Im Nachwort zum Auftakt seiner „World Engines“ Trilogie geht Stehen Baxter nicht nur auf seine sekundärliterarischen Quellen ein, sondern stellt für Leser, die keinen tieferen Einblick in dessen umfangreiches Werk haben, einen Bezug zwischen dem vorliegenden Roman und seinen Charakteren, sowie einer älteren Trilogie her. Colonel Reid Malenfant trat in der Manifold Serie auf, die der Heyne Verlag ebenfalls publiziert hat. Nur die Sammlung mit Novellen und Kurzgeschichten „Phase Space“ ist bislang nicht übersetzt worden.
„Das Artefakt“ ist wie eingangs erwähnt der Auftakt einer Trilogie. Deswegen ist es schwer, den ganzen Bogen zu erfassen, den Stephen Baxter schlagen möchte. Baxter liebt Ideen vom Kaliber eines Arthur C. Clarkes oder in Ansätzen auch eines Isaac Asimovs, die der Brite basierend auf den klassischen Fundamenten der Science Fiction in Kombination mit gut recherchierten wissenschaftlichen Fakten nicht nur entfernungstechnisch, sondern vor allem auch zeitlich sehr weit extrapoliert. Raum und Zeit spielen in seinen aus der Perspektive gut ausgebildeter Menschen erzählt im Grunde keine Rolle. In diesem Buch kommen aber noch zwei andere Aspekte hinzu. Auf der einen Seite die Idee aus H.G. Wells „Der Schläfer erwacht“, dann eine Variation von Robert A. Heinleins „Das geschenkte Leben“ mit einem hinsichtlich der charakterlichen Beschreibung unsympathischen Protagonisten.
Reid Malenfant „stirbt“ im Jahre 2019 bei einem Unfall in seinem Space Shuttle. Vorher hat er in einer heldenhaften Aktion seine Co Pilotin zu retten versucht, konnte aber verhindern, dass das Raumschiff über bewohnten Gebiet abstürzt. Stephen Baxter erläutert den Ausgangspunkt der Geschichte auf Augenhöhe mit dem aus seinem Kälteschlaf erweckten Protagonisten. Inzwischen schreibt man das Jahr 2469 oder ungefähr minus 800 Jahre vor dem Zerstörer. Mit diesem Hinweis baut Stephen Baxter vor allem im englischen Titel einen gewissen Druck auf. Dass die Idee zumindest zu Beginn und rudimentär an die legendäre STRAK TREK Episode von Norman Spinrad erinnert, steht auf einem anderen Blatt.
14 Jahre vor seinem Unfall ist Malenfants Frau Emma Stoney im Verlaufe ihrer Mission zum Marsmond Phobos verschollen. Sie wurde für tot erklärt und Malenfant hat diese Tatsache als Motivation für den Wiedereinstieg bei der Raumfahrt angesehen.
Die Zukunft wird absichtlich vage gehalten. Malenfant versucht sie auf jede erdenkliche Art und Weise mehr über die aus seiner Sicht phantastische Zukunft allerdings ohne ein Vermögen bestehend aus Zinseszinsen herauszufinden, die Regierung stellt ihm aber einen freiwilligen Lehrer an die Seite, welcher nicht nur die kulturellen Unterschiede abdecken, sondern im Grunde Malenfant unter pazifistischer Kontrolle halten soll.
Stephen Baxter zeichnet im direkten Vergleich zu einigen anderen Schwergewichten des Genres ein ambitioniertes Bild der Zukunft mit einer Mischung aus gesellschaftlichen Unterschieden, aber auch einer gewissen Vertrautheit. Ökologisch hat die Klimaerwärmung den Norden in weite Unterwasserzonen und Sumpfgebiete verwandelt. So liegt London unter Wasser. Viele Menschen sind zum Mond ausgewandert.
Manifold will sich mit diesen sozialen Veränderungen nur bedingt auseinandersetzen. Er vergleicht die Masse mit den Eloi aus H.G. Wells Roman „Die Zeitmaschine“, wobei die Morlocks in dessen Vorstellung nicht vorkommen. Dadurch wirken die provokanten Behauptungen auch wenig zielführend und führen zu einer Reihe von Diskussionen in der Tradition der Quadratur des Kreises. Auch wenn Stephen Baxter über einen angenehmen sehr flüssig zu lesenden Stil verfügt und die Dialoge pointiert bis ironisch erscheinen, nimmt das Buch im ersten Drittel so gut wie kein Tempo durch diese verbalen Exkursionen auf.
Generell spielt die Geschichte wie die Manifold Romane in einer Parallelwelt. Amstrong ist auf dem Mond ums Leben gekommen. Die Politik hat mit der Ermordung Nixons während seiner Präsidentschaft leicht andere Wege genommen. Nur die Technik mit ihrer Mängelverwaltung bei der NASA und den verschiedenen Katastrophen der Space Shuttle sind gleich geblieben. Diese kleine Änderung weist die Leser noch einmal auf einen anderen Punkt der Geschichte hin, den Stephen Baxter am Ende des ersten Buches extrapoliert. Es gibt mehrere Paralleluniversen, die sich überschneiden können. Keine gänzlich neue Idee, aber Stephen Baxter gibt dieser Thematik eine andere universellere Perspektive. Beim Schläfer fügt der Brite nur einen neuen Ansatz hinzu. Aus dem vorhandenen Genmaterial können neue Menschen gezüchtet werfen. Während die futuristische Gesellschaft sich in der Verantwortung für diese geklonten Schläfer sieht, betrachtet Malenfant die Wiedererweckung seiner verstorbenen Copilotin nur als eine Art Experiment. Die Szene unterstreicht die Antipathie, welche viele Leser gegenüber dem wichtigsten Charakter dieser Trilogie entwickeln könnten.
