Am Anfang war das Bild

Uli Bendick, Aiki Mira und Mario Franke (Hrsg.)

Der Titel der neuen Anthologie von Uli Bendock, Aiki Mira und Mario Franke müsste eigentlich vollständig “Am Anfang war das Bild und auch am Ende” heißen. Die Herausgeber geben in einem launischen, als Dialog in einer Kneipe der besonderen Art geschriebenen Einleitung einen kurzen Überblick hinsichtlich der grundlegenden Idee. Mitherausgeber Uli Bendick und Mario Franke haben einige ihrer Werke auf einer Internetseite den Autoren zur Verfügung gestellt und diese sollten nach den Bildern Geschichten schreiben. Die Herausgeber haben von den mehr als neunzig eingereichten Texte schließlich achtzehn Geschichten ausgesucht. Anschließend haben Uli Bendick und Mario Franke diese Storys dann mit weiteren Illustrationen ergänzt. Am Ende jeder Story sollten die Autoren abschließend noch kurz erläutern, warum sie das jeweilige Ursprungsbild als Inspiration genommen und wie sie ihre Texte konzipiert haben. Selten war die Verbindung zwischen Wort und Bild sich gegenseitig befruchtend intensiver als in “Am Anfang war das Bild”. 

Monika Niehaus eröffnet die Anthologie mit “Bermudabohrturm”. Die beiden Protagonisten wollten eigentlich im Bermudadreieck die Aalwanderung beobachten, als sie die Entstehung von etwas gänzlich Neuem allerdings auch als dem Müll der Menschheit beobachten. Das offene Ende stimmt ein wenig hoffnungsfroh, ist aber in vielleicht sogar zu viele Richtungen interpretierbar. Als Geschichte überzeugt der Text weniger, die Autorin hat es eher der Stimmung der Bilder entsprechend als eine Art nachdenklich stimmendes Stillleben angelegt.  Die Autorin ist noch mit einer zweiten Geschichte “Eine universelle Sprache” vertreten. Eine Expedition landet auf einem Planeten und muss untersuchen, ob die an große Pinguine erinnernden Bewohner des Planeten intelligent sind oder nicht. Durch einen Zufall findet ein Besatzungsmitglied des Schlüssel zur zukünftigen Kommunikation. Wie Monika Niehaus Miniaturen ist die intelligente Pointe der Schlüssel zu einer grundlegend wenig überraschend konzipierten First Contact Geschichte.  

Deutlich besser ist Janika Rehakds “Onkel Nolte oder die hohe Kunst, aus dem Fenster zu schauen. Ein alter an Demenz erkrankter Mann wartet auf die Rückkehr seiner wahren Liebe. Seit mehr als fünfzig Jahren. Der ihn versorgende Verwandte lernt gerade über das Internet eine neue Frau kennen. Auch wenn die Autorin keine Liebesgeschichte anfänglich schreiben wollte, geht sie mit den dreidimensional und überzeugend beschriebenen Emotionen ihrer Charaktere sehr respektvoll um. Lange Zeit hat Onkel Nolte dem Neffen von seiner Liebe erzählt; als er sich aufgrund seiner Krankheit nicht mehr daran erinnern kann, erzählt der Neffe ihm diese Geschichten. Es sind die kleinen berührenden Szenen inklusiv des konsequenten Endes, welche mit einer guten Mischung aus ein wenig “Kitsch”, aber auch einer melancholischen Grundstimmung die Geschichte aus der Masse vergleichbarer Plots positiv herausheben.

Robert Diemrichs “Das Wiedersehen” beschreibt, wie aus einem Geburtstagsgeschenk ein Horrortrip wird. Die doppelte Pointe wirkt - wie es sich für diese Art von Storys allerdings auch gehört konstruiert. Der selbstsüchtige Protagonist bezieht sich in seiner Argumentationskette immer wieder auf die schwere Jugend, die fehlende Liebe und die mangelnde Anerkennung. Typische, klischeehafte Argumente, welche seine allerdings im Off stattfindenden Handlungen wie auch seinen fast krankhaften Ehrgeiz entschuldigen sollen. Die Verbindung zwischen Psychedelik und Nanotechnik inklusiv der entsprechend vollmundigen Reklame, die ein wenig an Philip K. Dicks “Total Recall” in Kombination mit dem ultimativen Trip erinnert, liest sich trotz der angesprochenen Klischees sehr kurzweilig.  

