Der Tunnel

Bernhard Kellermann

Als Band eins der neuen Reihe „Wiederentdeckte Schätze der deutschsprachigen Science Fiction“ präsentiert der Hirnkost mit Bernhard Kellermanns „Der Tunnel“ einen in mehrfacher Hinsicht Klassiker der utopischen Literatur. Es ist gleichzeitig auch der erste Roman der nicht miteinander verbundenen Technik Trilogie Kellermanns, deren zweiter Teil 1932 „Die Stadt Anatol“ – im Gegensatz zu „Der Tunnel nur einmal und nicht viermal adaptiert – und sechs Jahr später sein persönlicher „Titantic“ Roman „Das blaue Band“ gewesen sind. Auch wenn Bernhard Kellermann im Gegensatz zur späteren Nazi Verfilmung „Titanic“ den Namen des durch einen Eisberg sinkenden Luxusliners in „Cosmos“ umbenannt hat.

Die Neuauflage im Hardcoverformat wird von einem launischen, aber auch geschwätzigen Vorwort Andreas Eschbachs eingeleitet. Immerhin wäre der Transatlantiktunnel direkt vor seiner Haustür in der Bretagne herausgekommen. Das verbindet. Der Herausgeber der Reihe Hans Frey hat ein ausführliches, aber anscheinend nicht extra für diese Veröffentlichung geschriebenes Nachwort hinzugefügt. Ansonsten ließe sich eine komplette inhaltliche Zusammenfassung des Romans zu Beginn seines Essays schwer erklären. Auch die zahllosen, als Argumentationsketten dienenden Zitate aus dem Buch wirken in einem direkten Anschluss an die Lektüre eher befremdlich.

Bernhard Kellermann ist mit diesem Werk im Grunde einer der Brücke schlagenden Autoren, der die phantastischen Ideen eines Jules Vernes mit dem späteren Werk Hans Dominiks allerdings auf einer Blut & Eisen Basis verbindet. Während Jules Verne aus dem Nichts mit der Hand der Phantasie ganze fliegende oder schwimmende Städte erschaffen hat, ohne das im literarischen Sinne die Arbeiterschaft ausgebeutet worden ist, konzentrierte sich Hans Dominik ebenfalls auf phantastische und technisch- utopische Ideen, deren Konstruktion und Bau ebenfalls "sauber" und ohne Menschenopfer unter gewerkschaftlich organisierten Arbeitsbedingungen abseits jeglicher Realität stattfinden.   

Bernhard Kellermann geht es in "Der Tunnel" auch nicht nur um das epochale Vorhaben, das es den Maßen ermöglicht, kostengünstig zu reisen, während die soziale Elite, das Kapital mit der neugegründeten Luftschifflinie oder den immer schneller werdenden Luxusdampfern, aber noch nicht in Flugzeugen den Atlantik überqueren. Dabei schrumpft die Zeitersparnis erheblich, wie Kellermann am Ende seines umfangreichen Werkes durch den zu einem lebenden Zombie gewordenen Antihelden Marc Allan resümieren lässt. Der Bau des Tunnels ist nur ein Teilschritt im technologischen Fortschritt, einer immer mehr zusammenwachsenden globalen Welt mit internationalem Kapital finanziert. Das gab es auch schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts und stellt kein Novum der gegenwärtigen Zeit dar. In Kellermanns in naher, aber nicht weiter bestimmter Zukunft spielenden Vision gibt es den Ärmelkanal Tunnel schon. Viele von Kellermanns vor allem kapitalistischen Prophezeiungen werden sich bei diesem Projekt bewahrheiten. Deutlich teurer als geplant, das Eigenkapital in Form von Aktien auf Jahrzehnte nicht lukrativ, die drohende Insolvenz, die zu optimistischen Planzahlen. “Der Tunnel” wirkt teilweise wie eine warnende Blaupause. 

