ASIN: B079GSF64X