Die Wächterinnen von New York

NK Jemisin

Mit “Die Wächterinnen von New York” legt der Klett Cotta Verlag den ersten Band einer neuen Trilogie “The Great Cities” der farbigen Autorin N.K. Jemisin auf deutsch vor. Sie basiert auf der Kurzgeschichte “The City Born Great”. Im Original heißt der Roman deutlich passender “The City We Became”, da Wächterinnen nicht gänzlich richtig ist. Zumindest Manhatten ist männlich. 

“Die Wächterinnen von New York” ist auch Auftaktband einer neuen Trilogie nach ihrem phänomenalen Erfolg bei den HUGO Preisverleihungen für ihre erste Trilogie . Für alle drei Teile der “Broken Earth” Serie, die im Knaur Verlag auch auf deutsch erschienen sind, hat die in Alabama aufgewachsene und inzwischen in New York/ Brooklyn lebende farbige Autorin jeweils einen HUGO in der Kategorie bester Roman  gewonnen. Drei Jahre hintereinander. Ein bislang einmaliger Vorgang. Neben ihrer Arbeit als politische Bloggerin  veröffentlichte die Autorin seit 2004 Fantasy und Science Fiction Literatur. Ihr Erstlingswerk “The hundred Thousand Kingdoms” wurde im Jahre 2010 mit dem Locus Award ausgezeichnet. Neben den bislang vier Hugos - die letzte Auszeichnung erhielt sie 2020 für “Emergency Skin” wurden ihr unter anderem drei Locus Awards und ein Nebula verliehen. Sie könnte auf dem Weg sein, den Grand Mastern die Plätze auf dem Podium streit zu machen. 1972 geboren hat sie noch viele kreative Jahre vor sich. 

Auch wenn vor allem ihre “Broken Earth” Trilogie überwiegend Fantasy Elemente enthält, lässt die Autorin einige interessante Science Fiction Ideen einfließen. Dieses Verbinden unterschiedlicher Genres von H.P. Lovecraft über die paranoiden multiversalen Welten eines Philip K. Dick bis im Grunde zu den realistischen New York Büchern, die unter anderem auch Schriftsteller mit Jonathan Lethem mit einem kleinen Blick auf phantastische Elemente verfasst haben, macht auch den Reiz des vorliegenden ersten Bandes ihrer neuen Serie aus.     

Die Grundidee ist verblüffend einfach. Städte wachsen, Menschen bewohnen die großen Städte. Unabhängig von ihrer Gründung kommt irgendwann der Moment, in dem sie “geboren” werden, ein eigenes Bewusstsein erlangen, das von menschlichen Avataren geprägt wird. Diese Avatare steuern Entwicklungen im Hintergrund und schützen die Städte. Wenn die Avatare scheitern, dann kommt es zu Katastrophen. Die von N.K. Jemisin aufgeführten Beispiele wie Pompeii und schließlich auch Atlantis - darüber streiten die Charaktere trefflich - sind allerdings unglücklich gewählt. Wahrscheinlich wäre Babel ein besseres Exemplar einer Stadt, die sich zu weit gestreckt hat. 

Wenn die Avatare die Städte nicht mehr schützen können, dringen aus dem Untergrund seltsame Monster mit Tentakeln an die Oberfläche und beginnen die Städte zu zerstören. Nicht umsonst sprechen auch die Protagonisten von H.P. Lovecrafts Werk. Einige seiner Geschichten spielten ja auch in New York. 

Im Prolog wird der Avatar New Yorks ausgeschaltet und fällt in ein Koma. Es ist ein junger Farbiger, der als Straßenkünstler und Kleinkrimineller obdachlos seine Existenz bestreitet. 

In letzter Sekunde rettet ihn zumindest eine alte Stadt vor dem Tod. Sao Paulo kann aber nicht mehr feststellen, wo sich der ursprüngliche Avatar befindet. New York besteht aus fünf großen Stadtteilen. Jeder dieser Stadtteile verfügt über einen lokalen Avatar, zumindest nach Beginn des Buches. Diese Avatare - vier Frauen und ein gerade ohne Gedächtnis in Manhattan eintreffender junger Mann - wissen teilweise nichts über ihre jeweilige Vergangenheit,über ihre Fähigkeiten und vor allem auch die Geschichte der Stadt, mit welcher sie mehr oder minder lange, aber irgendwie auch untrennbar verbunden sind. 