Im Grunde beschreibt Bernhard Kellermann aber in seinem Buch nicht nur den Konflikt zwischen Kapital und Muskelkraft, sondern zeigt auf, dass eines nicht ohne das Andere kann. Auch anders herum. Wir sind nur wenig weg von den Thesen wie "Alle Räder stehen still, wenn Dein starker Arm es will", denn nach einer Katastrophe im Tunnel durch einen Einbruch auf einer breiten Front wollen die Arbeiter nicht mehr mit ihren Tätigkeiten fortfahren. Auf der anderen Seite macht Kellermann deutlich, dass die anschließende Arbeitslosigkeit und die Entlassung von 100.000 bis 200.000 Männern zumindest literarisch deren Familien in die Armut treibt. Neue Arbeit ist für diese Masse an teilweise spärlich ausgebildeten Männern nur unter Gehaltskompromissen zu finden. Also sind Muskelkraft und das die Massen fütternde Kapital enger miteinander verbunden, als es den Ersteren lieb ist, aber dem Zweiten alleine aufgrund der eigenen sozialen Betrachtung opportun erscheint. Auf der anderen Seite hat die Tunnelgesellschaft gegen Ende des Buches kein Problem, mehr als 100000 Arbeiter dem klassischen Arbeitsmarkt zu entziehen und wieder anzustellen. Wie bei einem sozialistischen Gemälde kommen sie in Scharren mit dem Handwerkszeug über den Schultern wieder zum Moloch Tunnel und führen das Werk unter Allens Aufsicht zu Ende.

Bernhard Kellermann extrapoliert das klassische Schicksal der Arbeitermassen am Ende der industriellen Revolution und vor Einführung von zumindest einigen der bismarckschen Sozialgesetze. Nicht umsonst zeigt Kellermann auf, das sich der Ingenieur Allan aus einfachsten Verhältnissen im Kohlenbergbau nach oben gearbeitet hat. Zwar mit Hilfe einer reichen Frau, die ihn aufgrund seines Schicksals adoptierte, aber vorher hat er als Junge schon hart im Bergbau gearbeitet. Wie Millionen andere Kinder. Auch beim Bau des Tunnels werden Kinder und Jugendliche mit einsetzt. Auch wenn die Arbeit hart ist und der Bau des Tunnels mehrere tausend Menschenleben kostet, zeichnet Bernhard Kellermann auch das Portrait eines erstaunlich großzügigen Mäzens, der seinen Arbeitern moderne, allerdings auch seelenlose Siedlungen baut; sich um die Bildung der Kinder kümmert und die Witwen/ Waisen nach dem Tod ihrer Männer sowie selbst nach der Einstellung der Arbeiten weiterhin kostenlos anscheinend in den Wohnungen belässt.  Das macht Allan zu einem sozialeren Menschenschinder, der arbeitstechnisch aber die damaligen bzw. zur Entstehung des Romans allgegenwärtigen Verhältnisse nicht auf den Kopf stellen kann. Höchstens ein wenig verbessern.   

Hans Frey macht deutlich, dass Bernhard Kellermann keine Alternativen, keine utopische Gesellschaft mit paradiesischen Lebens- und Arbeitsbedingungen präsentiert. Das ist aber auch nicht der Sinn des Romans, sondern der Autor versucht ein auf realistischer und nicht utopischer Basis extrapoliertes Großprojekt und dessen Gestehung zu beschreiben, von denen es im kleineren Rahmen unzählige in dieser Epoche gegeben hat. Mit vielen Opfern unter den spärlich bezahlten Arbeitern. Dabei geht Bernhard Kellermann das Wagnis ein, die Realität auf den Baustellen zu beschreiben. Vielleicht ein wenig zu progressiv, zu optimistisch, dass solche die Grenzen des Machbaren herausfordernden Projekte Opfer fordern, ja fordern müssen, damit das Werk gelingen kann. Aus heutiger Sicht viel zu unmenschlich, aber die damaligen Arbeitsbedingungen waren so. Und wenn der Leser ehrlich ist, sind sie auch heute noch vielleicht nicht in der ersten Welt, aber schon direkt hinter dem Horizont weiterhin so. Nicht nur Katar lässt grüßen. Und auch heute gibt es immer noch Unfälle mit vielen Toten auf Großbaustellen.  

