Kugelblitz

Cixin Liu

Der Heyne Verlag kehrt mit „Kugelblitz“ zu einer alt bekannten Tradition zurück. Markante Werke eines Autoren zuerst zu veröffentlichten, um die Öffentlichkeit anzufüttern. Später werden frühere Arbeiten nachgeschoben und der Eindruck erweckt, als handele es sich um deren neuste Arbeiten.

 „Kugelblitz“ stammt ursprünglich aus dem Jahr 2000 und ist unter dem für China frühen, für die restliche Welt späten Eindruck von Arthur C. Clarkes bekannteren Werken entstanden. Vier Jahre später hat der Autor den Text noch einmal grundlegend überarbeitet. Die vorliegende Fassung ist das Werk der im übertragenen Sinne letzten Hand. Es lohnt sich, das Nachwort zu erst zu lesen. Cixin Liu geht dabei weniger auf den vorliegenden Roman ein, sondern auf den Einfluss Arthur C. Clarkes auf die chinesische Science Fiction, aber auch ihn persönlich.

 Der Roman unterscheidet sich deutlich vom ambitionierten Drei- Sonnen Epos. Viel mehr erinnert es an die klassische Science Fiction, die Arthur C. Clarke nicht in den sechziger, sondern vor allem den fünfziger Jahren verfasst hat. Der Handlungsbogen ist trotz eines Umfangs von mehr als fünfhundert großzügig gesetzten Seiten stringent. Vor allem im mittleren Abschnitt verfängt sich der Autor in einigen Nebenhandlungen, die nicht konsequent genug zu Ende gedacht worden sind.

 Durch das ganze Buch zieht sich die Idee der Bestimmung. Der Ich- Erzähler als Mann ohne Vornamen wird vom dem frühen Tod seiner Eltern geprägt. Sie kommen beim Einschlag eines der seltenen Kugelblitze ums Leben, während ihr Sohn im gleichen Raum unverletzt, aber in der Seele verletzt überlebt. An einer anderen Stelle lernt er eine junge Frau kennen, deren Mutter im Krieg gegen die Vietcong ihr Leben geopfert hat, um ihre Einheit zu retten. Seitdem ist sie von der Produktion perfider Waffen fasziniert und sucht anscheinend imaginäre Rache im Grunde gegen alle. Ein Professor lehrt in seinem Elfenbeinturm, isoliert von der Welt und irgendwann auch von den Grundlagen seiner Forschungen, ohne das ihm die tödliche Langweile wirklich bewusst wird. 

 Dabei zerfällt das Buch allerdings politisch. Für chinesische Leser ist akzeptabel, das sich die Forscher den Wünschen des Militärs und dem Politbüro unterordnen, da es bei der Entwicklung neuer Superwaffen um die potentielle Bekämpfung eines Feindes geht. Andeutungen wie der Name eines deren Flugzeugträgers deuten auf Amerikaner. Mit Russland verbindet China allerdings eine innigere Freundschaft, wie die Reise des Protagonisten Chen bis ans Ende der Welt nach Sibirien in ein Plattenbaulager mit viel Einsamkeit und Wodka beweist.

 Nicht nur die Amerikaner dienen als Feindbild, sondern eine Wissenschaftler hassende Terrorgruppe greift nach deren Experimenten. Die Motive wirken eindimensional beschrieben und ihre Aktionen in einem kontrollwütigen Land wie China aus der hohlen Hand entwickelt, aber nicht wirklich gründlich vom Autoren durchdacht. In beiden Passagen hat der Leser das unbestimmte Gefühl, als verzichte Cixin Liu nicht nur auf Sozialkritik, sondern als wenn er die chinesischen Leser und damit auch die Öffentlichkeit in Sicherheit wiegen will, um die Herzensangelegenheit seines Buches – vorurteilsfreie Forschung – hinterrücks wie hintergründig zu begründen.

