Clarkesworld 177

Neil Clarke (Hrsg.)

Neben den einleitenden Worten von Neil Clarke zur generellen Entwicklung der Pandemie, aber auch des Kurzgeschichtenmarktes findet sich mit Carrie Sessaregos „Fungi in Fiction“ ein interessanter Artikel über ein ganz kleines Subgenre. Die Autorin berichtet von den ersten Entwicklungen mit den Horrorgeschichten Hodgsons oder Lovecraft und führt den Bogen zu den B Filmen der fünfziger Jahre.

Die beiden Interviews mit Cassandra Khaw und Alyssa Winans zeigen auf, wie schwer die Lage inzwischen für auch langjährig arbeitende Autorinnen und Autoren in Zeiten der Pandemie und vor allem auch sinkenden Umsätzen bei den Verlagen ist. Arley Sorg hat in den letzten Jahren den Interviews bei „Clarkesworld“ eine neue Qualität gegeben, in dem er nicht nur auf die neusten Werken der jeweiligen Autoren einging, sondern über den Tellerrand schaute.

Sieben Geschichten mit zwei Übersetzungen finden sich in dieser Ausgabe. Dabei eröffnen große Namen wie Nancy Kress und Robert Reed quasi den Sommer. Nancy Kress schreibt regelmäßig unregelmäßig für Neil Clarkes Magazin. “Little Animals” ist eine für Nancy Kress so typische intellektuell verspielte Novelle. Die Ausgangsprämisse ist wissenschaftlich absurd, aber ausgesprochen unterhaltsam. In der nicht so fernen Zukunft stellen Forscher fest, dass Gehirnwellen basierend auf sehr starken Erinnerungen Quantumsignale absondern, die von extra geschulten Beobachtern mit der entsprechenden Ausrüstung auch Jahrhunderte später aufgefangen und quasi „angesehen“ werden können. Die Quantumsignale sind damit zeitlich unabhängig und ermöglichen es in einer Connie Willis artigen Handlungswendung, quasi eine Art passive Zeitreise allerdings nur aus der eng begrenzten subjektiven Perspektive.

Nancy Kress Stärke sind die handelnden Protagonisten. Vor allem Marie als quasi Mittlerin zwischen dem atypischen Privatleben eines Wissenschaftlers irgendwo zwischen der subjektiven Vergangenheit und der nicht einfachen Gegenwart ist eine überzeugende Person. Wie bei Connie Willis besten Geschichten geht es weniger um den eigentlichen Plot, sondern das ein wenig überdrehte satirische Miteinander der Protagonisten und die Dialoge sind pointiert doppeldeutig. Allerdings präsentiert die Autorin keine Plotauflösung, sondern lässt die Geschichte einfach auslaufen.     

Robert Reeds „Poubelle“ ist eine der Great Ship Geschichten, wobei das gigantische Generationenraumschiff erst am Ende des Plots eine nicht relevante Rolle spielt. Poubelle ist ein eine Waise. Sie wurde im Müllcontainer gefunden wie ein Kätzchen, das niemand liebt hat. Sie wird von Quasi Unsterblichen aufgenommen und wie das Tier behandelt, das sie in deren überlegenen Augen sein müsste. Poubelle schleicht nachts immer aus deren Haus und beginnt wie eine Katze die Siedlung zu untersuchen. Robert Reed konzentriert sich eher auf den Hintergrund als das er eine kontinuierliche Handlung erzählen möchte. Vor allem der Beginn mit dem exotischen Hintergrund und den überzeugenden Charakteren weckt das Interesse der Leser, allerdings zerfällt abschließend der Spannungsbogen.   

Suzanne Palmer ist keine Unbekannte. Der Titel ist Programm. „Bots oft he Last Ark“ ist eine absichtliche Anspielung auf einen sehr bekannten Film, auch wenn die Handlung losgelöst ist und nichts mit der Spielberg/ Lucas Produktion zu tun hat.

