Das Tor

Basma Abdil Aziz

Der Heyne Verlag legt mit „Das Tor“  eine Dystopie einer ägyptischen Autorin vor.  Basma Abdel Aziz ist 1976 in Kairo geboren worden. Sie lebt auch noch in der ägyptischen Hauptstadt. Sie arbeitet als Künstlerin, Schriftstellerin und Psychiaterin mit einem Schwerpunkt der Behandlung von Folteropfern. Vielleicht sind deswegen diese Passagen so verstörend in ihrer auf den ersten Blick zwangsläufigen Simplizität und zeigen die langfristigen Auswirkungen der erlittenen Qualen überdeutlich.

Auch wenn „Das Tor“ ein politisches Roman ist, konzentriert sich die Autorin auf das Schicksal einer Gruppe von Menschen, welche die Wirren einer Demonstration und schließlich das Tor als Schiedsgericht zusammenführt und gegen Ende der Geschichte auch wieder auseinandertreibt. Alle Einflüsse des gesichtslosen Herrschers oder der an Kafka erinnernden Bürokratie werden hinsichtlich ihrer Auswirkungen auf die einfachen Bürger beschrieben. Und zwar ausschließlich aus deren Perspektive.

So rückt der Leser viel näher an das ohnmächtige Volk heran, das fatalistisch sich dem Schicksal „beugt“, aber immer wieder Nischen findet, um das Leben am Rande des Existenzminimums erträglicher zu machen.

Um den legendären italienischen Klassiker „der Leopard“ zu zitieren, muss sich in dem namenlosen Land im Nahen Osten alles ändern, damit es bleibt, wie es ist. Die Autorin spricht von der Niederschlagung einer Revolution gegen das herrschende monarchische System. Die Folgen erfährt der Leser gleich zu Beginn, als in einem Krankenhaus mehrere Menschen mit Schussverletzungen eingeliefert werden, denen der Arzt im Grunde weder helfen kann noch will. Er will es im Unterbewusstsein nicht gleich, weil er weiß, dass es Ärger mit den Milizen geben wird.  Im schlimmsten Fall könnte er selbst zu den revolutionären Kräften gezählt werden. Er kann es nicht, weil es eine Anweisung gibt, dass Opfern mit Schussverletzungen nur in den Militärkrankenhäusern behandelt werden dürfen.

Damit das Regime die eigenen Opfer besser isolieren und verschwinden lassen kann. Ein angeschossener junger Mann wird wie viele Jahre vor ihm James Mason im Belfaster „Odd Man Out“ durch die Stadt wanken, immer schwächer werdend. Niemand kann ihm wirklich helfen. Ob die Gesetzeslücke schließlich zu spät kommt, bleibt offen. Aber er ist ein Symbol für eine nur in der Theorie funktionierende komplette Kontrolle der Menschen durch den Staat. Höhepunkt dieser Odyssee ist die Nachricht, dass es sich bei den Schusswechseln um Dreharbeiten zu einem Film handelt. Natürlich dem größten und möglicherweise auch erfolgreichsten Film aller Zeiten. Daes sich um Filmaufnahmen handelt, können die Menschen keine Verletzungen erlitten haben und die Schusswunden sind nur fiktiv.

Oder eine Lehrerin lässt eine ihrer Schülerinnen einen Aufsatz vorlesen, der sich kritisch, aber nicht atheistisch mit einem Buch auseinandersetzt. Das Gespräch wird heimlich aufgezeichnet und dem Direktor vorgespielt. Am nächsten Tag muss die Lehrerin zum Direktor. Angeblich sind ihre Papiere nicht in Ordnung und sie muss zu den Behörden, um diese zu vervollständigen, damit sie weiterarbeiten kann.

Eine Frau gibt gegenüber ihrem Bäcker zu, nicht für die Partei seiner Wahl gestimmt zu haben. Er weigert sich, ihr Brot zu verkaufen. Auch ändere Bäcker schließen sich diesem Streik an. Die frau will sich beschweren und muss zu den entsprechenden Behörden.

Direkt oder indirekt finden sich alle die Menschen vor dem Tor wieder. Vor einem der Tore, wie sich später herausstellt.

Die Menschen brauchen für alles die Genehmigung des Staates und dessen Beamten.   Als Symbol ihrer Macht gibt es die gigantischen Tore. Angeblich sollen sie sich einmal pro Tag öffnen und eine gewisse Anzahl von Anträgen soll genehmigt oder abgelehnt werden.  Tatsächlich öffnet sich das Tor niemals, auch wenn die Schlange der Menschen in senkender Hitze immer länger wird, bis Kleinbusse die quasi abfahren, um das Treffen von Wartenden zu ermöglichen.  Auch wenn niemand einen Menschen kennt, dem das Tor einen Bescheid gegeben hat, wollen die Menschen nicht aufgeben und so entwickelt sich in mannigfaltiger Hinsicht eine Art Subkultur, die im Grunde mehr und mehr außerhalb der staatlichen Kontrolle lebt und trotzdem auf die Weisungen des Herrschers wartet. Eine schizophrene Ausgangslage.

