Dieter von Reeken legt den vierten und letzten Sammelband in gewohnt gehobener Qualität vor. Die meisten Informationen über die Entstehung dieses Lieferungsromans, markante Themen aus Krafts Gesamtwerk und hinsichtlich des abrupten Endes finden sich in einem ausführlichen Vorwort des ersten Buches.
Mit der sechundvierzigsten Lieferung brach Robert Kraft die Arbeit an „Das zweite Gesicht oder die Verfolgung rund um die Erde“ ab. Normalerweise bestehen zumindest die Lieferungsromane Kraft aus sechzig Lieferungen bzw. einzelnen Heften mit meistens um die vierundsechzig Seiten Umfang. Der Verlag sprach von gesundheitlichen Problemen des Autoren. Das ist nicht von der Hand zu weisen, da Robert Kraft wenige Jahre später erschöpft zur Erholung an die Ostsee gefahren und dort gestorben ist. Eine andere Möglichkeit offenbart die Handlungsführung. Der Plot mit der Suche nach dem Kind Deasy wird immer komplizierter und vor allem komplexer. Immer wieder fließen neue Ideen, ganze Exkurse in die Lieferungen ein. Zumindest wird das Kind am Ende der letzten Lieferung jemandem anvertraut, der es wieder zu Fred, dem amerikanischen Frontiermann, zurückbringen kann. Damit schließt sich unabhängig von den zahllosen nicht aufgelösten Handlungssträngen zumindest ein inhaltlicher Kreis. Trotzdem werden die Leser wenig Zufrieden gestellt zurück gelassen.
Die in dem vierten Band zusammengefassten einzelnen Lieferungen zeigen aber fast exemplarisch die Stärken und Schwächen von Robert Krafts umfangreichen Werken vor allem im Vergleich zu Karl May deutlich auf. Karl May hat seine Geschichten einfacher, aber nicht weniger faszinierend oder exotisch konzipiert. Sowohl Robert Kraft als auch Karl May geben nicht selten mit angelesenem Wissen an und versuchen ihre Leser nicht nur zu unterhalten, sondern politisch/ geographisch/ kulturell zu belehren. Karl May verfällt dabei in Monologe, die sich über mehrere Seite hinziehen. Robert Kraft dagegen durchbricht die Wand zum Leser und spricht ihn in einzelnen Lieferungen direkt an. Karl May konzentriert sich auf Amerika- beide Kontinente - und den Nahen Osten. Bei Robert Kraft spielt unter anderem auch Indien mit den einzelnen Kasten immer wieder eine wichtige Rolle.
Beide Autoren nutzen in ihren umfangreichen Werken auch die intime Ich- Erzählerperspektive. Marl May deutlich konsequenter, während Robert Kraft auch hinsichtlich der Vielzahl von Handlungsebenen im Laufe eines Lieferungsromans die Erzähler und deren Perspektiven auswechselt. Karl May erzählt chronologisch. Die Zeit, welche Reisen im 19. Jahrhundert dauern, definieren die inhaltlichen Romanlängen. Robert Kraft springt zwischen den Zeiten hin und her. Nicht selten beendet er einen Spannungsbogen und setzt mit der nächsten Lieferung meistens einige Jahre vorher ein, um ein anderes Schicksal zu erzählen oder eine neue Figur auf seinem globale Schachbrett der Abenteuer zu positionieren, die wichtig werden kann, aber aufgrund Robert Krafts Hang zur handlungstechnischen Improvisation nicht werden muss.
Das Herzstück der hier gesammelten Lieferungen würde für einen eigenständigen Roman ausreichen. Der Amerikaner Sharp trifft auf den Zigeunerprofessor Swinton, der aus ärmlichen Verhältnissen einer Zigeunerfamilie stammt und sich sozial hochgearbeitet hat. Er ist inzwischen Mitglied der unsichtbaren Loge, die seit mehr als 300 Jahren im Hintergrund die Welt vielleicht nicht beherrscht, aber überwacht. Swinton hat eine Droge entwickelt, die Schlaf überflüssig macht. Jeden Tag einen Tropfen aus diesem Wundermittel und der Körper benötigt keine Ruhe.
Im Umkehrschluss muss aber nur auf das Serum verzichtet werden, wenn man wieder „normal“ schlafen möchte. In dieser Hinsicht argumentiert Robert Kraft seltsam naiv. Aber die Droge ist nur der Einstieg in einen sehr langen Abschnitt voller phantastischer Ideen.
Sharp und Swinton dringen durch eine Höhle in ein unterirdisches Reich ein, ein wichtiger Stützpunkt der unsichtbaren Loge. Mittels Elektrizität ist dort Eis erschaffen worden, auf dem die beiden Männer Schlittschuh laufen. In der Höhle leben Nachkommen eines Stammes aus dem Kongo. Zusätzlich finden in der Höhle zoologische Experimente mit einheimischen Tieren statt. So gibt es Elefanten, die auf den selbst zweiten Blick wie Mammuts wirken.
