Europe at Dawn

Dave Hutchinson

“Europe at Dawn” ist der vierte und bislang letzte Roman der wahrscheinlich ersten „Fractured Europe“ Serie. Wie bereits erwähnt hat David Hutchinson die Möglichkeit offen gelassen, wieder in das Universum zurückzukehren. Auch das relativ offene fatalistische, aber nicht nihilistische Ende nicht nur dieses vierten Buches, sondern auch einzelner Lebenswege impliziert, dass der Autor keine Tür geschlossen, sondern das Tor zu vielen Universen aufgestoßen hat.

  Geschickt greift der Autor verschiedene offene Handlungsverläufe aus den ersten drei Bänden auf. Viele Leser werden irritiert sein, dass ein wichtiges Bindeglied aller vier Romane – der Koch und Freizeitspion Rudy – erst nach knapp der Hälfte des Buches seinen ersten Auftritt hat, aber bis dahin führt David Hutchinson nicht nur eine Reihe von dreidimensionalen neuen Figuren ein, sondern besucht alte Bekannte der Lesers genauso wie vertraute Orte in einem sich anscheinend kontinuierlich verändernden Europa. Wichtig ist zusätzlich, dass David Hutchinson zusätzlich Ereignisse wieder aufgreift und extrapoliert.

Rudi ist indirekt für die Haupthandlung zuständig, auch wenn er einen Artefakt aus dem zweiten Spannungsbogen der ersten Hälfte zu vermarkten sucht. David Hutchinson betont, dass das paranoide fragmentierte Europa unter dem Druck der Flüchtlingskrise – der interessanteste Handlungsbogen des vierten Buches, der ohne Kitsch oder Pathetik unter die Haut geht -, aber auch den verschiedenen nicht kompatiblen politischen Systemen unter dem Druck der geschlossenen Grenzen und der Welle von nationalistischen wie populistischen Lautschlägern sich ein neues Berufsstand entwickelt hat. Die Coureurs des Bois durchdringen die Grenzen und liefern ihre Pakete ab. Der Hinweis auf John le Carre ist überdeutlich und David Hutchinson fügt in seiner hier nicht mehr so ausgeweiteten Simulacron Theorie noch die Idee einer Welt hinzu, die ohne John le Carres Bücher auskommen muss. Im dritten Abenteuer gab es schon eine Variation ohne STAR TREK.   

Die Coureurs sind ein interessantes Element der ganzen Serie. Durch die Natur ihrer Missionen sind sie auf der einen Seite abhängig von den Grenzen, auf der anderen Seite behindern die kontinuierlichen politischen Veränderungen ihre Arbeit. Rudi als ursprünglich Koch, inzwischen Chef eines Restaurants in Polen und mit estnischen Wurzeln ist einer dieser den Kern der Mission nicht hinterfragenden Boten, aber auch gleichzeitig ein widerwillig neue Freiwillige rekrutierender Bestandteil der Schattenorganisation. In allen vier Bänden der Serie übernimmt er eine Mission, deren Auswirkungen der Leser genauso wenig beurteilen kann wie Rudi. Rudi ist ein fast phlegmatischer, sehr ruhiger desillusionierter und deswegen vielleicht auch realistischer Fixpunkt in einer Welt, die vertraut und fremdartig zu gleich  erscheint. Aber Rudi ist nicht der Mittel-, sondern nur der Fixpunkt.

Wie schnell jemand die Seiten wechseln kann, zeigt der Prolog. Er ist nicht so schockierend wie im dritten Abenteuer “Europe in Winter“, in dem die bisherige Lebenslinie in Form einer Europa durcheilenden Eisenbahn an einem wichtigen, aber nicht abschließend entscheidenden Punkt „durchschnitten“ wird, aber David Hutchinson zeigt mit Pete und Angie zwei normale Menschen, die sich mit ein wenig Hilfe von außen ihren Traum erfüllen: ein eigenes Boot. Dafür müssen sie ab und zu Menschen oder Dinge von einem Punkt zum Nächsten transportieren. Diesen Handlungsfaden nimmt David Hutchinson aber nicht wieder auf.

Alice ist eine junge Frau, die als Botschafterin Schottlands in Estonia lebt. Eine eigentliche Botschaft gibt es nicht. Sie ist verheiratet mit einem egoistischen und narzisstischen Künstler, der sie mehr und mehr paranoid kontrolliert. Sie übernimmt kleinere Aufträge wie die Betreuung von schottischen Künstlern. Aber ihr Leben gerät außer Kontrolle, als erst die Mitglieder einer Folkband mit den Gästen eine Schlägerei anzetteln und später ein seltener Schädel, den sie zu einer Echtheitsbestimmung in einem Museum abgegeben hat, verschwindet.