Auch Aiki Miras “Utopia 27” setzt sich mit der Sehnsucht nach der Vergangenheit, aber auch virtuellen Welten auseinander. Die Protagonistin hat ihren Bruder verloren. Der Gamer hat sich überanstrengt. Sie besucht ihn regelmäßig in dessen neuem virtuellen Heim “Utopia 26”. Tagsüber arbeitet sie als eine Art Nachlass Bearbeiterin. Sie erstellt Trauerseiten im Netz oder bearbeitet die Konten von Gamern, damit sie Hinterbliebenen keinen Schock bekommen. Der reale Tod mit dem Übergang in eine neue Existenz ist ihr allgegenwärtig. Am Ende scheint der Neovogel für sie auch ein Ausweg zu sein. Für den Leser ist nicht ganz klar, ob die Protagonistin sich im Gleichklang mit dem Abschotten der virtuellen Toten emotional selbst eine Schutzburg baut oder ob sie tatsächlich Bestandteil von etwas ganz Anderem ist. Aber Aiki Mira beschreibt die vergebliche Verarbeitung von Trauer überzeugend, auch wenn ihre Protagonistin teilweise ein wenig zu sehr dem Selbstmitleid unterliegt.   

Vlad Hernandez aus dem Spanischen übersetzte Miniatur “Glühwürmchen” beschreibt deutlich optimistischer den Übergang von Menschen oder besser der Menschheit in eine andere Existenzebene. Sprachlich elegant ist die Miniatur allerdings eher von Stimmungen gekennzeichnet als das sie einen in sich abgeschlossen Plot präsentiert. 

“Das Licht” von Uwe Neuhold ringt einem altbekannten Thema neue Ideen ab. Ein kleines Mädchen verschwindet nachts in der Nähe des Elternhauses. Ihre Schwester ist seit dem vom Wunsch angetrieben, ihr Schicksal nicht nur aufzuklären, sondern es zu ändern. Mit einer originellen, aber auch wie die Quadratur des Kreises erscheinenden Variation der Zeitreise kommt sie auf der einen Seite ihrem Wunsch einen Schritt näher, um auf der anderen Seite durch die aufgezeichneten Kommentare ihres Mitgeschäftsführers vor allem dem Leser zu offenbaren, das sie weit über das eigentliche Ziel hinausschießen. Der Autor setzt sich gut mit einer Reise der genretypischen Klischees auseinander. Im Grunde nutzt er diese, damit sein Plot überhaupt funktionieren kann. 

Isabell Hemmrichs “Unser stilles Dorf” ist eine der am meisten verstörenden Geschichten dieser Anthologie. Die Autorin beschreibt das Schicksal zweier Schwestern, die in einem kleinen Dorf zurückgelassen worden sind. Nach und nach entfaltet sich der entsprechende Hintergrund. Nach einem Reaktorunfall wurde das Dorf zur Sperrzone erklärt. Viele der Bewohner sind schnell gestorben, andere konnten fliehen. In Rückblicken wird der soziale und auch gesundheitliche Verfall der Zurückgebliebenen sprachlich intensiv beschrieben. Das offene Ende inklusiv des Besuchs des nackten Mannes lässt einige Interpretationsmöglichkeiten offen, schließt die nihilistische Story auch nicht ganz befriedigend ab. Es sind vor allem die ersten Szenen, die dem Leser unangenehm, aber auch pragmatisch länger im Gedächtnis bleiben. 

“Sterben und sterben lassen auf einem einstmals blauen Planeten” aus der Feder Christian Endres reiht sich in eine Reihe sehr unterschiedlicher Storys ein, in welcher das Ende der Menschheit und die Zeit quasi danach beschrieben wird. Die Menschen haben die ökologisch ruinierte Erde verlassen. Auf dem einstmals blauen Planeten haben sie den Tod zurückgelassen. Eine Expedition zur Erde soll den Tod überzeugen, auf den Mars umzusiedeln, da die Gesellschaft erkannt hat, daß der Tod ein notwendiges Element des Lebens ist. Pointierte Dialoge und ein sehr konsequentes Ende zeichnen diese interessante Story aus. 