Eine Kletterwand stellt eine besondere Herausforderung dar. Die besten Spezialisten können innerhalb von 47 Sekunden die mehr als 40 Meter Höhenunterschied überwinden. Vor Abstürzen ist zumindest Sharp durch ein Magnetfeld zusätzlich geschützt.
Aus „Atalanta“ hat Robert Kraft die Idee von kraftvollen Teleskopen übernommen, welche auch mittels besonderer Spiegelungen die ganze Welt in Form eines riesigen Globus und der entsprechenden Projektionen auf dessen Oberfläche beobachten können. Aus dem All ist es sogar möglich, einen Menschen irgendwo auf dem Planeten erkennbar zu vergrößern und damit seine Position festzustellen. Ein Vorläufer von Google Earth, natürlich in der Hand einer Organisation, die Gutes tun und die Bösen bestrafen möchte.
Die in diesem Abschnitt präsentierten Ideen sind in sich schlüssig. Aber der Leser würde gerne sicherlich mehr über die Mitglieder der unsichtbaren Loge und ihre Vorgehensweisen erfahren. Vieles wird Sharp quasi als eine Art Einladung, selbst der Loge beizutreten, mitgeteilt. Schon in den im zweiten und dritten Band zusammengefassten Lieferungen haben Mitglieder der Loge eingegriffen und mit Almasor einen der Antagonisten festgenommen. Almsasor kann aus dem Gefängnis fliehen, in dem mehrere Gefangene und er selbst an einem Tunnel graben müssen, mit dem neue wissenschaftliche Experimente vorbereitet werden sollen. Zumindest harte körperliche Arbeit wird bei Robert Kraft den Schwerkriminellen weiterhin zugemutet.
Den Sprung von Sharp/ Swinton zu Almasor kann der Leser noch nachvollziehen. Anschließend findet in einer der nächsten hier zusammengefassten Lieferungen eine Exkursion zu einer modernen Interpretation des Märchens um das tapfere Schneiderlein, der als deutscher Handwerker im eigenen Land nicht auf einen grünen Zweig gekommen ist. Durch Zufall lernte er einen Mann kennen, der in den USA eine reiche Goldader - allerdings auf Indianerland - gefunden hat. 28 Mal ging die Reise gut, mit welcher der Handwerker Gold nach Deutschland gebracht hat.
Neben dieser dunkel endenden Episode finden sich andere Kapitel/ Lieferungen, die nur eingeschränkt in einen Zusammenhang mit dem roten Faden um das zweite Gesicht gesetzt werden können. So geht Robert Kraft für die damalige Zeit typisch rassistisch auf die Konflikte zwischen den Buren und den Farbigen in Südafrika ein. Das Gri-Gri, eine Art Hypnose, dient anscheinend nur als Ergänzung bzw. Mittel zum Zweck hinsichtlich des im Titel des Romans angesprochenen zweiten Gesichts. Denn das junge im ersten Buch entführte Mädchen Deasy kann quasi nur mittels Hypnose das zweite Gesicht aktivieren, mit dem sie andere Menschen irgendwo auf der Erde erblicken und bedingt in die Zukunft schauen kann. Bis auf einige Erklärungen fügt Robert Kraft auf dieser Handlungsebene keine neuen Informationen der Ausgangsbeschreibung des Gri-Gri hinzu. Dieter von Reeken hat für den Nachdruck die rassistischen Entgleisungen nicht geglättet. Als Herausgeber geht er davon aus, das die Leser die Bemerkungen der Zeit des Autoren zuordnen können und sie aus heutiger Sicht als Rassismus ablehnen. Dieter von Reeken geht es um eine möglichst Originalgetreue Reproduktion dieses heute auch antiquarisch kaum zu erhaltenden Lieferungsromans.
Im zweiten Band der vier Ausgaben stand eine Reise im Ballon durch die Wüste Nordafrikas im Mittelpunkt der Handlung. Damit wollte eine besorgte Mutter rasch zu ihrem Sohn, der mit seinem Flugzeug abgestürzt ist. Auch diesen roten Faden nimmt Robert Kraft nur bedingt wieder auf. Der Leser hat das unbestimmte Gefühl, als wenn einzelne Lieferungen allerdings des Zeilenschindens dienten. Der Aufenthalt der Protagonisten wird in der Wüste beschrieben, sie erleben einige kleinere Abenteuer in Karl May Manier und verschwinden wieder im Nichts der umfangreichen Handlungsstränge.
