Forever Magazine 73

Neil Clarke (Hrsg.)

In seinen einleitenden Worten spricht Herausgeber Neil Clarke von den Schwierigkeiten, in Corona Zeiten an etwas anderem zu erkranken als am Virus. Vor allem auch im Gesundheitssystem der USA für einen Selbstständigen.

Es wird schwer, den politisch nachdenklich stimmenden Gehalt der Auftaktgeschichte noch zu übertreffen. In seiner Heimat China durfte Bao Shus „What has passed Shall in kinder Light Appear“ nicht veröffentlich werden. Ken Liu hat sich für „The Magazine of Fantasy & Science Fiction“ März/ April 2015 des Textes angenommen.

Es ist grundsätzlich eine Liebesgeschichte. Das wunderschöne Cover dieser „The Magazine of Fantasy and Science Fiction“ Nummer hält den Schlüsselmoment der Geschichte sehr gut fest. Zwei Menschen wachsen gemeinsam auf, verlieren sich und kommen kurzeitig wieder zusammen, bevor sie lange getrennt werden. Das Ende könnte kitschig und rührselig sein. Zu diesem Zeitpunkt ist dem Leser aber schon vertraut, in welche Richtung sich der politische Hintergrund der Geschichte nur bewegen kann. Denn während seine Protagonisten ihre beschwerlichen Leben vorwärts ertragen müssen, verläuft die Zeit nicht rückwärts. Es sind die markanten historischen Ereignisse, die „rückwärts“ verlaufen. Beginnend in einer noch fiktiven Zukunft über den Anschlag vom 11. September, die Mondlandung, Vietnam und schließlich der Zweite Weltkrieg. Bao Shu hat diese historischen Meilensteine mit ihren entsprechenden, teilweise natürlich umkehrten Einflüssen wie bei einer Perlenschwur anders herum aufgereiht und arbeitet sie stoisch, für den Leser ab einem bestimmten Moment nicht mehr überraschend, aber anrührend ab. So entsteht aus dem Nichts heraus eine Parallelwelt, die vertraut und verstörend zu gleich ist. Gegen Ende des Spannungsbogens wartet man förmlich darauf, mit welchem Paukenschlag Bao Shu seine verdrehte Geschichtsstunde zu beenden sucht. Aber wie es sich für den eindringlichen, aber auch unauffälligen, niemals belehrenden Stil des Chinesen gehört endet seine Welt nicht auf einem Höhepunkt, sondern sich wieder auf das zwischenmenschliche Drama fokussierend überwiegen die leisen Töne. Wie seine gut gezeichneten, so lebensechten und doch teilweise stilisierten Figuren muss der Leser am Ende dieser erschütternden Geschichtsstunde einmal Atem fassen und über den Irrsinn der Welt nachdenken. Geschichten, die sich durch diese Intensität auszeichneten, verleiten zu einer zweiten und dritten Lektüre.  

Die beiden kürzeren Texte könnten nicht unterschiedlicher sein. Paul McAuleys „Wild Honey“ spielt in einer Post Doomsday Zukunft. Die Erzählerin ist eine alte Frau, die von den Schamanen ausgebildet worden ist, nachdem ihre Eltern sie verkauft haben. Mit Hilfe eines Bienenvolkes produziert sie nicht nur Medizin, sondern anscheinend auch Schnaps. Als ihr Enkel aus der Stadt vor Schwierigkeiten flieht und sie um ihre wertvollsten Naturalien bringen will, bleibt ihr nur ein Weg offen. Die Geschichte ist solide strukturiert. Vom Handlungsablauf her werden zu wenige Überraschungen angeboten die Stärken liegen auf der zwischenmenschlichen Ebene mit sehr gut gezeichneten Figuren und einigen originellen Ideen. Das Ende ist pragmatisch wie zynisch zu gleich.  

