Clarkesworld 172

Neil Clarke (Hrsg.)

Die Januar 2021 Ausgabe von „Clarkesworld“ überrascht wahrscheinlich eher unfreiwillig mit einigen Änderungen. Herausgeber Neil Clarke verzichtet auf einen sekundärliterarischen Artikel. Nur zwei lange Interviews bilden neben einer Zusammenfassung des im Jahr 2020 veröffentlichten Geschichten und Illustrationen den Kern seiner einleitenden Worte. Mit Connie Willis hat Arley Sorg aber eine sehr angenehme Gesprächspartnerin, die ausführlich über ihre Karriere, ihre bisherigen Arbeiten und die zukünftigen Romane spricht. E. Lily Yu dagegen antwortet auf Fragen hinsichtlich der Herausforderungen nicht nur des Schreibens, sondern vor allem auch in Hinblick auf einen kommerziellen Verkauf der Geschichten.

 Eine weitere Änderung ist die Zusammenstellung der Geschichten. Es findet sich kein übersetzter Text und  „nur“ sechs Storys finden sich in dieser „Clarkesworld“ Ausgabe. Allerdings nimmt die Novelle auch einen sehr breiten Rahmen ein, so dass die Auslassung einer Übersetzung sogar auf den ersten Blick nachvollziehbar ist. Thematisch zieht sich dieses Mal kein roter Faden durch die Ausgabe.

 Aimee Ogden beginnt mit „Intentionalities“. In einer ferneren Zukunft wird die Erde von Konglomeraten beherrscht, Politik findet nur noch im Schatten des Kapitalismus statt. Wer sich nicht an das System anpasst oder Schulden macht, hat nur zwei Möglichkeiten. Gefängnis oder im Falle von Frauen Mutter werden. Die Protagonistin entschließt sich für die zweite Option. Sie erhält mit künstlicher Befruchtung ein Kind eingepflanzt. Kaum ist es fünf Jahre alt, muss es normalerweise das „Elternhaus“ verlassen und arbeitet für die Konglomerate in den äußeren Mienenbezirken auf den Planetoiden.

 Die Autorin spannt den Bogen vom verzweifelten Beginn, gegen die erdrückenden Schulden anzukämpfen bis zu dem Moment, als sich die Protagonistin entschließt, gegen das System zu rebellieren. Es ist eine dunkle, brutale Zukunft, welche hier gezeichnet wird. Allerdings leidet die Geschichte auch unter dem unglaubwürdigen Faktor, das der Aufwand vom Heranziehen von Kindern für die äußeren Mienen viel zu umständlich ist. Es gibt keine nachhaltige Erklärung für diese Vorgehensweise und zusätzlich wäre es einfacher, entweder die Arbeiter direkt dahin zu transportieren oder die gegenwärtige Technik in Form von Robotik billiger weiter zu entwickeln und so die Arbeiten zu delegieren.

 „Deep Music“ von Elly Bangs ist einer der kürzeren Texte, in dem es um kleine intelligente Kreaturen geht, die anscheinend aus den Wassermolekülen entstehen. Der Protagonist verdient sein Geld damit, in dem er die von Stellen und Plätzen entfernt, wo sie nicht erwünscht sind. Auf der emotionalen Ebene begegnet er einer alten Liebe. Es gibt einige größere Probleme mit der Geschichte. Der Plot läuft schematisch ab, die Pro- und Antagonisten wirken eindimensional und vor allem agieren schematisch. Das Ende ist dem Leser aus unzähligen anderen Science Fiction Kurzgeschichten vertraut, aber die eigentliche Schöpfung – intelligente Wesen aus Wasser – entschädigt für eine Reihe von mechanischen und emotionalen Schwächen dieser viel Potential verschenkenden Geschichte.   

