Forever Magazine 70

Neil Clarke (Hrsg.)

Herausgeber Neil Clarke weist auf die fünfte von ihm zusammengestellte „Year´s Best“ Anthologie hin. Wahrscheinlich die einzige verbleibende Zusammenstellung der besten Kurzgeschichten in diesem Jahr.

 Sowohl die beiden kürzeren Arbeiten als auch die Novelle von James Patrick Kelly stehen mittelbar oder unmittelbar in einem Zusammenhang mit anderen Arbeiten der jeweiligen Autoren. Neil Clarke hätte James Patrick Kelly einen großen Gefallen tun können, in dem er einmal das bisherige Konzept umgestoßen und „The Last Judgment“ zusammen mit der ersten Novelle „Men Are Trouble“ veröffentlicht hätte. „The Last Judgment“ baut auf der ersten Geschichte auf.

 Auch die einzigartige Mischung aus dem Film Noir im Allgemeinen mit einer weiblichen Detektivin, dem entsprechenden Stil sowie James Tiptree jr. bizarren Kurzgeschichten hätte sich in der Kombination besser entfalten können. Zwar geht James Patrick Kelly auch in der zweiten Story auf den einzigartigen Hintergrund ein, aber in der ersten Geschichte entfaltet sich das Thema ausführlicher.

 Beide Geschichten spielen in der Erde. Vor mindestens fünfzig Jahren sind Außerirdische auf der Erde erschienen und haben alle männlichen Bewohner verschwinden lassen. Die verbliebenen Menschen haben sich einfach Teufel genannt. Nach dem sozialen Chaos, dem wirtschaftlichen Niedergang haben sich die Frauen mit ihrem Schicksal abgefunden und eine eigene Gesellschaft aufgebaut. Das restliche verbliebene Sperma in den Samenbanken hält die Rasse aufrecht. Aber der Übergang in eine homosexuelle Gesellschaft ist nicht ohne Zwang abgelaufen. Waffen sind verpönt, aber nicht alle wurden zu Flugscharen umgeschmiedet.

 Die Außerirdischen haben den Menschen aber noch ein zweites „Geschenk“ hinterlassen. Kleine metallene Roboter, welche alle Wünsche den Frauen erfüllen. Sie erinnern zwar nicht an die erdrückenden Humanoiden aus zum Beispiel Jack Williamsons „Wing 4“ Geschichten, aber ihre Allgegenwart; ihr Wille, möglichst viele Wünsche im Keim zu erfüllen, könnte die weitere Entwicklung der Frauen auch ausbremsen.

 In der ersten Geschichte sollte die Detektivin Hardaway den Selbstmord der Tochter ihrer Klientin untersuchen. Auch in der zweiten Novelle ist Selbstmord lange vor Gewaltverbrechen und natürlichen Tod durch Alter die höchste Sterberate. Die Frauen werden angesichts der fehlenden Männer immer verzweifelter. Während die erste Geschichte dank der Ermittlungen vor allem die schmierigen Viertel der Großstadt als klassische Hommage an Chandler oder Hammett zum Ziel hatte, spielt die zweite Novelle eher in der Oberschicht.

 Hardaway soll ein verschwundenes Bild seiner älteren Besitzerin zurückbringen. Sie weiß, wer und warum sie es gestohlen hat. Es soll möglichst keine Aufmerksamkeit auf das unendlich wertvolle Bild gerichtet werden. Natürlich findet Hardaway bei ihren Ermittlungen schnell eine Leiche.

 Beide Geschichten zeichnet wie erwähnt das interessante wie bizarre Hintergrund aus. James Patrick Kelly entwickelt aber keine abgehobene Gesellschaft, sondern zeigt die Verzweifelung selbst der Frauen, die niemals einen Mann persönlich gesehen haben, auf, das andere Geschlecht auf die eine oder andere Art wieder erstehen zu lassen. Natürlich haben die Außerirdischen bis zu einem bestimmten Grat vorgesorgt. Es werden nur Mädchen geboren. Die verschiedenen Lösungsansätze sind dabei interessanter als der ganze Fall. Kelly erzählt seinen Plot ausführlich, fast ausschließlich auf die charakterlichere Ebene. Die Protagonisten mit ihren Hoffnungen und Zweifeln sind gut getroffen worden. Selbst die Detektivin hat als das Kind erziehende Partnerin eine weiche Seite. Da hilft auch nicht, dass James Patrick Kelly gerne vor allem Raymond Chandlers Stil imitiert.