“Die Verwandlung” von Hans Jürgen Kugler beschreibt zwar sprachlich sehr expressiv die Notlandung eines Raumpiloten auf einer fremden Welt und die perfekte Anpassung an den Planeten. Am Ende wird der Jäger zu einer optimierten “Bestie”. Außerhalb der ausführlichen Beschreibungen der exotischen Umgebung präsentiert die Story aber zu wenig wirklich neue Ideen, um nachhaltig in diesem starken Umfeld im Gedächtnis zu bleiben. 

Auch “Der Erleger” von Marco Rauch nutzt ein altbekanntes Thema. Außerirdische besuchen die Erde, wo Menschen extra auf einem primitiven Niveau gehalten werden, damit sie willige Jagdopfer sind. Aus dieser Prämisse macht der Autor aber einiges. Die Fremden mit ihrem Drang nach Trophäen entsprechen vielleicht noch dem Predatorklischee. Aber Menschen helfen ihnen bei der Jagd auf die in die Primitivität zurück gefallenen Artgenossen. Absichtlich nutzt Marco Rauch alle Elemente der klassischen Jagd auf die Tiere inklusiv des Erlegens und des Verzehrs. Der pragmatisch opportunistische Jagdführer macht bei allem mit. Voller nicht sympathischer Charaktere und drastischer Szenen hinterfragt Marco Rauch auch die Jagd auf “wilde Bestien” in der Gegenwart und die Befriedigung des Blutrauschs. In seinem Nachwort stellt der Autor berechtigt die Frage, dass man nicht mehr erkennen kann, wer wirklich die Bestie ist. 

Nils Werners “Ich kann nur sehen, was ich glaube” nutzt lange Zeit auch das Klischee, von der in die Primitivität zurück gefallenen menschlichen Kultur. Die Menschen glauben an Zauberer, die abseits leben. Ein junger Mann will diese aufsuchen. Ein alter Mann folgt ihm, um ihm im entscheidenden Moment zu helfen. Ein Wechsel der Perspektive enthüllt den Hintergrund der Geschichte. Die Identität der Zauberer ist für die Protagonisten eine Überraschung, dahinter versteckt sich allerdings eine Idee, die seit vielen Jahrzehnten immer wieder gerne im Genres genommen wird.    

Zu den besten Geschichten gehört Achim Stößers “Bethlehem”. Die Lebensgeschichte Yeshua als Miniserie erzählt als Zusammenfassung der einzelnen Episoden inklusiv Trivia und Filmfehler. Die Wunderkräfte des angeblichen Gottessohnes sind Geschenke zweier Außerirdischer, inklusiv der entsprechenden Manna Maschine. Erik von Däniken wäre begeistert. Mit einem Augenzwinkern erzählt nimmt der Autor auch die entsprechende Produktion von Soap Dramen auf den Arm.   

Rainer schorms “Hirnwald” folgt den Anmerkungen des Autors. Zu Beginn der Geschichte inspiriert von eine Zeichnung Uli Bendicks, aber auch einer Arbeit von Mario Franke mit einem Anschlag auf die Trump Bibliothek - reine Ironie -  muss eine Frau am Gehirn operiert werden. Am Ende beschreibt der Autor einen besonderen Schöpfungsprozess. Allerdings wirkt die Pointe auch zwiespältig. Rainer Schorm will aufzeigen, was passieren kann, wenn ein Gehirn nach einer nicht vollen Ausnutzung quasi aufblüht. Im Gegenzug hätte es der Realität folgend auch keine Trump Bibliothek geben können, da wäre eine Vollauslastung des Gehirns auch ein Widerspruch per se. 

Michael Tinnefeld hat bei “Upgrade yourself” sogar auf drei Bilder als Leitplanke zurückgegriffen. Der Text zerfällt vielleicht auch deswegen in drei unterschiedliche, nur spärlich miteinander verbundene Teile. Ein freiwilliger meldet sich zu diesem Upgrade Prozess an. Er durchläuft verschiedene Herausforderungen und am Ende steht wahrscheinlich als eine Art Anfang ein weiterer Schöpfungsprozess. Der Autor bemüht sich um eine intellektuelle Tiefe, aber die vielen eher nicht im Sinne von Größe, sondern ihrer Nachhaltigkeit kleinen Ideen wollen nicht wie bei einem Puzzle zusammenfallen, sondern stehen sich teilweise ein wenig sperrig gegenüber. Daher fehlt der Geschichte eine emotionale Basis und kann nicht unbedingt in dieser Form überzeugen. Weniger wäre auf jeden Fall mehr gewesen. 

