Supernova

Cixin Liu

Chronologisch betrachtet ist „Supernova“ Cixin Lius zweiter Roman. Das Buch ist 2003 veröffentlicht worden. „Kugelblitz“ erschien erst ein Jahr später, stammt aber aus dem Jahr 2000. Der Heyne Verlag hat die beiden Frühwerke des durch seine „Trisolaris“ weltberühmt gewordenen chinesischen Autoren also in der richtigen Reihenfolge ihres Entstehens veröffentlicht.

 

In seinem Nachwort spricht Cixin Liu davon, dass ihn die Ereignisse auf dem Platz des himmlischen Friedens zu dieser Geschichte inspiriert hat. Hinzu kommt ein Traum, in welchem er Kinder unter einem blauen Licht in den Krieg ziehen sah. John Woo hat in seinem Meisterwerk „Bullett in the Head“ ebenfalls die Eindrücke der von China blutig niedergeschlagenen Demokratiebewegung verarbeitet. John Woo verlegte seinen Film einfach gute fünfzehn Jahre in die Vergangenheit und hat ein Epos um Freundschaft, Verrat und vor allem auch Entschlossenheit erschaffen, das nicht nur zu seinen besten Filmen, sondern zu den besten markantesten und damit auch provokativsten Arbeiten des asiatischen Kinos im Allgemeinen und des Hongkong Kinos im Besonderen gilt. Cixin Liu hat es sich in seinem Buch deutlich einfacher gemacht, in dem er lange vor „The Hunger Games“, aber Jahrzehnte nach „Der Herr der Fliegen“ dessen wichtige Aspekte auf eine globale, aber seltsam verzerrte politische Ebene gehoben hat. Cixin Liu spricht immer von einer Allegorie, aber das Buch hat viele Angriffspunkte. Vielleicht sogar zu viele, um als Ganzes ernst genommen zu werden.

 

Nach gut einem Drittel der Handlung nimmt der Plot erst Fahrt auf. Bis dahin muss sich der Leser ausgesprochen ungewöhnlich für Cixin Lius Gesamtwerk durch einen Haufen naturwissenschaftlicher Unmöglichkeiten quälen. Stephen King hat mit seinem Sohn Jahrzehnte später durch die Eliminierung von Frauen auf der ganzen Welt auf einen Fantasytrick zurückgegriffen, um deren Übergang zu erläutern. Cixin Liu sucht eine Supernova.

 

Ein acht Lichtjahre von der Erde entfernt liegender Stern wird plötzlich zu einer Supernova. Bislang wurde er durch eine Staubwolke verdeckt. Acht Jahre später treffen die energetischen Partikel und elektromagnetische radioaktive Strahlung auf die Erdatmosphäre. Alle Chromosomen von Menschen älter als dreizehn Jahre sind betroffen. Naturwissenschaftliche Erklärungen sind Fehlanzeige. Alle Menschen über dreizehn Jahre werden dank der Strahlung innerhalb der nächsten zehn bis zwölf Monate sterben. Alle jüngeren Menschen, bei allen Pflanzen und Tieren heilen die mutierten Chromosonen, so dass die Kinder nach dieser Phase alt werden können. Vor allem auf einer lebenswerten und sie versorgenden Erde.

 

Schäden in der Ozonschicht, verstrahlte Meere oder Langzeitfolgen gibt es nicht. Biologisch würden Zellen von Kindern und Heranwachsenden mehr und anders unter der Strahlenbelastung leiden als Zellen von alten Menschen, die sich eben nicht schneller wieder regenerieren, dabei aber auch widerstandsfähiger sind.

 

Im Gegensatz zu Fantasy Geschichten wie Stephen Kings „Sleeping Beauties“ brauchte der Chinese einen semiwissenschaftlichen Hintergrund, um seinen Jugendlichen im Gegensatz zu Golding keine abgelegene Insel, sondern einen ganzen Planeten mit allen technischen Spielzeugen zu schenken, auf dem sie relativ schnell die (Kriegs-) spiele der Erwachsenen übernommen haben und dem Plot folgen auch mit den entsprechenden nationalistischen Tendenzen zwischen dem kommunistisch sozialistischen System Chinas und dem kapitalistischen in erster Linie von Amerika vertretenen Westen.