Der dritte Handlungsbogen ist fest in der traurigen Realität der Gegenwart verankert. Benno ist ein Heranwachsender, der mit seinen Eltern aus Nord Afrika geflohen ist. Diese sind ums Leben gekommen. Er haust jetzt zusammen mit tausenden von der Welt vergessenen Flüchtlingen auf einer Insel im Mittelmeer.  Die griechischen Camp betreut von der UN unter chaotischen Umständen lassen grüßen. Ein Toter wird an die Küste der Insel gespült. In seinen Taschen befindet sich eine Waffe. Diese sind ausdrücklich auf der Insel verboten und ein Handy.  Das Handy weckt die Aufmerksamkeit von Instanzen weit über den UN Soldaten auf der Insel.

Alle Handlungsebenen werden im Laufe des Buches abschließend zusammenlaufen. So verbindet David Hutchinsons das Schicksal der privat wie beruflich frustrierten und schockierten Alice mit Rudys früheren Mission, in welcher er einen ähnlichen Schädel transportiert hat. Bennos Handyfund dürfte gar nicht sein und stellt die einzelnen Wahrscheinlichkeitswelten vor eine neue Herausforderung.   

Im Hintergrund gibt es in allen vier Romanen die Community. Im ersten Buch „Europe in Autumn“ verbarg David Hutchinson die Idee von verschiedenen Versionen Europas, verbunden durch wenige bewachte Durchgänge mit den klassischen Motiven eines Thrillers aus dem Kalten Krieg. Erst im zweiten Band „Europe in Midnight“ spielte die Idee eine wichtige Rolle, diese Punkte nicht nur durchschreiten zu können, sondern eine fast manipulierende Kontrolle über sie zu erlangen.

Neben der tatsächlichen Kontrolle konzentriert sich David Hutchinson auf die aus seiner Sicht  vergeblichen Liebesbemühungen, ein vereintes Europa zu erschaffen. Voll liebevoller Details beginnend mit lokalen Gerichten über die Kunst oder gar Filme bis in die Politik zeigt der Autor voller liebevoller Details auf, dass die Menschen und damit auch ihre politischen Führer zu unterschiedlich sind, um als Einheit zu operieren. Und diese Divergenz ist nicht zufällig entstanden oder wird gegen besseren Wissens aufrechterhalten. Sie ist ein elementarer Treibstoff der Nationalisten und Populisten, die ihre eigenen Ziele weit vor das Wohl der Allgemeinheit stellen.

Die Community dient dabei als eine Art Zerrspiegel. Sie wurde von Jahrzehnten oder Jahrhunderten aus England heraus besiedelt und wirkt allgegenwärtig auf alle Welten. David Hutchinson impliziert auch, dass die Community mit ihren weitreichenden Interesse auch an der gigantischen Computeranlage beteiligt ist, die in der Stadtkommune Dresden riesige Computersimulationen mit Scheinwelten laufen lässt, aus denen sich relevante, verbrauchertypische Informationen ableiten lassen. Im vierten Band weicht David Hutchinson aber von der immer wieder angedeuteten Simulacron Möglichkeit ab und stellt das fragmentierte Europa als eigenständige, aber nicht alleinstehende „echte“ Welt dar.

Politisch gesehen ist die Community vor allem in Zeiten des Brexits im Grunde der feuchte Traum, den Boris Johnson seinen Landsleuten vorgeschwärmt hat. Nicht umsonst spricht einer der Charaktere davon, dass nicht nur immer mehr Engländer in die Community aus Europa zurückkehren, sondern es sich vor allem um Leute handelt, die am liebsten das britische Empire hinter den Wänden ihrer isolierten Welt wieder aufbauen möchte. Kein Wunder, dass Schottland in Person der emotional überforderten Alice alleine dort draußen eine eher imaginäre Wache hält.

Dagegen wirkt das chaotische Bild, das Hutchinson vor allem von Osteuropa zeicnet nicht nur vertraut, sondern warmherzig. Keine Rolle spielt einer der interessanten Ideen der ganzen Serie in diesem „Abschlussband“. Die nicht nur von der deutschen Band KRAFTWERK Europa durchkreuzende Eisenbahn, sondern eine Art Schlangennation, deren Grenzen von Stacheldrahtzaun geschützt, die ganze Strecke definiert. Eine Art autarkes Band quer durch Europa bis hinter den Ural.     

Der Titel „Europa at Dawn“ ist reine Ironie. Die Morgendämmerung ist weit entfernt. Vielleicht ist Benno lange Zeit seiner griechischen Insel der einzige Optimist, der jeden Morgen von den persönlichen, aber auch politischen Veränderungen in Europa träumt. Die Realität sieht anders aus. Der Eurovision besteht aus dreihundert  Teilnehmern und dauert mehrere Tage. Staaten dürfen sich nur für die olympischen Spiele als Ausrichter bewerben, wenn sie älter als zehn Jahre sind. Ein deutlicher Hinweis auf die Kleinstaatlichkeit vor allem in Osteuropa und jetzt auch im möglicherweise zerfallenden Großbritannien. Geld ist Schall und Rauch, Gold so gut wie kaum vorhanden. Es gibt keinen Euro mehr und niemand möchte in britischen Pfund bezahlt werden. Ein echter Tauschhandel ist aber auch nicht vorhanden.   