Im ersten Abschnitt des Romans nach einem dynamischen Auftakt charakterisiert die Autorin diese fünf relevanten zukünftigen Beschützer , auch wenn immer betont wird, es müssen abschließend sechs zusammenarbeiten, um die Stadt, die niemals schläft zu beschützen. 

Der Originaltitel “The City we Became” ist wie eingangs erwähnt deutlich passender. Denn N. K. Jemisin macht klar, dass eine Stadt nicht nur aus Beton besteht, sondern die in ihr lebenden und sie mit Respekt sowie gegenseitiger Toleranz behandelnden Menschen den Reiz einer solchen Metropole, vielleicht manchmal auch eines Molochs ausmachen. Dabei lassen sich die Avatare nicht unbedingt gleich auf die Stadt übertragen, wie Hong (für Hongkong) deutlich macht.       

Nach dem Prolog ist Manny der erste Avatar, den der Leser kennenlernt. Manny weiß es selbst nicht. Kaum in New York angekommen, verliert er jegliche Erinnerung an sein früheres Leben. Wie der Primäravatar handelt es sich um einen queeren Farbigen, der im Big Apple einen neuen Job und damit ein neues Leben anfangen kann. Am Namen erkennt nicht nur der Protagonist, dass er Manhattan vertritt. Ein wenig egoistisch, ein wenig arrogant vertritt er das neue Geld, ohne selbst reich zu sein. Mehr und mehr gegen Ende des Handlungsbogens tritt er in den Vordergrund. Er hat die Fähigkeit, die Feinde der Stadt sichtbar zu machen. Teilweise mit katastrophalen Folgen. Im mittleren Abschnitt verschwindet Manhattan in der kleinen Menge an Wächtern/ Wächterinnen. 

Es ist bezeichnend, dass N.K. Jemisin im Grunde nur auf Außenseiter setzt, während zum Beispiel Sao Paulo oder Hongkong von mehr zugänglichen, aber auch älteren Charakteren vertreten werden.  

Am Dreidimensionalsten erscheint mit der ehemaligen Rapperin und jetzigen Anwältin Brooklyn “MC” Thomason der Stadtteil vertreten, in welchem die Autorin auch selbst wohnt. Sie hat eine 14 Jahre alte Tochter, für die sie alles gibt, Ihr Vater ist kränklich.Sie arbeitet in einer Kunstgalerie, zusammen mit ihrer Familie wohnt sie in zwei kleinen Häusern. Ihre Kräfte basieren auf der Musik. Nicht unbedingt den aggressiven Liedern, die sie als Jugendliche geschrieben und gesungen hat. 

Die Bronx wird von Bronca Siwanoy vertreten. Sie ist eine homsexuelle Frau mit indianischen Wurzeln. Dadurch vertritt sie nicht nur die Ureinwohner New Yorks, die von den Holländern betrogen worden sind, sondern ist aufgrund ihrer Alters - sie ist in den Sechziger - auch quasi das Gedächtnis der Gruppe. 

Padmini Prakash vertritt Queens. Sie ist eine Einwanderin von den Tamilen. Sie hat nur eine Aufenthaltsgenehmigung, nicht einmal die amerikanische Staatsbürgerschaft.   Mit ihren besonderen mathematischen Fähigkeiten kann sie nicht nur die physikalische Realität verändern, sondern vor allem auch den immer schräger werdenden Vorgängen eine Art Bodenhaftung verleihen. 

Auch Staten Island weiß im Grunde nichts von ihrer besonderen Aufgabe. Aislyn Houlihan ist die einzige Tochter eines Polizisten, der nicht nur ein Rassist, sondern auch ein Sadist ist. Ihr Spitzname ist Apple, ihre Fähigkeit ist, das sie sich unsichtbar machen kann. Zuerst dachte sie, diese Fähigkeit wäre im übertragenen Sinne zu verstehen, da sie eine unsichere, von ihrem Vater auch eingeschüchterte, immer noch zu Hause lebende Frau von 30 Jahren ist. Aber sie kann sich tatsächlich unsichtbar machen.      