Es ist keine Überraschung, das die Kinder schnell nicht mehr den von den Erwachsenen hinterlassenen Anweisungen und Ratschlägen folgen wollen. Zu Beginn herrscht Spiel und Spaß vor. Die Welt wird zu einer Art Jahrmarkt mit vielen Attraktionen, alle relativ schnell umsonst und jederzeit nutzbar. Solange die Vorräte der Erwachsenen reichen, solange leben die Kinder in den Tag hinein. Mit Mühe und Not baut Cixin Liu die Idee ein, das sich jemand ja auch um die Kleinkinder kümmert. Zwar sind in den neun Jahren zwischen der Entdeckung der Nova ohne Kenntnis der selektiven Strahlung und dem Tod der letzten Erwachsenen immer weniger Kinder auf die Welt gekommen, aber rechnerisch muss es zumindest ein bis dreijährige Kinder geben. Irgendwie beginnt Cixin Liu diese im Verlaufe der Handlung zu ignorieren.

 

Nach dem Funland kommt schließlich der Krieg. „Der Herr der Fliegen“ lässt grüßen. Spielfläche ist vor allem die Antarktis, deren Oberfläche immer mehr taut. Anscheinend hat die Menschheit schon vor der Ausrottung durch die Strahlung den Point-of-no-Return überschritten, da niemand nach dem Tod der Erwachsenen die komplexen und im Grunde ja für die Kinder überwiegend nutzlosen Maschinen am Laufen hält.

 

Ab diesem Punkt versucht Cixin Liu aus der Sicht der chinesischen Partei und wahrscheinlich zumindest zu dieser Zeit auch seiner persönlichen, erstaunlich naiven und mit Scheuklappen ausgestatteten Sicht auf den Westen das eigene Volk selbst in der Form der Kinder zu glorifizieren und gleichzeitig im Grunde alle Nichtchinesen zu diskreditieren. 

 

William Golding hat aufgezeigt, wie schnell sich eine Diktatur in einer kleinen isolierten Gemeinschaft mit fatalen Folgen für Teile der Gruppe ausbilden kann. Dabei hat der Autor Strukturen und Entwicklungen ohne Wertungen beschrieben, was die Geschichte nicht nur zeitloser, sondern nachdenklich stimmend macht. Bei Cixin Liu entwickelt sich dieser Hang zum echten Kriegsspielen fast aus dem Nichts heraus, obwohl es eigentlich ausreichende andere Themen hinsichtlich eines langfristigen Überlebens der verbliebenen Menschen geben müsste. Wie eingangs erwähnt hat er aber unnötig wie konstruiert seine jugendlichen Protagonisten von dieser Last befreit.

 

Die Passagen sind schwierig einzuordnen. Die Lust am gegenseitigen Töten geht über die normalen Kriegsmanöver hinaus. Im Gegensatz zu Soldaten, die auf den Kampf gedrillt, entweder die Heimat verteidigen oder verblendeten Ideologien folgen entsteht diese Lust am auch grausamen Töten ohne Emotionen quasi aus dem Nichts heraus. Die Balance zwischen Freude an diesen wie dreidimensionale Kriegsspiele beschriebenen Szenen und einer kompletten Ignoranz nicht nur der persönlichen Folgen stimmt einfach nicht. Die Szenen wirken plakativ, den Krieg verherrlichend und erschreckend naiv. Die eindimensionale Charakterisierung der von Beginn an schwach ausgeprägten Protagonisten unterstreicht eher Cixin Lius Hilflosigkeit, einen vielleicht kritisch gemeinten Text vernünftig zu erzählen. Wenn dann auch noch eine politische Komponente von grenzenloser Naivität aus subjektiv chinesischer Sicht hinzu kommt, dann entlarvt sich der Autor zumindest in diesem Frühwerk als parteipolitische Demagoge  

 

Weder China noch die USA – Russland findet typisch für die Verachtung der Chinesen des Russen gegenüber im Grunde nicht statt – sind Waisenknaben, aber die Amerikaner als Nachkommen politisch konträrer Hippies und Punks darzustellen, welche die Nation wahrscheinlich in den sechziger und später achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts in den Untergang geführt haben, erscheint polemisch. Dagegen sind die Kinder der Partei politisch ordentlich geschult, emotional abgestumpft und hinsichtlich des Expansionsdrangs unaufhaltbar.