Viel interessanter ist abschließend noch das Bleigeschoss, das seine Größe verändern und quasi von selbst wieder in die Hand seines Besitzers zurückkehren kann. Diese Idee steht für sich alleine isoliert da. An einer anderen Stellen schreibt Robert Kraft wieder in einem für sein Lieferungswerk typisch von elektrischen Spielereien, die Thomas Edison nebenher erfunden haben soll. Viele Ideen kommen den Stammlesern aber wie die schon angesprochene unterirdische in einer Höhle gelegene Anlage der unsichtbaren Loge aus “Atalanta” vertraut vor.
Da Robert Kraft die Geschichte nicht zu Ende geschrieben, sondern im letzten Absatz abrupt und mit einer Art Übergangshappyend beendet hat, lässt sich schwer ein abschließendes Fazit ziehen. Von seinen Lieferungsromanen ist „Das zweite Gesicht oder die Verfolgung rund um die Erde“ zu Beginn eine weiter okkulte Geschichte um ein junges Mädchen mit einer besonderen Fähigkeit. Robert Kraft beschwört den Konflikt arm – der Vater ist ein Hinterwäldler, der seine Tochter liebt – gegen reich – eine Milliardärin ist dem Wahn verfallen, das Mädchen wäre ihre verlorenes Kind – herauf. In der Mitte der vorhandenen Lieferungen geht es um die Suche bzw. Jagd nach dem mehrfach entführten Mädchen. Übernatürliche Fähigkeiten in Form des zweiten Gesichts, aber auch von Schamanen werden opportunistisch eingesetzt. Meistens in den Szenen, in denen sich Robert Kraft hektisch in eine literarische Ecke geschrieben hat und sich nur mit einfachen schriftstellerischen Mitteln, die in sich nicht logisch sein mussten, „befreien“ konnte. Viele Ideen werden präsentiert, die Übergänge zwischen den einzelnen Spannungsbögen sind teilweise sehr abrupt und nicht immer wird der rote Faden wieder aufgenommen. Die Figuren sind meistens pragmatisch charakterisiert worden. Sie wirken stellenweise nicht zuletzt aufgrund ihrer emotionalen Ausbrüche auch klischeehaft gezeichnet.
Robert Krafts Stärken liegen in der plausiblen Beschreibung nicht nur utopischer Ideen. Dazu kommen die exotischen Plätze und vor allem auch Kulturen, die sehr ausführlich und stellenweise auch zu Lasten des Tempos präsentiert werden.
Der Plot spielt neben dem Auftakt in den USA auch in Europa bzw. der Hafenstadt Hamburg, im nördlichen Afrika mit einem Exkurs nach Südafrika und in Indien, wo der Autor auf das aus einem anderen Lieferungsroman bekannte gepanzerte Automobil gesetzt hat. Die verschiedenen Schauplätze ermöglichen es dem Autoren, Seiten mit Informationen und beschreiben exotischer Plätze zu füllen, welche besondere die breiten, des Lesens kaum mächtigen Massen in ihrer Phantasie beflügelt haben werden. Ob die präsentierten Fakten der Realität entsprachen, spielt hier keine Rolle.
Dominierten okkulte Ideen zu Beginn des Lieferungsromans verschiebt Robert Kraft mit der unsichtbaren Loge und ihren technischen Fähigkeiten den Fokus mehr in den Bereich der utopischen Abenteuerliteratur. Viele Ideen hat Robert Kraft in vorangegangenen Lieferungsromanen verwandt. Einige Ansätze werden nur bedingt ausgearbeitet. Aber durch das hohe inhaltliche Tempo und die zahlreichen wechselnden Schauplätze sowie die ursprüngliche Veröffentlichungsform der Lieferungen, die sich über mehr als ein Jahr hinstreckten, wird das kaum einem Leser wirklich aufgefallen sein. Die geraffte Veröffentlichung in vier Büchern macht diese Oberflächlichkeit nicht nur bei Robert Kraft, sondern auch öfter bei Karl May deutlicher.
Als Einstieg in Robert Krafts sehr umfangreiches Werk eignen sich für den okkulten Bereich „Loke Klingsor“ und „Atalanta“ als utopisch technischer Abenteuerroman eher. In Vorbereitung befindet sich bei Dieter von Reeken „Wir Seezigeuner“, basierend auf eigenen Erfahrungen auf hoher See. Es handelt sich eher um einen klassischen Abenteuerroman. Wer sich intensiver mit Robert Kraft und seinem Werk beschäftigen möchte, kommt allerdings um das unvollendete Epos „Das zweite Gesicht oder die Verfolgung rund um die Erde“ nicht herum. Wie bei allen anderen Bänden der Robert Kraft Edition im Verlag Dieter von Reeken finden sich alle Frontspitzzeichnungen in den liebevoll zusammengestellten Bände als Einleitung zu den einzelnen Kapiteln. Hinzu kommen informative Vorwörter.
Band 4 (Kapitel 84–103), 443 S., 11 Illustrationen - 30,00 € — ISBN 978-3-945807-66-8