Auf einem alten im All eher treibenden Raumschiff kümmert sich seit mehr als 60 Jahren die künstliche Intelligenz nicht nur um die menschliche, im Tiefschlaf verweilende Besatzung, sondern musste auch eine Begegnung mit unbekannten technologisch überlegenen Aliens überstehen. Das Schiff befindet  auf dem sehr langsamen Weg zu einem Sprungpunkt, mit dem man wieder zurück zur Erde kommen möchte. Wie in „Silent Running“ sind  kleine Roboter die Augen, Ohren, aber vor allem auch Hände der künstlichen Intelligenz. Allerdings impliziert die Autorin, dass die Roboter inzwischen orientierungslos erscheinen. Nur Bot 9 ragt quasi aus der Metallmasse hervor und kann mit seiner originellen, aber eher menschlichen Vorgehensweise schließlich das ganze Schiff aus einer extrem gefährlichen Situation retten. Wie bei Nancy Kress kommt es Suzanne Palmer weniger auf Logik oder eine kontinuierliche Handlung an. Sie erschafft an Bord des Raumschiffs eine erstaunliche kameradschaftliche Atmosphäre und gibt allen Bots menschliche Züge. Es sind zwar nicht die sieben Zwerge, aber der Leser kann sie alle gut voneinander unterscheiden. Die Dialoge sind humorvoll und pointiert, die Bots im Grunde kleine Menschen.  

Eine der beiden übersetzten Geschichten ist „Face Changing“ von Jiang Bo. Die Übersetzung ist ein wenig holprig, aber auch der Plot wirkt irgendwie antiquiert. Ein Polizist jagt in einer „Face/Off“ artigen Zukunft einen Verbrecher und muss erkennen, dass dieser den Überwachungsstaat nicht nur immer wieder austrickst, sondern den Jäger zum Gejagten machen kann. Das Ende ist eher pragmatisch und die wenigen „überraschenden“ Wendungen sind.

Yukimi Ogawa schreibt in Englisch. Allerdings braucht die Autorin einen besseren Lektor. Wie einige der Übersetzungen aus dem Chinesischen fehlt ihr das Gefühl für die Feinheiten der englischen Sprache.  „The Shroud for the Mourners“ leidet nicht nur unter den holprigen Beschreibungen und Dialogen, auch die Handlung wirkt bemüht. Ein Mann besucht einen Arzt oder je nach Moment einen „Handwerker“, der bestimmte Hautpigmente, aber auch anscheinend aus der Zukunft untersuchen lassen möchte. Leider kann die originelle Idee nicht wirklich extrapoliert werden, weil der Leser keinen Zugriff auf die Ideen findet und keine Erläuterungen angeboten werden. Alle Figuren inklusiv einigen nicht von Menschen unterscheidbaren Androiden akzeptieren die Gegenstände aus der Zukunft, hinterfragen sie aber auch nicht.

K.W. Colyards „Our Fate, Told in Photons” ist einer der besten Geschichten dieser Ausgabe. Zwillinge sind die siebenten Töchter einer siebten Töchter. Laut der Legende sollen sie das Erlöschen der Sterne nicht nur einmal, sondern zweimal sehen. An ihrem 77. Geburtstag verlöschen die Sterne tatsächlich, als eine Supernova ihre Sicht buchstäblich verwischt. Colyard hat einen ambitionierten Plot entwickelt, in dem es vor allem um Glauben im direkten Vergleich zum Aberglauben aber auch um Bestimmung geht. Colyard versucht ein sehr kurzes menschliches Leben in einem kosmopolitischen Zusammenhang zu sehen, kommt aber zum pragmatischen Abschluss, dass es wichtiger ist, den Tag, den Moment zu leben als sich von vagen Prophezeiungen manipulieren zu lassen. Colyard verzichtet auf Dialoge, greift auf umfassende Beschreibungen zurück. Dadurch wirkt der Text sperriger, aber generell überzeugt die gesamte Komposition im Grunde von Beginn bis zum Ende eines bzw. in diesem Fall zweier miteinander verbundener Leben.

Die zweite Übersetzung stammt aus dem Spannischen. Christina Juradas „Embracing the Movement“ besteht vor allem auch inneren Monologen, wobei der die Grundidee nicht originell ist. Eine kraftvolle unbekannte Rasse findet ein im All treibendes menschliches Raumschiff in einem Asteroidenfeld. Der Leser ist dem fremden Wesen immer einen Schritt voraus, wobei die Autorin auch keine neuen Aspekte bringt und der Plot eher ausläuft. Die Übersetzung ist flüssiger, aber Spannung kommt nicht auf.  

 „Clarkesworld“ 177 ist eher eine gemischte Ausgabe mit einigen wenigen gut und unterhaltsamen Geschichten, aber leider auch sehr viel Durchschnitt.

cover

E Book, 122 Seiten

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