 Am Ende ist es Rudy, der mit einer auf den ersten Blick infantilen Geste, seinem Europa etwas zurückgibt, das es anscheinend seit Jahrhunderten nicht mehr hatte: die Freiheit, Fehler zu machen. Und nicht Teil einer mathematischen Gleichung zu sein, die hinter Kinderzeichnungen versteckt worden ist.  

Diese Szene bereitet David Hutchinson in einem abgelegenen belgischen Schloss vor, in dem sich die Mächtigen anscheinend immer wieder treffen. Die Mächtigen aus verschiedenen Welten und verschiedenen Inkarnationen. Wie Versailles dient es als eine Art Verhandlungsort. Aber auch wenn seine lange Zeit nur reagierenden Protagonisten den Männern und Frauen einer höheren Ebene näher kommen, verzichtet David Hurtchinson auf einen klassischen Showdown und die Klischees des Genres. Rudy bleibt bis auf die angesprochene finale Szene nur ein passiver Zeuge, der aber mehr und mehr zu verstehen beginnt.  

Vielleicht ist es diese selbstironische zynische Verspieltheit Rudys, der Europa noch einmal eine Chance gibt. In diesem letzten Band der Tetralogie versucht David Huntchinson im Grunde erfolgreich das Unmögliche. „Europe at Dawn“ ist das Ende und gleichzeitig der Anfang der Serie. Der realistische, detailverliebte und vor allem auf verschiedenen kulturellen Ebenen überzeugende Hintergrund der Geschichte erinnert nicht zufällig an Keith Roberts Meisterwerk „Die folgenschwere Ermordung Elizabeth, der 1.“, in welcher England der spanischen Armada unterlegen ist. Der Hintergrund beider Romane ist fremdartig und gleichzeitig auch vertraut. Aber wichtig ist, dass der Leser sowohl bei Keith Roberts als auch David Hutchinson ein Europa aus der Perspektive der gewöhnlichen Menschen verfolgt, die Alltägliches ableisten müssen. Dabei fügt  David Hutchinson sowohl den Beruf des Schmugglers wie auch des Spions als „normale“ Tätigkeit ironisch hinzu.

 An „Twelve Monkeys“ erinnert vielleicht ohne Anspielungen auf die Corona Pandemie – das Buch erschien deutlich früher – die Idee, das eine künstlich erzeugte Seuche große Teile Europas entvölkert hat. Damit erhält das Flüchtlingsdrama eine besondere Note. Es geht nicht mehr um den „Lebensraum“ und damit einen höheren gesellschaftlichen Standard, sondern die im Verhältnis wenigen lebenden Europäer haben Angst, endgültig aus Afrika überrollt zu werden. Vor einem dunklen Hintergrund treibt Hutchinson damit die Urängste seiner Leser vor sich her und entlarvt sie als im Grunde Nährboden für nationalsozialistische Propaganda.

Die Faszination dieser im Stil der Kalter Krieg Thriller geschriebenen Alternativweltserie liegt vor allem in der Tatsache, dass David Hutchinson beginnend mit der ersten Geschichte aus dem Jahr 1994 ein dunkles Bild Europas gezeichnet hat, das seinen Status als Hort der Kultur mehr und mehr verliert. Alle politischen Entwicklungen sind auf  gegenwärtigen Fakten basierend geschickt, aber auch absichtlich populistisch ironisch extrapoliert worden.

Es empfiehlt sich, unabhängig von der Tiefe und nicht nur handlungstechnischen, sondern angesichts der Vielzahl der Protagonisten emotionalen Komplexität der Geschichte die vier Bände als einen  im Grunde europäischen Fugenroman mit einer Art übergeordneten, aber auch aktiv agierenden Erzähler  (Rudy) anzusehen, der mit verschiedenen markanten, aber nicht grundsätzlich neuen Science Fiction Elementen der Leser den gegenwärtigen Stand des politisch mehr und mehr auseinanderreißenden Europas drastisch, provokativ, aber nicht belehrend vor Augen führt.

Hutchinson, D: Europe at Dawn (The Fractured Europe Sequence)

  • Herausgeber ‏ : ‎ Solaris; 1. Edition (1. November 2018)
  • Sprache ‏ : ‎ Englisch
  • Taschenbuch ‏ : ‎ 320 Seiten
  • ISBN-10 ‏ : ‎ 1781086095
  • ISBN-13 ‏ : ‎ 978-1781086094