Aus westlich konservativer Sicht wirkt die soziale Lage in dem Land chaotisch. Die Versuche, die Menschen zu kontrollieren sind bedenklich. Telefonüberwachung, Bespitzelung, Verschleppung und Druck auf anders denkende. Je mehr Druck der durchgehend gesichtslose Staat ausübt, umso mehr Menschen verabschieden sich aus dem System. Das folgt in zwei Schritten. Die Weisungen werden hinterfragt, bevor sich erst subtiler Widerstand bildet, der schließlich in mehr oder minder offenen Protesten gipfelt.

Die absurden Behauptungen des Staates – keine Schießerei, dann Filmaufnahmen – wirken wie die Fake News, welche es inzwischen fast unmöglich machen, die Wahrheit zwischen ihnen zu erkennen. Es ist kein Wunder, das ein gigantisches Tor – es gibt andere Tore, die aber nur nebenbei erwähnt werden – als Symbol ausgewählt worden ist. Ein Tor trennt immer Menschen. Die ursprüngliche Aufgabe des Tores in Kombination mit den gigantischen Mauern ist es gewesen, den Menschen innen Schutz vor den Unbilden draußen zu gewähren. Inzwischen dient es nur noch als Bannmeile zwischen den Menschen drinnen- staatliche Organe inklusive der Beamten und des Herrschers – und dem gemeinen Volk draußen, das mit der Möglichkeit eines weisen Urteils stoisch gefangen gehalten werden soll. Zynischer Höhepunkt ist der Bau einer weiteren Mauer um die Wartenden, damit sie Schutz erhalten. Im Grunde will der Staat sie auf dieser Art und Weise außer Sichtweise schaffen.

Die Autorin kann keine Antworten anbieten. Sie beschreibt Zustände und sucht keine weiterführenden Erklärungen. Damit folgt sie eher Kafka als Orwell, der in „1984“ einen komplexen menschenverachtenden Staat etabliert hat. Vieles bleibt bei ihr vage. Das macht auch einen Teil der Faszination aus. Es ist anscheinend ein fortlaufender Prozess, welcher der für die Einwohner vieler der indirekt kritisierten, aber klar erkennbaren frustrierenden Realität entspricht und alltäglichste Sachen schwierig bis unmöglich macht. Ihnen bleibt nur die Möglichkeit, auf die immer absurden erscheinenden Ereignisse zu reagieren, anstatt aktiv zu agieren und damit auf einer sehr viel kleineren Ebene die sozialen Strukturen pragmatisch aufrechtzuerhalten.

„Das Tor“ ist keine klassische Anti Utopie oder gar ein Science Fiction Roman. Das Tor ist auch eher ein Symbol als ein aktives handlungsrelevantes Element. Es könnte auch durch einen Schrein oder eine Statue ersetzt werden. Die Handlung spielt in der Gegenwart. Es gibt Mobilfunktelefone, es gibt Computer und die eingesetzten Waffen sind erschreckend realistisch. Die Zustände vieler angeblich schon demokratischer arabischer Republiken werden mit einer pragmatischen Effektivität entlarvt und angeprangert, ohne das die Autorin Ross und Reiter benennen muss. Sie zeigt ihre normal bürgerlichen Protagonisten gefangen zwischen einer über Generationen vererbten devoten Haltung gegenüber dem Staat und der Erkenntnis, dass es auch anders gehen kann und vor allem im Westen auch geht.

Der kurzweilig zu lesende Roman mit einer Prise fast zynischen zu nennenden Humor, aber auch vielen Erkenntnissen hinsichtlich des sozialen Zusammenlebens in diesen Staaten erzählt von einer Augenzeugin und nicht den distanzierten, manchmal belehrend klingenden Reportagen und Reiseberichten gibt dem Roman eine beeindruckende Realität und Dreidimensionalität.

„Das Tor“ ist vielleicht nicht perfekt. Dazu ignoriert die Autorin einen fortlaufenden Handlungsbogen und bleibt manchmal zu sehr im allerdings dann überzeugenden Detail hängen. Sie zeigt ein Stillleben, am Ende des Romans kommt zumindest einer der Protagonisten zu der Erkenntnis, dass er seinen Eid als Arzt über die Gesetze der Regierung stellen muss. Er verabschiedet sich wie einige andere Protagonisten aus dem unmenschlichen System. Was die Stärke des Buches aber ausmacht, ist der im Leser verbleibende Wunsch, dass es ihnen allen gelingen wird und sie dadurch nicht nur ihr eigenes Leben positiv verändern können, sondern sich ihr Land selbst ändern wird. Damit „Der Leopard“ Unrecht hat und es sich nicht alles nur ändern muss, damit es bleibt, wie es ist.

Das Tor: Roman