Bei den handelnden Personen ist Kellermann deutlich globaler unterwegs als es die Zeit und vor allem Hans Dominiks später wieder deutsche Ingenieure vermuten lassen. Die Sprache ist ein buntes Kauderwelsch aus deutschen und englischen Worten. Damit versetzt der Autor das Geschehen quasi in eine Art Parallelwelt. Auch sein Held stammt aus ärmlichen, aber keinen deutschen Verhältnissen. Im Gegensatz zu seinem besten Freund, einem klassischen Lebemann. Der Tunnel nimmt Besitz vom biederen, bodenständigen und erstaunlich ehrlichen Ingenieur, der mit Reichtum wenig, aber Präsenz gegenüber Dritten im Geschäftsleben mit überdimensionalen Büros sehr viel anfangen kann bzw. muss. Gegenüber seinen Arbeitern ist er grundehrlich, der Finanzwelt spielt er eine Projektlänge von 15 Jahren vor, die nur unter den günstigsten, fast aber nicht ganz unrealistischen Bedingungen eingehalten werden kann. Vielleicht die einzige Lüge, um den Stein bei den kurzfristig denkenden Investoren ins Rollen zu bringen.   

Zwei Frauen interessieren sich für ihn. Auch wenn Bernhard Kellermann das Frauenportrait dieser Zeit bemüht, spielt der Hintergrund keine Rolle. Die Milliardärstochter wird genauso zur liebenden, aber nicht geliebten Frau und Helferin wie die aus einfachen Verhältnissen stammende erste Frau, die mehr und mehr ihren Mann an diese gigantische Aufgabe verliert. Ein Moment der Schwäche bewirkt ein schlechtes Gewissen, das umgehend bestraft wird. Aber der im Mittelpunkt stehende Mann ist nur für Momente der Besinnung voll quälender Erinnerungen in der Lage, an Familie und seine Kinder zu denken. Dann treibt ihn das ganze Projekt, aber anscheinend weniger der persönliche Ruhm wieder unter die Erde. Selbst als er mit einer Handvoll Getreuer alleine die Sisyphusaufgabe zu bewältigen sucht.    

Marc Allen steht zwischen der Finanzwelt und dem Mob. Den Mob hat er quasi selbst erschaffen, in dem er den Arbeitern zumindest imaginäre Macht geschenkt hat. Die Grenze zur Gewalt ist fragil, wie die Aufstände nach der unvorhersehbaren Tunnelkatastrophe inklusive der Ermordung unschuldiger Menschen zeigen. Oder der Sturm auf die Büros in New York, als das Syndikat noch die Dividende auf die Anteilsscheine per Hand auszahlt. Wie leicht Massen beeinflussbar sind, zeigt Kellermann an mehreren Stellen seines Romans. Auch wie leicht sie zu manipulieren sind, wobei ausgerechnet sein nur auf den zweiten Blick charismatischer Antiheld beim  Anfahren des Projektes im ersten Anlauf scheitert. 

Das Kapital wird als Schlange charakterisiert. Immer auf der Suche nach Opportunitäten, um das Geld zu vermehren. Auch keine neue Entwicklung, wie die holländische Tulpenkrise viele Jahrhunderte vorher schon zeigte. Und die Finanzkrisen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts sowie dem laufenden Jahrhundert immer wieder aus unterschiedlichen Gründen unterstrichen. Aber ohne das Geld der Aktieninvestoren sind Projekte nicht zu stemmen. Auch Banken haben ihre Grenzen. Allen lernt, das man den eigenen Mitstreitern im Projekt nicht trauen kann. Dagegen ist die beruhigende Hand ein ehemaliger Haifisch im Bankenbecken, der sich sklavisch seiner Tochter ergeben hat und ihr jeden Wunsch von den Augen abliest. Es ist keine Kapitulation vor dem Kapitalismus, das bei der Jungfernfahrt durch den ausgerechnet der Schwiegervater als erster Passagier mitfährt. Ohne ihn gäbe es den Tunnel nicht.  Die Politiker haben sich immer vor Entscheidungen gedrückt, deswegen will Kellermann sie auch nicht als Opportunisten mit an Bord haben. Das ist klassischer Pragmatismus und keine Symbolik. 

