Neil Clarke beschließt das Jahr 2021 mit einer ausgesprochen überzeugenden Ausgabe seines Nachdruckmagazins.
Die beiden Kurzgeschichten von Nancy Kress und Samantha Henderson behandeln dunkle, aber auch sehr aktuelle Themen. Nancy Kress hat sich mit in einigen ihrer Texte mit den Geschenken auseinandergesetzt, welche von Außerirdischen den Menschen ohne angebliche Gegenleistung überlassen worden sind. Reichtum für die Elite, Armut für die breiten Massen. Maryjos Familie hat ihre berufliche Existenz durch die Fremden verloren. Sie tritt gegen den Willen ihres Vaters der Armee bei.
Auch wenn der Titel der Geschichte eine Art Briefkopf ist, handelt es sich doch weniger um eine Briefkurzgeschichte, sondern die beiden Briefe an die Schwester stellen den versuch Maryjos dar, das bisherige Geschehen für sich zu ordnen. Mit jeder Entscheidung, die sie trifft, entfernt sie sich mehr von ihrer allerdings an alten stereotypen festhaltenden Familie. Vielleicht zeichnet Nancy Kress das amerikanische Arbeitermilieu ein wenig zu schwarzweiß, aber die Autorin braucht diesen Kontrast auch, damit der Plot funktioniert.
Amerika ist gespalten. Es gibt terroristische Gruppen, welche die Fremden mit Gewalt aus dem Land treiben wollen. Diese rechtsradikalen Gruppen haben auch die Armee unterwandert. So muss Maryjo am Ende eine klassische Entscheidung zwischen ihrem Eid und der Freundschaft zu einem anderen Soldaten treffen.
Interessant ist, dass Maryjo im Grunde immer das Richtige macht, aber unter den falschen Entscheidungen anderer zu leiden hat. Ihre Familie hat sich selbst aufgegeben, obwohl die fremde Technik auch Chancen bietet. Stattdessen jammern sie. Auf der anderen Seite ist die extreme Fremdenfeindlichkeit der terroristischen rechtsextremen Gruppen auch nur eine Ausrede, um andersdenkende zu unterdrücken. Sie rettet mit ihrer Handlung leben und wird trotzdem „bestraft“. Abschließend fällt Nancy Kress in ihrer Geschichte kein finales Urteil, aber sie stellt sich auf Maryjos Seite. Negativ ist, dass die Leser vor allem die Likkies als außerirdische Besucher nur als eine Art Schatten im Hintergrund kennenlernen. Ein Likkie dient auch in der amerikanischen Armee, übernimmt keine aktive Rolle. So bleibt vieles, vielleicht zu vieles bei Andeutungen.
Aus dem englischen Interzone Magazin stammt die dunkle nihilistische Geschichte „My Generations Shall Praise“ von Samantha Henderson. Ohne über einen sympathischen Protagonisten zu verfügen und einigen Charakteren eine Art Schlupfloch am Ende anzubieten, das für die Behörden eigentlich von Beginn an offensichtlich sein müsste, zieht die Kurzgeschichte die Leser trotzdem ihren Bann.
Eine Frau wartet auf ihre Hinrichtung. Inzwischen gibt es eine Technik, mit welcher man die Persönlichkeit, das Gedächtnis, im Grunde jeden Aspekt komplett löschen kann. Eine Frau bietet der Verurteilten ein Vermögen, wenn sie ihre eigene in einem sterbenden Körper befindliche Persönlichkeit übertragen kann.
Während die Erzählerin für ihre Kinder sorgen will, versucht die reiche Helen verzweifelt ihre Sterblichkeit zu überwinden und weiterzuleben. Beide Positionen werden klar umrissen. Es ist eine klassische Win-Win Situation, da mit einer Begnadigung nicht mehr zu rechnen ist. Die Lebensuhr der Protagonisten wird ablaufen, es kommt für sie nur noch drauf an, dass sie das meiste für ihre Kinder herausschlägt.
Die Angst, dass Helen sich schließlich an ihren Kindern vergreift, erscheint aufgesetzt. Helen hat ja ein eigenes Leben und will auch keine Verantwortung übernehmen. Interessant ist ein anderer Aspekt, den die Autorin herausarbeitet. Rechtlich steht es noch gar nicht fest, dass Helen wirklich alles vererben kann. Es besteht die Gefahr, dass die Gerichtsverfahren das Geld vor Auszahlung aufzehren. Ein Treuhandkonto hätte hier Abhilfe geschaffen, aber wichtige Spannungsmomente des Plots unterminiert. Das Ende ist ein Pyrrhussieg zumindest für die Verurteilte, auch wenn dieser ebenso wie die Bezahlung eines Körpers rechtlich fragwürdig ist. Aber Samantha Henderson geht es in dieser intensiv geschriebenen Geschichte eher um verschiedene Standpunkte und weniger um eine abschließend zufriedenstellende Lösung.