In der vorliegenden Fassung lässt sich der Text auch nicht als Satire ansehen. Vielleicht die ersten einhundertfünfzig Seiten, in denen die Kinder und Jugendlichen den langen Schatten der Erwachsenen ablegen und die „Freiheit“ kurze Zeit genießen. Danach wird das Buch zu einer fast unerträglichen parteipolitischen Propagandashow, auf welche vor allem die Politikergeneration eines Xis mit ihren langfristigen wirtschaftlichen Weltkontrollplänen stolz wären. Vielleicht denkt nicht jeder Chinese so, wie Cixin Liu es bis ins Extremste überzeichnet darstellt. Aber vor allem die letzten Monate haben gezeigt, das China vor allem auch wie Russland eine besondere Art der neuen Weltordnung haben, die komplett unter ihrer eigenen Kontrolle zu erfolgen hat. China ist vielleicht noch nicht so weit, dass nach innen die autarke sich selbst versorgende Gesellschaft steht, die nach außen andere Staaten in entsprechende Abhängigkeit gebracht hat. So lange dieses Ziel noch nicht erreicht hat, muss das gegenwärtige China nach außen zumindest gute Miene zum aus ihrer Sicht nicht perfekten Spiel machen. Aber sollte diese Stufe erreicht werden, könnte Cixin Lius bittere Geschichte auf einer gänzlich anderen Ebene wahr werden.  Auch wenn die Amerikaner immer noch in der Rolle des Weltpolizisten eine gewisse Ambivalenz zeigen, sollten selbst subjektiven Einblicke in das gegenwärtige China, aber auch das in die Herrschaft der Zarentyrannen zurückgefallene Russland eine Warnung für Europa sein, dass es im Grunde keine echten Freunde, höchstens mit Abstand zu tolerierende Handelspartner gibt.

 

 In dieser Hinsicht ist „Supernova“ vielleicht unabsichtlich eine der politisch wichtigsten Veröffentlichungen nicht nur Cixin Lius, sondern auch eines Teils der chinesischen Science Fiction und damit auch des asiatischen Blickwinkels. Ob Cixin Liu heute noch zu seinen nicht nur aus westlicher Sicht fragwürdigen Thesen von der Glorifizierung eines grausamen Krieges um Grunde um Nichts steht, lässt sich aus den zahlreichen, auf die Veröffentlichung der „Trisolaris“ Trilogie folgenden Interviews nicht entnehmen, aber literarisch ist dieses Erstlingswerk eine a der Grenze zu Widerwärtigkeit rassistische und antikapitalistische Streitschrift, deren satirische Elemente – so fern vorhanden – in der vorliegenden Übersetzung an keiner Stelle zu erkennen sind. Gleichzeitig ist das Buch vielleicht unabsichtlich die perfekte Warnung an den Westen, das aus China nicht nur Corona gekommen ist, sondern das Schlimmste vielleicht noch bevorsteht.                 

Supernova: Roman

  • Herausgeber ‏ : ‎ Heyne Verlag; Deutsche Erstausgabe Edition (13. Dezember 2021)
  • Sprache ‏ : ‎ Deutsch
  • Broschiert ‏ : ‎ 512 Seiten
  • ISBN-10 ‏ : ‎ 345332031X
  • ISBN-13 ‏ : ‎ 978-3453320314
  • Originaltitel ‏ : ‎ 超新星纪元 (Chaoxinxing Jiyuan / The Supernova Era)