Angetrieben von Kellermanns expressiven Stil ist “der Tunnel” auch mehr das Portrait einer Epoche, in das Überdimensionale bis Übertriebene extrapoliert als die klassische Schilderung eines Bauvorhabens. Im mittleren Abschnitt findet der Tunnel nur symbolisch statt. Die Fertigstellung erfolgt schließlich im Zeitraffer, alle Probleme werden teilweise gegen architektonische Logik gelöst. Zehn Kilometer Höhenunterschied auf einer Strecke von mehr als sechstausend Kilometern? Kein Problem, man muss sich nur unter der Erde finden.  Auch wenn “Der Tunnel” ein gigantisches, unglaubliches Bauvorhaben beschreibt, das sicherheitstechnisch wahrscheinlich gar nicht zu realisieren ist, ist es weniger der Roman eines Ingenieurs, sondern eines Literaten, eines Künstlers, der sich mit seiner Umgebung auseinanderzusetzen sucht. In Harry Harrisons Alternativweltroman “Der große Tunnel” finden sich auf der Hälfte des Umfangs von Kellermanns Roman mehr technische Ideen. Dafür ist Kellermanns Beschreibung der eigentlichen Arbeiten bis auf die an eine Armee erinnernde Bewaffnung der Führungskräfte realistischer als bei Harrison, aber auch Hans Dominik. 

Bernhard Kellermann will in seinem Buch die Faszination eines solch gigantischen Molochs heraufbeschwören. In Zeiten der Weimarer Republik noch mit Fritz Langs “Metropolis” zu vergleichen. Vielleicht haben die ungezählten Arbeiter Kolonnen, welche stetig unter die Erde fahren in ihren endlos wirkenden Zügen Fritz Lang auch mit inspiriert. Der Bau des Tunnels schafft durch den gigantischen Abbau auch neues Land. Und damit kann der Bogen zu Theodor Storms “Der Schimmelreiter” geschlagen werden. Marc Allen als moderne Version des Hauke Haiens, wobei beide Männer einen steinigen Weg gehen müssen. Mit vielen Opfern. Hauke Haien wird ein Erbe hinterlassen, das Generationen schützt. Marc Allen erlebt die Vollendung seines Werkes, auch wenn die Geschwindigkeit an seinem Tunnel nagt und ihn schnell vergessen machen könnte.         

“Der Tunnel” ist ein wichtiger sozialtechnisch utopischer Roman, der eine Neuauflage verdient hat. Er gehört zwar nicht zu den wiederentdeckten Schätzen, da das Buch immer wieder nachgedruckt, verfilmt und schließlich auch vertont worden ist. Aber angesichts seiner erzählerischen Faszination; seinem Versuch, über das Projekt hinaus eine auf den ersten Blick technisch grenzenlose Zeit zu beschreiben, in welcher Geld alles möglich machte und der globalen Ausrichtung ist es ein idealer Auftaktroman für diese Edition. .

Der Tunnel (Wiederentdeckte Schätze der deutschsprachigen Science Fiction)

  • Publisher ‏ : ‎ Hirnkost; 1st edition (28 July 2022)
  • Language ‏ : ‎ German
  • Hardcover ‏ : ‎ 484 pages
  • ISBN-10 ‏ : ‎ 3949452281
  • ISBN-13 ‏ : ‎ 978-3949452284