“Arabesque” von Tessa Maelle ist eine Steampunkgeschichte. Was unterscheidet den Menschen von seinem “Maschinenebenbild” - das entsprechende Bild wird sehr gut in die Handlung integriert - vor dem Hintergrund eines wirtschaftlich ums Überleben kämpfenden Zirkus, deren Hauptattraktion Zweifel entwickelt?  Die Protagonisten sind für die Kürze des Textes erstaunlich gut charakterisiert worden. Der Hintergrund vielschichtig entwickelt, auch wenn der grundlegende Plot eher intuitiv entwickelt als nachhaltig überraschend ist. 

Karin Leroch zeigt mit “Ganymed”, das man alten Zöpfen neues Leben einhauchen kann. Es ist eine Liebesgeschichte zwischen einer Musikstudentin und einem Besucher vom Ganymed. Der Erde sind die Menschen/ Wesen vom Ganymed bekannt. Sie besuchen auch immer wieder heimlich die Erde, sollen aber den Behörden gemeldet werden. Die Unterschiede zwischen den beiden sind gravierend. Dabei verzichtet die Autorin auf umständliche Technik, Plastik alleine hilft. Neben den körperlichen Unterschieden sind es auch die jeweiligen Lebensbedingungen, welche jede Partnerschaft vor Herausforderungen stellen. Aber neben den gut gezeichneten Protagonisten findet die Autorin auch eine emotional überzeugende Lösung, eine Art Happy End, das nicht konstruiert erscheint. 

Heidrun Jänchens “Stille Post” sollte ursprünglich in einer Anthologie mit Themenschwerpunkt Klimawandel erscheinen. Aber der Text ließ sich laut der Autorin nicht richtig gestalten, so dass sie die erste Idee beiseite gepackt hat. Die verschiedenen Ebenen funktionieren auch nur bedingt in dieser zweiten, neuen Fassung. Ein an sich ausgestorbener Schmetterling wird bei der Segmentierung gefunden. Auch wenn der in der Gegenwart diese Sysiphusaufgabe keinen Sinn macht, hilft sie anscheinend in der Zukunft. Nach der soliden Ausgangsbasis versucht Heidrun Jänchen zu viel auf zu wenige Seiten zu packen. Die Botschaft ist klar erkennbar, aber es fehlt ein nachhaltiger Weg, auf dem nicht nur die Protagonisten schreiten sollen. 

Die Herausgeber haben zusammen mit dem Hirnkost Verlag die Inspirationen wie auch die nach den Geschichten entstandenen Zeichnungen drucktechnisch sehr zufriedenstellend wiedergegeben. Wie die bisherigen “Exodus” Anthologien kommt das Format vor allem den Künstlern entgegen. Alle Geschichten sind stilistisch zufriedenstellend, auch wenn sich einige der Autoren zu sehr von der Kunst und zuwenig von den eigenen Handlungsabläufen haben führen lassen. Dadurch wirken einzelne der Geschichten ein wenig zu beladen, fast überladen. Dem Gegenüber stehen eine Reihe von Storys, in denen die Bilder sehr gut als Ausgangsbasis eigenständiger Texte genommen und durch die “Nachillustration” übgerundet worden sind. 

In der Gänze ist “Am Anfang war das Bild” wieder eine sehr gute Anthologie aus dem Hirnkost Verlag, deren Experimentierfreude vor allem den Kurzgeschichtenautoren eine weitere Veröffentlichungsplattform schenkt.     

Am Anfang war das Bild

28,00 

Uli Bendick, Aiki Mira und Mario Franke (Hrsg.)

Anthologie

304 Seiten
Hardcover mit Lesebändchen

ISBN 978-3-949452-15-4

November 2021

Am Anfang war das Bild, Gebundene Ausgabe von Monika Niehaus,Janika Rehak,Robert Diemrich,Uwe Neuhold,Isabell Hemmrich, Hirnkost, 9783949452154