 Die Auflösung des Falls ist in „The Last Judgment“ ambitionierter und geht weit über die sozialen Strukturen hinaus. Hier liegt vielleicht auch die einzige Schwäche der Novelle, den angesichts der einzelnen Herausforderungen gibt es für Hardaway im Grunde keine Bedrohung. Der Spannungsbogen konzentriert sich ausschließlich auf das immer vielschichtiger werdende „Warum“, ohne das „wie“ zu berücksichtigen. Am Ende bleibt beim Leser allerdings der Eindruck bestehen, dass ein wenig miteinander sprechen sowohl den Diebstahl als auch den anschließenden Todesfall hätte verhindern können.

 Diese besonderen Novellen haben James Patrick Kelly aus der Masse der Kurzgeschichten und Novellenautoren heraus. Es fehlt ihnen nicht ein wenig subversiver Humor, aber generell legt der Autor sehr viel Wert auf eine konsequente Atmosphäre; dreidimensionale, wenn auch ein wenig exzentrische Protagonisten und einen Aufhänger für die Handlung, der dem Leser im Gedächtnis bleibt.    

 Lavie Tidhars „Vladimir Chong Chooses to Die“ spielt in seinem „Central Station“ Universum. In diesem Fall ist der Hintergrund irrelevant. In einer ferner Zukunft leben die Menschen extrem lange, sie sind aufgrund des medizinischen Fortschritts nahe an der Unsterblichkeit. Vladimir Chong möchte sterben, weil seine Erinnerungen schwinden und er sich nicht mehr als vollwertiger Mensch fühlt. Er kann sie nicht mehr ordnen und fühlt sich von ihnen getrieben.

 Eine emotionale, aber nicht kitschige Geschichte, in welcher Lavie Tidhar die Todessehnsucht von Menschen anspricht, ohne sie zu beurteilen oder zu verurteilen. Es ist schwer, für einen gesunden Menschen zu verstehen, dass es Krankheiten und Situationen gibt, welche den Betroffenen so einschränken, dass vielleicht nur noch der Tod ein Ausweg ist. Die Charaktere sind überzeugend gezeichnet worden, die Art des Todes surrealistisch und eindrucksvoll zugleich.

 Der von Lavie Tidhar bevorzugte intime, unauffällige Stil rundet eine lesenswerte, nachdenklich stimmende Kurzgeschichte sehr zufrieden stellend ab.

 Yoon Ha Lees „Extracurricular Activites“ ist die dritte Story dieser Ausgabe, die in einem schon entwickelten, aber wie bei Lavid Tidhar nicht notwendigerweise präsenten Universum spielt.

 Die Novellette ist für den HUGO 2018 nominiert worden. Sie erschien und ist noch im Internet auf der TOR.com Seite erhältlich, so dass der Nachdruck nur bedingt Sinn macht. Sie spielt in Lees “Machineries of Empire“ Serie.

 Shuos Jedao soll nach einer besonderen Mission befördert werden. Eine Crew ist von den Gwa-an gefangen genommen worden. Sie werden an Bord der Du Station festgehalten. Zusammen mit einer Gruppe von freien Piraten will er sich an Bord der Station einschleusen, aber die Mission steht natürlich von Beginn an unter keinem guten Stern.

 Der Hintergrund wirkt bizarr. Die Ladung besteht zum Beispiel aus Gänsefett, was für einige nicht immer gute Witze sorgt. Zusammen mit dem Protagonisten landet der Leser in einer Ecke ihres Universums, das nur bedingt bekannt ist. Auf Augenhöhe verfolgt man so die Aktionen, aber vor allem die immer verzweifelter werdenden Reaktionen des auch durch die Beförderung unter Druck stehenden junges Mannes. Der Plot ist von einem hohen Tempo gekennzeichnet, aber die einzelnen Versatzstücke wirken weniger originell als der Hintergrund.

 Witze über das Gänsefett und andere „Flüssigkeiten“ halten die einzelnen Episoden der Geschichte besser zusammen als die eigentliche Mission. Wie bei asiatischen Filmen ist der Humor gewöhnungsbedürftig und nicht immer nach dem westlichen Geschmack. Die Grenze zwischen lustig und peinlich wird mehrmals in beide Richtungen überschritten und die einzelnen Actionszenen werden eher dürftig durch das Gänseschmalz zusammengehalten. Für einen HUGO Nominierten etwas zu wenig.

 Zusammengefasst ist „Forever“ Magazine 70 wie die November 2020 „Clarkesworld“ Ausgabe eine interessante Nummer mit mindestens lesenswerten Texten und deutlich besser als die letzten Zusammenstellungen.