 R.S.A. Garcias “Philia, Eros, Storges, Agape, Pragma » nimmt knapp die Hälfte der « Clarkesworld » Ausgabe ein. Es ist eine Military Science Fiction Geschichte mit einem auf einem Planeten gestrandeten Raumschiff. Das verbindet sie schließlich mit „The Last Civilian“. Allerdings spannt Garcia einen weiteren Bogen. Der Hintergrund nicht nur der Geschichte, sondern der einzelnen Charaktere ist entsprechend komplex. Es ist wichtig, auf die kleinen Hinweise zu achten, aus denen sich wie bei einem Mosaik erst das ganze Bild ergibt. Eine Frau mit einer Verbindung zu einer künstlichen Intelligenz stirbt während einer militärischen Auseinandersetzung. Die künstliche Intelligenz kann sie wieder beleben. Ihr Raumschiff stürzt wie angesprochen über einem Planeten ab, wo sie von einem Mann gerettet wird, in den sie sich verliebt. Am Ende müssen sich die beiden mit anderen Menschen dem Feind stellen, der die Menschheit vernichten möchte. In der Zusammenfassung hört sich der Plot klischeehaft an und auf das Grundgerüst reduziert macht R.S.A Garcia mechanisch im Grunde alles richtig. Es sind die Zwischentöne, welche die Geschichte aus der Masse hervorheben. Die Struktur sind in erster Linie subjektive Rückblenden, deren Wahrheitsgehalt der Leser nicht automatisch einordnen kann. Da hilft es auch nicht, dass R.S.A. Garcia im Grunde drei Zeitebenen anbietet und jedes Kapitel damit einläutet. Die Romanze ist am Rande des Kitsches erzählt, die Grenze wird aber nicht überschritten. Die Figuren sind in erster Linie eher pragmatisch als dreidimensional angelegt, aber der Autor bringt einige interessante Wendungen und die Novelle gibt ihm den Raum, ausführlicher zu erzählen und mit unterschiedlichen Tempo die Leser mitzureißen oder in der zweiten Hälfte des Geschichte effektiver in die finale Konfrontation einzubeziehen.

 R.P. Sands „The Last Civilian“ spielt ebenfalls in einem futuristischen Kriegsszenario. Auf einem Planeten ist ein Raumschiff mit Menschen gestrandet. Die Menschen produzieren künstliche Soldaten – woher die Resourcen kommt, wird nicht abschließend herausgearbeitet - , um die Aliens auf dem Planeten zu bekämpfen. Zwei Soldaten beginnen sich anzufreunden. An anderen Ende steht eine mögliche Kommunikation mit den Fremden.

 Auch wenn R.P. Sands wie Garcia in der Novelle Versatzstücke des Genres nutzt, um auf den ersten Blick etwas Neues, Originelles zu erzählen, macht er einen entscheidenden Fehler. Er will mit aller Macht zeigen, dass die Menschen die Aggressoren sind, welche die Außerirdischen auf ihrer eigenen Welt angreifen und vernichten wollen, während diese im Grunde friedlich sind. Diese Idee ist genretechnisch nicht neu, aber der Autor geht an die Grenze der Manipulation seiner Leser, um den Standpunkt klar zu machen und überschießt damit deutlich.

 Tovah Strongs „Aster´s Partialities: Vitri´s Best Store for Sundry Antiques“ ist eine humorvolle Geschichte. Ein Magier soll hingerichtet werden, weil er mit verbotenen Zaubersprüchen experimentierte. Sein Tod erschafft quasi durch einen Unfall als eine Art Hausgeist die Erzählerin. Er beginnt sich um ein Kind zu kümmern, das ins Haus kommt. Vor allem die Nutzung von Magie und das Spiel mit der Idee eines Hausgeists, der über einen subversiven Humor verfügt, belebt die Geschichte. Hinzu kommt, das Tovah Strong die einzelnen Protagonisten dreidimensional und interessant gezeichnet hat.

 P.H. Lees „Leaving Room for the Moon“ ist die sechste und letzte Geschichte der „Clarkesworld“ Januar Ausgabe. Zwei Kinder werden nach einer an Bord eines Raumschiffs jahrtausende dauernden Reise an den Gerichtshof des Herrschers geschickt. Sie plündern quasi die Warteräume und können dem Herrscher erst nach wieder Jahrtausenden begegnen. Später begegnen sie einer alten Frau, mit der sie eine Art Artefakt wiederherstellen.  Die Autorin versucht den Plot als eine Art Allegorie aufzuziehen, scheitert aber an vielen kleineren Punkten. Der Leser kann kaum ein Gefühl für die vergangene Zeit entwickeln und bedenkt man zusätzlich, dass eine These ist, die Vergangenheit kann nicht mehr wieder belebt werden, dann geht viel Effektivität durch diese unendlich erscheinenden Zeiträume vor allem im Vergleich zu einem normalen Menschenleben verloren. Auch verzichtet die Autorin auf eine Auflösung des Plots, so dass sich der Leser alleine gelassen fühlt.

 Wahrscheinlich wäre eine Novelle die bessere Hülle für den umfangreichen, aber in dieser Form auch nicht vielschichtigen Plot.

 Der Januar präsentiert sich bei „Clarkesworld“ eher wie ein April. Die Geschichten sind stilistisch alle lesenswert, aber es gibt nur wenige Höhepunkte. Die Idee, einer längere Novelle statt zweier weiterer Kurzgeschichten zu präsentieren, durchbricht die manchmal fast zu starren Muster, auch wenn der Text nicht gänzlich zufrieden stellend ist. Ein solide Jahresauftakt, aber leider auch nicht mehr.      

cover

E Book, 122 Seiten

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