 Sehr viel intensiver ist „In the Stillness between the Stars“ von Mercurio D. Rivera. Der Autor fügt der Idee des Generationenraumschiffs mehrere gute Wendungen hinzu. Für den Tiefschlaf gibt es eine zeitliche Begrenzung von 300 Jahren. Mehr geht biologisch vom Körper her nicht.  Schon nach kurzer Zeit weckt die künstliche Intelligenz des Raumschiffes allerdings den Psychotherapeuten, weil ein Mitglied der Crew denkt, sie sieht an Bord des Raumschiffs Monster. Die K.i. kann natürlich keine logische Erklärung für dieses Verhalten aus ihren Datensätzen ableiten und greift mit dem erfahrenen Psychologen zum letzten Strohhalm. Dieser hat aber auf die Reise zum Alpha Centauri sein eigenes sehr schweres innerliches Gepäck mitgebracht.

Die Schwächen der Novelle sind eher wissenschaftlich technischer Natur. Die Störungen treten sehr  früh auf der Reise auf. Das Raumschiff hat noch nicht die Plutoumlaufbahn verlassen. Es wird aber kein nachvollziehbarer Grund aufgeführt, warum die Mission direkt fortgeführt werden muss, anstatt sich im „erdnahen“ Raum um die zunehmend auftretenden Probleme zu kümmern.

Auch die Auflösung der Geschichte wirkt wissenschaftlich nicht nachvollziehbar. Auf diese Art und Weise können „Monster“ nicht mehr einer derartigen Geschwindigkeit an Bord des Raumschiffes transportiert werden.  Das Mittels Schwerkraftwellen im All relevante Informationen übertragen werden, erscheint ebenfalls ambitioniert. Die Ausrichtung auf einen winzigen Punkt im All wird ignoriert.

Ignoriert der Leser bei einer Science Fiction Geschichte allerdings diese wissenschaftlichen Prämissen, dann präsentiert sich Riveras Novelle als stimmungsvolle Unterhaltung.    Grundsätzlich ist die Geschichte als Horrorgeschichte angelegt. Wichtig ist in diesem Fall, dass der Leser sich mit den einzelnen Protagonisten identifizieren kann. Ohne diese Bindung funktioniert der Plot nicht. Daher gibt der Autor allen Protagonisten einen entsprechenden überzeugenden Hintergrund. Die Rückblenden halten das relativ hohe Tempo der Novelle nicht auf. Sie passen sich gut in die einzelnen Abschnitte ein, auch wenn sie alle verklärt subjektiv erzählt werden.

Die Schuld der Figuren ist vor allem emotionaler Natur. Was ist wichtiger? Die Familie oder der Drang, dort draußen etwas zu entdecken. Der Autor stellt zwar die einzelnen Positionen mittels seiner Charaktere gegenüber, er verzichtet aber auf eine abschließende Antwort.

Die emotionalen Szenen sind gut geschrieben, ohne pathetisch zu erscheinen. Der Psychotherapeut hat aus eigenem Willen seine Entscheidung getroffen, während das Crewmitglied Angie von „Monstern“ gejagt zwar durch ihre Affäre eine gewisse Schuld auf sich geladen hat, aber nicht für den Tod ihres Mannes und des gemeinsamen Kindes verantwortlich gewesen ist. Das hilft aber ihrem Gewissen nicht sonderlich.

Im Grunde spielen die „Monster“ auch keine relevante Hauptrolle in der Novelle. Wie bei Stephen King dienen sie als Katalysator, um sich mit anderen Themen auseinandersetzen und wie beim Amerikaner ist es wichtig, den Zugang zu den zerbrechlichen, aber nicht gebrochenen Protagonisten zu finden, damit die Novelle funktionieren kann.

Auf der emotionalen Ebene ohne Frage eine der besten Geschichten des Jahres 2019, während die wissenschaftliche Basis höflich gesprochen bemüht erscheint.

Der Februar 2021 ist gut zu „Forever“. Alle drei thematisch sehr unterschiedlichen Storys können überzeugen, auch wenn die Texte grundsätzlich durch die „Year´s Best“ Anthologien schon einem breiteren Publikum vertraut sind.   

 

Forever Magazine Issue 73 cover - click to view full size

E Book, 112 Seiten

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