 Weder überzeugen wie angesprochen die politischen Abschnitte oder gar die Charakterisierung der durchgehend hölzernen Protagonisten. Cixin Liu findet auch über den ganzen Roman keinen echten Zugang zu seinen  Figuren. Dabei ist das traumatische Erlebnis ja der Auslöser seiner Suche im Grunde auch nach Erlösung. Hinzu kommt die Implikation, dass die Kugelblitze „Wesen“ sein könnten, deren Missionen aber eher in den esoterischen Bereich verlagert und damit nur bedingt handlungsrelevant sind. Immer wenn Cixin Liu diesen Bogen zu schlagen sucht, scheut der Autor im nächsten Kapitel vor den entsprechenden Folgen zurück und relativiert die aufgeworfenen Ansätze. 

 Der Protagonist ist ohne Frage ein genialer Wissenschaftler, der mit seiner Obsession hinsichtlich des seltenen Phänomens der Kugelblitz vor allem das Schicksal seiner Eltern aufklären und die Hintergründe des bekannten „warum sie und nicht ich“ Verfahren verstehen möchte.

 Aus diesem Ansatz heraus entwickelt Chen eine moderne Waffen, gegen die es anfänglich leichte Abwehr- bzw. Umleitungsmöglichkeiten gibt.   Die nächsten Schritte seiner Forschungen finden nicht zuletzt aus moralischen Gründen finden im Off statt. Ein Kollege hält ihn auf dem Laufenden  erläutert ihm stellvertretend für den Leser die weiteren Fortschritte.

 Dabei sind die Beschreibungen der Kugelblitzexperimente inklusiv der an Hurricanejäger erinnernden Helicopterflüge sehr viel dramatischer und interessanter als diese an Klischees erinnernden Beschreibungen, die keinen aktiven Einfluss erstens auf die Handlung und vor allem zweitens auf die Ausgangsprämisse haben. Immer wieder wird betont, dass die sozialistische Gesellschaft auch profitlose Forschung zulässt und sich Professoren an bestimmten Unis ihr Leben lang „verstecken“ und unterrichtend forschen können, ohne das es dem Gemeinwohl wirklich in den Sinn kommt. Daher wirkt die Affinität des naiven Doktor Chens eher verstörend als ansprechend. Kaum ist das Militär auf seine grundsätzlich im Grunde irrationale Forschung aufmerksam geworden, behalten sie ihn bis zu einem opportunen Zeitpunkt in ihren Krallen und lassen ihn dann gegen alle Logik nicht nur laufen, sondern mit seinen Nachfolgern und wiederum Geheimnisträgern fast öffentlich in Kontakt treten. Da konstruiert Cixin Liu einen Handlungsbogen, der selbst außerhalb von China unglaubwürdig erscheint.

 Wie angedeutet ist das Überfall einer terroristischen Gruppe von superintelligenten Menschen der absurde und vielleicht traurige zu frühe Höhepunkt dieser Geschichte. Cixin Liu versucht ihre Motivation so ausführlich darzustellen und vordergründig Unterschiede zu Chen zu etablieren, die es nicht gibt und die für den Leser klarer erkennbar sind als für den Autoren.

 Gegen Ende impliziert Cixin Liu nach der überzogenen Kriegstreiberei und den Terroristen, dass hinter den Kugelblitzen vielleicht doch mehr Metaphysisches stecken könnte.

 Dazu kommen die Beschreibungen sowohl der chinesischen und russischen Alltagswelt abseits der fast martialisch patriotisch erscheinenden Säbelgerassel der jeweils Obrigen bis hin zu den namenlosen Staatsführern.  Das „einfache“ alltägliche Leben findet immer einen Weg, mit den Schwierigkeiten fertig zu werden. Es sind diese Beschreibungen, die dem Roman stärker einen östlichen Charakter verleihen als die statisch wirkenden zwischenmenschlichen Beziehungen oder die Jagd nach dem Geheimnisse der Kugelblitze und daraus resultierend einer nur in der Theorie die Energie effektiv nutzenden sauberen Waffe, die dem Leser im Gedächtnis bleiben.

 Cixin Lius Roman erinnert über weite Strecken an die chinesische Science Fiction, die in wenigen Anthologien wie zum Beispiel Goldmanns „SF aus China“

  

Kugelblitz: Roman

  • Broschiert: 544 Seiten
  • Verlag: Heyne Verlag; Auflage: Deutsche Erstausgabe (11. Mai 2020)
  • Sprache: Deutsch
  • ISBN-10: 3453320301
  • ISBN-13: 978-3453320307
  • Originaltitel: 球状闪电 (Ball Lightning)