Obelisk

Stephen Baxter

Im ersten Kapitel präsentiert Stephen Baxter insgesamt vier leicht überarbeitete Geschichten, die im Universum seines Proxima- Ultima Doppelbandes spielen. Stephen Baxter spricht in seinem Nachwort davon, dass die Kurzgeschichten zuerst erschienen sind und für die Neuauflage den später verfassten Romanen angepasst worden sind.

Das Spektrum ist vor allem im ersten Abschnitt sehr breit. „Auf der Chryse- Ebene“  befinden sich zwei Jugendliche auf dem Weg zur Verlobten des Einen. Es handelt sich um eine arrangierte Hochzeit. Sie stoßen mit einem Flugzeug eines jungen Mädchens von der Erde zusammen, die nicht nur eine von den Chinesen zu Ehren der ersten Pioniere errichtete Steinpyramide besuchen wollen, sondern auch die Landestelle der ersten amerikanischen Sonde aufsucht.  Die beiden Fahrzeuge stoßen zusammen und die drei Menschen müssen versuchen, in der Einsamkeit des Mars bis zum Eintreffen der Retter zu überleben.

Stephen Baxter präsentiert einen eher klassischen Plot ohne große Überraschungen. Selbst die Auflösung wird positiv gesprochen zeitig vorbereitet. Die Figuren sind solide charakterisiert, wobei die romantische Handlungsebene nicht unbedingt Baxters Stärke ist.

Auch „Flucht aus Eden“  konzentriert sich auf die romantische Aspekte, wenn ein Paar eine Art Schäferstündchen am Ende einer Spritztour sucht, da in den überdachten Kolonien die Vereinten Nationen buchstäblich alles überwachen. Im Vergleich allerdings zu einigen anderen Texten ist der Plot eher sanft, die Abläufe erscheinen mechanisch.

Sehr viel interessanter sind die anderen in diesem Universum spielenden Texte.  Die Titelgeschichte „Obelisk“ hat das größte Potential. Ein Bürgermeister, der als Raumfahrer sein Schiff verloren hat, muss auf dem Mars einen opportunistischen Kapitalverbrecher beaufsichtigen, der fast aus Langeweile die Gesellschaft auf dem Mars voranbringen möchte und dazu immer neue Projekte entwickelt.  Diese erscheinen exzentrisch, sind aber ausgesprochen gut durchdacht.  Sie sollen die Marsianer innerlich antreiben.  Baxter präsentiert ein ausgesprochen interessantes Szenario, denn was anfänglich absurd erscheint wird hintergründig von dem im Grunde verurteilten Verbrecher nicht nur erläutert, sondern die Wechselwirkung zur gegenwärtigen Planung für die Zukunft extrapoliert.

 „Reise nach Amasien“  ragt unabängig vom Auftritt mit Erdschein aus den Romanen in anderer Hinsicht aus dem Proxima/ Ultima Komplex heraus. Während die anderen Geschichten das harte Leben der Siedler/ Pioniere streifen, konzentriert sich diese Geschichte auf künstliche Intelligenzen.  Drei künstliche Intelligenzen scheinen für eine geheimnisvolle Suche mehr und mehr Resourcen zu benötigen. Der Zweck ist der Singularität der Päpstlichen Akademie der Wissenschaften des Vatikans unbekannt, so dass sie ein künstliches Profil quasi durch den Cyberspace schickt. Stephen Baxter versucht  vor allem humanistische Aspekte in dieser Geschichte zu erörtern, ohne seine künstlichen Intelligenzen zu menschlich erscheinen zu lassen.  Wie in seinen Epen ist die langfristige, aus menschlicher Sicht fast unendliche Perspektive der künstlichen Intelligenzen inklusiv ihrer überwiegend logischen Vorgehensweise ein bestechendes Merkmal. Inhaltlich wahrscheinlich die am meisten herausfordernde Kurzgeschichte dieser Anthologie ist sie  auf der anderen Seite ein fast typisch zu nennender Baxter, dessen große, manchmal grandiose und manchmal unverständliche Ideen bis zu ein wenig zu flachen Ende gut in einer Art Novelle komprimiert präsentiert werden.

Der zweite Abschnitt mit den Alternativweltgeschichten überzeugt auch nicht durchgehend. Zwei Texte ragen aufgrund ihres inhaltlichen Gehaltes aus der Gruppe heraus, zwei andere Geschichten ähneln sich hinsichtlich der grundlegenden Struktur zu sehr und die letzten beiden Arbeiten wirken wie Exposes zu längeren Texten, die Stephen Baxter noch nicht verfasst hat.