Das moralische Gewissen – gelenkt von den künstlichen Intelligenzen im Hintergrund – ist Greggson Dierda sowie ihre Mutter Greggson Mica
Spannungstechnisch steht eine Botschaft seiner Frau – mehr als fünfhundert Jahre nach ihrem Verschwinden aufgefangen – mit der zukünftigen Ankunft des Zerstörers in einem engen Zusammenhang. Und dazu wird Malenfant wach und im Vollbesitz seiner körperlichen oder geistigen Kräfte benötigt.
Die Exposition ist umfangreich. Da der Zerstörer erst in den angesprochenen achthundert Jahren auftauchen wird, haben sowohl die Leser als auch der Hauptcharakter Zeit, sich mit dieser Situation auseinandersetzen und die Zukunft quasi kennenzulernen.
Erst ab der Mitte des Buches beginnt sich Stephen Baxter wieder auf den eigentlichen Plot zu besinnen und das Tempo des Buches anzuziehen.
Auch hier sammelt Stephen Baxter im Grunde eine Reihe von bekannten Ideen. Malenfant fliegt erst zum Mond, anschließend zum Mond Phobos. Wie bei Arthur C. Clarke die geheimnisvollen Monolithen stellt Phobos – im deutschen Titel auch zum Artefakt gemacht – quasi eine Art Durchgang zwischen den Universen dar. Viele Thesen bis zu einer Anspielung auf Cixin Lius Werk werden eher anreißend diskutiert als das Stephen Baxter sich jetzt schon in die Karte schauen lässt.
Obwohl Stephen Baxter im Grunde auf seine klassischen und im Rahmen des Werkes fein geschliffenen Versatzstücke großer intergalaktischer Ideen , kann „Das Artefakt“ nicht gänzlich überzeugen. Die sozialen Diskussionen wirken oberflächlich und teilweise unausgereift, zumal sie keine weiteren Folgen für den Handlungsverlauf haben. Die Charaktere sind eindimensional selbst für Stephen Baxters Schwäche als Entwickler von dreidimensionalen, emotionalen Protagonisten. MAlenfant ist in den Rückblenden eine Art Macher, im Grunde ein klassischer Kapitalist. In der Zukunft dient er auch durch die Botschaft seiner Frau eher als Katalysator von Ereignissen, die offensichtlich nicht änderbar sind.
Im mittleren Abschnitt beginnt Stephen Baxter auch durch die verschiedenen Begegnungen um Phbos herum mit einigen „Was wäre, wenn…?“ Szenarien zu spielen. Immer vor dem Hintergrund, dass Phobos vielleicht tatsächlich Stephen Baxters „Rama“ ist.
Im Gegensatz zu Arthur C. Clarke versucht Stephen Baxter mit einem für den ersten Band letzten spannungstechnischen Kniff eine Dramatik einzuführen, die unnötig ist. Schöpfungen wie die Ringwelt, Rama, Wanderer aus der Perry Rhodan oder eben dieser besondere Himmelskörper Phobos überzeugen durch die detaillierten Beschreibungen, den Versuch wissenschaftliche Unmöglichkeiten mit der Phantasie zu kombinieren. Sie benötigen kein abschließendes ein wenig stupide wirkendes Actionszenario als schräge Begleitmusik.
Stephen Baxter beendet den Roman mit einem sehr abrupten Cliffhanger. Nach fast siebenhundert Seiten für die Leser auch eine Enttäuschung. Natürlich wird die Neugierde auf die nächsten beiden Romane mit dieser Taktik aufrechterhalten, aber Stephen Baxter macht es frustrierend offensichtlich, dass er im Grunde keine weiteren Informationen Preis geben möchte.
„Das Artefakt“ ist ein uneinheitlicher Roman mit einigen guten kosmopolitischen Ideen, deren Aufklärung noch außen vor steht, aber auch einigen bekannten, nicht unbedingt markanten Versatzstücken aus Stephen Baxters inzwischen sehr umfangreichen Gesamtwerk. Wer mit Baxters Arbeiten und Ideen vertraut ist, wird sich in dem Buch relativ schnell heimisch behaglich fühlen. Als Einstieg ist „Das Artefakt“ nur bedingt zu empfehlen, da der Roman sehr viel leider nicht erwiderte Geduld erfordert, bevor das Tempo zu hektisch wird und die Handlung viel zu offen mit vor allem auch wenig zugänglichen Charakteren endet.
- Herausgeber : Heyne Verlag; Deutsche Erstausgabe Edition (9. Juni 2020)
- Sprache : Deutsch
- Taschenbuch : 720 Seiten
- ISBN-10 : 3453320743
- ISBN-13 : 978-3453320741
- Originaltitel : World Engines – Destroyer Book 1