„Not Far Enough“ von Martin L. Shoemaker ist eine herausfordernde Novelle. Auf der einen Seite ist der ursprünglich 2017 im Analog Magazin veröffentlichte Text eine in sich abgeschlossene Novelle. Auf der anderen Seite hat Shoemaker den Charakter Captain Nick Aames schon in „Not close Enough“ 4 Jahre vorher eingeführt. Kurios wird es, wenn der Autor sich entschließt, viele Ereignisse im Epilog zusammenzufassen und damit ganze Teile dieser Überlebensgeschichte auf dem Mars ad absurdum zu führen. Hätte sich Shoemaker auf eine ausbalancierte Handlung konzentriert, wäre aus „Not Far Enough“ ein lesenswerter Hard Science Fiction Roman in der Tradition von „Der Marsianer“ mit leicht anderen Voraussetzungen, weniger Humor, aber interessanten anderen Lösungen geworden.
Nach einem Unfall muss die auf dem Mars gestrandete Crew eines Raumschiffs entscheiden, wie sie erstens überleben können und was sie aus dem Wrack benötigen. Gleich zu Beginn wird die Mission klar umrissen: Überleben, Rettung wird so schnell nicht kommen.
Auch wenn sich Shoemaker auf einen nur bedingt aktiv in die Handlung eingreifenden Charakter als Erzähler festgelegt hat, funktioniert die erste Hälfte der Geschichte so gut, weil sie bisherige Hierarchie an Bord des Raumschiffs auf dem Boden natürlich durcheinander gewirbelt wird. Die Fähigkeiten werden teilweise nicht benötigt, es geht vor allem um Improvisation und natürlich auch ein wenig naturwissenschaftliche Kenntnisse, aber nicht mehr um Navigation und Präzision. Die Protagonisten mit in ihrer einzigartigen, aber auch fast aussichtslosen Situation erst einmal die Nerven unter Kontrolle bringen. Das macht den Reiz dieser Geschichte aus.
Im zweiten Teil geht es dann an die aktive Rettung. Hier zieht der Autor bis zum angesprochenen sehr unglücklichen Epilog das Tempo kontinuierlich an, ohne das die Bedrohungen auf dem roten Planeten für den Leser abschließend greifbar werden. Drohender Sauerstoffmangel, fehlende Lebensmittel sind alles wichtige Punkte, aber sie werden so distanziert und nicht dramatisch genug geschrieben, das der Leser unvermittelt das Gefühl hat, als handele es sich eher um den Bericht für eine Untersuchungskommission und keine auf Augenhöhe geschriebene Novelle.
Aus den Charakteren ragt mit der künstlichen Intelligenz Deece im Grunde die am meisten von den Defekten betroffene „Figur“ positiv heraus. Durch ihre Einschränkungen kann sie den Menschen nicht zur Hilfe kommen. Sie versucht logisch in ihrem Elfenbeinturm zu argumentieren und wirkt an keiner Stelle menschlich. Dadurch kommt es zu weiteren Konflikten.
Einige der Bedrohungen wirken sich nur indirekt aus. So drohen die Marswinde eher die Sonnenpanelle zu verschmutzen und weniger die gestrandeten Astronauten direkt zu bedrohen. So drehen sich viele der Diskussionen um Themen, welche der Autor praktisch im Handlungsverlauf nicht wieder aufnimmt und lassen vor allem im mittleren Abschnitt den Text zu phlegmatisch erscheinen, nachdem vor allem das erste die Ausgangslage etablierende Drittel der Geschichte wirklich spannend und packend geschrieben worden ist.
Auch wenn die Novelle in der Dezember 2021 Ausgabe von „Forever“ einzige Schwächen aufweist, lassen sich die alle drei Beiträge sehr gut und flüssig zu lesen. Die drei Geschichten konzentrieren sich auf unterschiedliche Subgenres der Science Fiction, finden in teilweise bekannten Nischen – First Contact, Robinson Crusoes im All und schließlich Körpertausch – aber neue interessante Facetten. Ein gelungener Jahresabschluss eines für „Forever“ im Großen und Ganzen wirklich guten Jahres.