„Das Jubilee Komplott“ spielt im Jahre 1887. Eine gigantische Brücke zwischen Frankreich und England wird zu Königin Victorias Thronjubiläum eingeweiht und zwei junge Männer wollen die freie Strecke für ein offizielles Autorennen nutzen. Stephen Baxter packt unglaublich viele Ideen in den Text. Anarchisten mit Anschlägen gegen die Regierung; Kriegsopportunisten, welche einen Ausbau der Eisenbahn verhindern wollen und schließlich impliziert auch eine gemischtrassige Liebesgeschichte. Das Ende ist frustrierend offen und viele der Ansätze werden nur angedeutet, aber selbst für die Länge der Geschichte nicht ausreichend extrapoliert.

Die beiden nächsten Geschichten „Das Schicksal und die Feuerlanze“ sowie „Das niemals blinzelnde Auge“ sind beides Krimis. In der ersten Geschichten wird der Sohn eines römischen Kaisers 1914 in London getötet. Das römische Reich ist eines der vier mächtigsten politischen Gebilde auf der Erde. Stephen Baxter baut eine interessante Variation ein. Das Opfer ist ein junger Gavrilo, der in unserer Gegenwart ja das Attentat auf den österreichischen Thronfolger verübt hat. Das Attentat droht in Stephen Baxters Parallelwelt auch den Ersten Weltkrieg auszulösen. Eine junge Frau hat das richtige Auge, um den Krieg zu verhindern. Der Hintergrund der Geschichte ist interessant ausgearbeitet, die Zwischentöne teilweise fast zu subtil gesetzt und die Auflösung des Attentats überzeugend. Trotzdem wirkt der Krimi als Ganzes betrachtet zu komprimiert entwickelt.

In „Das niemals blinzelnde Auge“ trifft ein Prototyp der Inkas im römischen Imperium ein. Während die Inkas ganz Amerika erobert haben, besetzt das römische Reich Europa. Stephen Baxter lässt die Geschichte im Jahr 1966 spielen. Im Gegensatz zu den Römern haben die Inkas aber nicht nur Flugzeuge, sondern noch eine ganz besondere Waffe im Köcher. Der Plot schließt frustrierend hektisch. Die Welt ist faszinierend und die Details erinnern an Christopher Evans heute nur noch antiquarisch zu erhaltenden Roman. Auch die politischen Ränkespiele werden gut entwickelt. Selbst der salomonische Vorschlag am Ende kann gefallen. Nur hat sich Stephen Baxter nicht die Mühe gegeben, den Plot wirklich vielschichtig und seinem Potential gemäß zu entwickeln.    

Aus Episoden besteht „Eagle Song“. Die Beobachtungen eines seltsamen Sterns beginnen im Jahre 7150 v. Christus und enden fast zehntausend Jahre später. Jede Beobachtung des Sterns ist gleichzeitig auch ein Meilenstein in der kulturellen Evolution der Menschen.   Aus diesen Episoden hätte Stephen Baxter einen klassischen Roman seiner Fasson machen könnten. Zurückbleiben nur eine Reihe von in dieser Form eher oberflächlichen Anekdoten.

Die beiden besten Geschichten dieses Abschnitts vereinigen eine interessante alternative Handlung, gut gezeichnete Protagonisten und teilweise ein moralisches Problem. „Das Darwin- Anathema“ ist fast perfekt. Eine junge Wissenschaftlerin reist in dieser alternativen Welt aus Terra Australis in ein streng religiöses Europa an, um am Inquisitionsprozess nicht etwa gegen den  vor vielen Jahren verstorbenen Charles Darwin beizuwohnen, sondern dessen Enkelin, die stellvertretend für den Forscher Abbitte leisten soll.  Stephen Baxter beschreibt die Engstirnigkeit der katholischen Kirche und setzt sich mit der Idee auseinander, dass vor allem Galileo hätte als Märtyrer sterben müssen, um die Dogmen zu durchbrechen. Auch die rückblickend intelligente wie subversive Auflösung der Prozessproblematik überzeugt neben den gut gezeichneten Protagonisten. 

„Der Mars bleibt bestehen“ ragt aus diesem Block in anderer Hinsicht heraus. Es ist die einzige Geschichte, in welcher Baxter quasi nach vorne schaut und nicht eine wenn auch nähere wie veränderte Vergangenheit präsentiert.