Der Feind hat viele Gesichter. Das ist nicht unbedingt wörtlich zu nehmen. Das einzige Gesicht ist das einer weißen Frau. Sie liebt auch weiße Kleidung, wedelt mit Geld um sich und scheint die höflich gesprochen erzkonservative wie faschistische Gruppe zu vertreten. Wie Aislyn Houlihans Vater hat sie nur Verachtung für alle soziale Minderheiten übrig. Im Grunde für alle anderen Menschen. Sie will die neu geborene Stadt New York vernichten, solange diese noch nicht kräftig genug geworden ist. Ein schwierig zu vermittelndes Konzept angesichts der Tatsache, dass New York ja inzwischen mehr als zweihundert Jahre alt und bislang gut über die Runden gekommen ist. Der Feind ein wenig nach H.P. Lovecrafts Monstren gestaltet kann sich verändern. Es können gigantische Tentakel sein; Brücken zerstörende Monstren aus anderen Dimensionen oder eine Art Pilzbefall. Die Autorin setzt die ganze Bandbreite ein und ist in dieser Hinsicht zwar kreativ, aber nur in wenigen Szenen wirkt das Szenario wirklich brandgefährlich und für die Millionen Bewohner existentiell.   

Im Grunde ist der Plot auch zweitrangig. Es sind die bizarren lebendigen und kantigen Charaktere, mit denen N.K. Jemisin eine vielleicht stellenweise zu zuckersüße Ode an gegenseitigen Respekt und vor allem auch Toleranz den Mitmenschen gegenüber geschrieben hat. Auch ihre fünf “Stadtteile” müssen sich erst zusammenfinden, Misstrauen überwinden und die Fehler der Anderen respektieren. Wie in einem realistischen Superheldencomic steht im Mittelpunkt dieses Auftaktbandes das Teambuilding. Wobei die Protagonisten selbst erst die ohne Frage auch bizarren Ereignisse verstehen müssen. Dabei stehen die Wächter/ Wächterinnen auf unterschiedlichen Stufen der eigenen Entwicklung. Einige haben mehr Erfahrung mit ihren Fähigkeiten auch in Kombination mit entsprechender Lebenserfahrung. Für Andere ist nicht nur New York neu, sondern vor allem die ambivalent beschriebene Aufgabe.  

Es ist der erste Band einer Trilogie. Die Autorin muss auf der einen Seite den Handlungsbogen einigermaßen zufriedenstellend abschließen, auf der anderen Seite sich nicht nur handlungstechnischen Raum für die nächsten  beiden Bücher lassen, sondern die Erwartungshaltung hochhalten. Darum ist das Ende vielleicht auch zu abrupt und ein wenig statisch. Den Wächterinnen minus eins gelingt ein Pyrrhussieg. Der ist so schnell vorbei, das man sich ein wenig  die Augen reiben muss. Sao Paulo und Hong kehren in ihre Städte zurück. Aber N.K. Jemisin impliziert, dass die Historie der lebendigen Städte erst beginnt und der nächste Roman anscheinend eher in Europa/ Paris spielt als in New York. 

In der kleinen Gruppe lösen sich die zwischenmenschlichen Spannungen nicht. Das eigentliche Ziel, den Primäravatar zu wecken, konnte noch nicht zur vollständigen Zufriedenheit erledigt werden, weil ausgerechnet Staten Island ausschert. Positiv ist, dass New York eben so ist wie man es von New York erwartet. In einem Moment eine existentielle Katastrophe, wenige Augenblicke später ein Treffen am Strand, ein wenig Baden im Meer und der Moment des Innehaltens, des Durchatmens. Über ihre Charaktere und ihre unterschiedlichen Ecken/ Kanten definiert N.K. Jemisin abseits des Genres auch das Leben in diesem Moloch, aber auch Idyll zumindest für verschiedene Gesellschaftsschichten, das immer am Randes des Klischees den/die New Yorker auch definiert. In den Momenten, in denen die bewegte Geschichte und die kleinen fast alltäglichen Anekdoten zusammenfließen, getragen wie mehrfach erwähnt von den dreidimensionalen Charakteren, lebt der Roman auf. Er wird lebendig wie es die Stadt im übertragenen wie NK Jemisin folgend auch tatsächliche Sinne ist. Und da vergisst der Leser die im Hintergrund ein wenig konstruiert erscheinende und sich zu stark vielleicht auch an den Monstren eines H.P. Lovecraft oder eines Stephen Kings orientierende Geschichte.  

 

  • Tropen, 03/2022
  • Einband: Gebunden
  • Sprache: Deutsch
  • ISBN-13: 9783608500189
  • Bestellnummer: 10761276
  • Umfang: 537 Seiten
  • Gewicht: 734 g
  • Maße: 216 x 151 mm
  • Stärke: 43 mm
  • Erscheinungstermin: 19.3.2022