Der letzte Mensch auf dem Mars berichtet angesichts des 50. Jahrestags der Landung auf dem roten Planeten von der tragischen Kolonisierung der Welt; den originellen wie tödlichen gefundenen  Daten der Expedition und schließlich der Tatsache, dass in dieser Welt der kalte Krieg wirklich heiß geworden ist. Viele Ideen sind nicht unbedingt neu und wurden von anderen Autoren meistens in Romanform umgesetzt. Aber der fatalistische Grundton in Kombination mit einigen gelungenen Charakteren hebt den Text aus der Masse anderer Alternativweltstorys nicht nur in dieser Sammlung sehr positiv heraus.

Der nächste Abschnitt besteht im Grunde nur aus zwei Geschichten.  In „Die Pevatron- Ratten“ erscheinen Ratten in einem Mega- Hochenergie- Beschleuniger und verschwinden am Ende auch wieder auf die geheimnisvolle Art und Weise. Es ist eine klassische Stephen Baxter Geschichte,  die in typischer  Manier des Autoren in diesem Fall physikalische Probleme mit einer wilden Evolutionstheorie verbindet.

„Die Venus- Invasion“  beschreibt einen interstellaren Krieg, den die Menschen staunend von der Erde aus beobachten. Die Folgen sind gigantisch, ohne das die Protagonisten eine Idee haben, um was es wirklich geht. So schießen die Spekulationen ohne Frage ins Kraut, während das Selbstbewusstsein der ignorierten Menschen immer weiter sinkt.

Wie viele Texte Stephen Baxters handelt es sich vor allem um intellektuelle Spielereien,  die überraschend und provokativ zugleich sind, während die eigentliche Texte ein wenig zu sperrig und zu distanziert erscheinen.  

Der letzte Abschnitt zeigt die Stärken und Schwächen des Autoren sehr gut auf. In „Artefakte“ geht es ebenfalls um Ereignisse, welche die Menschen nicht wirklich verstehen können. Ein Ereignis im Multiversum ruft Fragen nach dessen Struktur auf.  Am Ende dieser philosophischen Kette steht natürlich die Frage nach dem Beginn und dem Ende der Schöpfung.

„Vabanque“ beschreibt das Schicksal eines angeblich elfjährigen Matt, der sich plötzlich ohne Mitmenschen umgeben von künstlichen Intelligenzen auf de „Erde“ wiederfindet. Die Auflösung des Plots ist eher pragmatisch und der Leser fühlt sich an der Seite Matts lange Zeit absichtlich, aber unbegründet in die Irre geführt.

„Vacuum Lad“ lebt von der Idee, das ein Shuttle Passager aus dem Nichts heraus eine besondere Fähigkeit an sich entdeckt. Er kann im Vakuum überleben. Auch hier wird keine überzeugende Begründung geliefert und der Plotverlauf ist eher mechanisch.

Die beste Story dieses Abschnitts ist  „Starcall“. Ein Vater schenkt seinem Sohn die Möglichkeit, mit der KI einer von Menschen ausgesandten Sonde zu kommunizieren. Je weiter die Sonde sich aus dem Sonnensystem entfernt, desto länger brauchen natürlich die Nachrichten. Schließlich sind die Abstände fast zehn Jahre. Der Erzähler berichtet der Sonde von den Höhen und Tiefen seines Lebens, bis die letzte Nachricht schließlich vom Enkel kommt. Sie beinhaltet eine ausgesprochen optimistische Nachricht für die Sonde,  die eher Autoren wie Clarke oder Heinlein, aber weniger Baxter entspricht. Die lesenswerte, emotional ansprechende, aber nicht kitschige Story ist ein sehr guter Abschluss für eine ansonsten eher ambivalente Kurzgeschichtensammlung. 

Grundsätzlich ist Stephen Baxter ein Romancier. Er benötigt Platz, um seine Ideen auszubreiten und über lange Zeiträume zu erzählen. Die Novelle ist normalerweise die kürzeste Form, auf welche der Brite zurückgreift. Daher wirken einige seiner Kurzgeschichten eher wie Entwürfe als ausgereifte Arbeiten. Wer Stephen Baxter kennenlernen möchte, macht grundsätzlich mit dieser Sammlung nichts falsch. Alle Facetten seiner thematischen Tiefe von den Alternativweltstorys über bizarre naturwissenschaftliche Ideen bis zu reinen Space Operas sind vorhanden.  Wer sich mit Stephen Baxters Werk auskennt, wird eher enttäuscht sein. In vielen Punkten sind seine Roman zufriedenstellender.  

Obelisk: Erzählungen

  • Taschenbuch: 512 Seiten
  • Verlag: Heyne Verlag; Auflage: Deutsche Erstausgabe (11. März 2019)
  • Sprache: Deutsch
  • ISBN-10: 3453319451
  • ISBN-13: 978-3453319455
  • Originaltitel: Obelisk