Fünf Dezember

James Kestrell

 

Der Suhrkamp Verlag legt mit „Fünf Dezember“ den ersten unter dem Pseudonym James Kestrell veröffentlichten Romans des auf Hawaii lebenden und arbeitenden Rechtsanwalts Jonathan Moore auf. Das Buch erschien in der Reihe Hard Case Crime.

Jonathan Moore hat unter anderem als Englischlehrer, als Wildwasser- Rafting Führer auf dem Rio Grande, in Taiwan als Besitzer eines mexikanischen Restaurants sowie als Ermittler für einen Strafverteidiger in Washington gearbeitet.

Als Jonathan Moore hat der Autor schon eine Handvoll Romane veröffentlicht. Sein Debüt „Redheads“ ist für den Bram Stoker Award nominiert worden. „Close Reach“ ist ein Thriller, der auf hoher See spielt. Unter seinem richtigen Namen erschien zuletzt „The Poison Artist“.

Als James Kestrell und mit dem Film Noir/ Kriegsepos „Five Decembers“ kehrt Jonathan Moore nach Hawaii zurück, auch wenn weniger als die Hälfte des fünf Dezember umfassenden Plots in seiner Heimat spielt. Die Auszeichnung mit dem Edgar Award als bester Roman ist vollkommen verdient, denn James Kestrell nutzt die Suche nach einem perversen Mörder gleichzeitig als lebendigen Geschichtsunterricht.

Die Geschichte beginnt wenige Wochen vor dem Überfall der Japaner auf Pearl Harbour. Dieses Ausgangsszenario hat Max Allan Collins mit dem Hobbydetektiv und bekannten Pulpschriftsteller Edgar Rice Burroughs auch benutzt. Im Gegensatz zu Collins sehr stringentem Roman weiß der Leser sehr viel mehr über den Angriff auf Pearl Harbour als der tragische, stoische ehemalige Soldat und jetzige Polizeidetektiv. Das liegt daran, das ihn die Spur nicht nur buchstäblich an das andere Ende der Welt führt, sondern für die im Titel angesprochenen fünf Dezember auch bindet.

Obwohl das Buch nicht nur räumlich, sondern auch zeitlich umfangreich ist, legt James Kestrell bis zur Mitte der Handlung ein unglaubliches Tempo vor. Im wahrscheinlich für den Protagonisten gefährlichsten und brutalsten Augenblick tritt James Kestrell auf die Bremse und beginnt eine erstaunlich Reife und vor allem nicht antijapanische intellektuelle Reise in das Herz eines jeden Krieges, der meistens Unschuldigen die bisherige Existenz, nicht selten auch das Leben kostet. Um eine derartige Wendung glaubwürdig und überzeugen zu schreiben, bedarf es nicht nur den durchaus vorhandenen schriftstellerischen Fähigkeiten, sondern einem spürbaren Grad an Lebenserfahrung – gute und schlechte. Ansonsten würden viele Szenen unglaubwürdig erscheinen.

Detective Joe McGrady könnte auf Hawaii ein schönes Leben haben. Das Wetter ist gut, der Alkohol fließt reichlich. In Reichweite ist ein neues Mädchen. In seinem bisherigen Leben hat der ehemalige Captain - sein militärischer Rang - an verschiedenen Schauplätzen auf der Welt gearbeitet. Unter anderem als Scharfschütze. Kurz bevor sein Pegel nach Feierabend die Arbeitsunfähigkeit erreicht, wird er von seinem Vorgesetzten zum Schauplatz eines Mordes gerufen. 

In einem Schuppen hängt mit dem Kopf nach unten ein junger Mann. Brutal gefoltert und schließlich abgeschlachtet. Am gleichen Abend versucht jemand mittels Benzin alle Spuren zu beseitigen.  McGrady erschießt ihn, wird aber selbst leicht verletzt. McGrady ist aber der festen Überzeugung, dass es sich nur um einen Handlanger und nicht den Drahtzieher handelt. Bei einer weiteren Untersuchung des Tatorts finden sie unter Tuchresten die Leiche einer jungen Japanerin. Ebenfalls gefesselt, gefoltert, vergewaltigt und ermordet. Die Tatwaffe ist ein altes Militärmesser, das es zwar zu Tausenden noch gibt, aber aktiv im Ersten Weltkrieg eingesetzt worden ist. 

Der Junge ist der Neffe eines ranghohen Admirals auf Hawaii. Alle Ermittlungen zum Mädchen führen in eine Sackgasse. Kurze Zeit später kommt eine Meldung von einer der Basen auf den Inseln in Richtung Japan, dass man dort ebenfalls eine zugerichtete männliche Leiche gefunden hat. 

Joe McGrady wird am Vorabend von Pearl Harbour in Richtung Asien aufbrechen, auf der Spur eines Joe Smith mit einem gefälschten Ausweis.  

Auch wenn James Kestrell niemals den Plot aus den Augen lässt, lebt die Geschichte vom minutiös recherchierten und lebendig dargestellten historischen Hintergrund sowie den wirklich überzeugenden dreidimensionalen Protagonisten mit einem geschundenen Joe McGrady im Vordergrund. Dabei spielt es keine Rolle, das der eigentliche Antagonist bis weit in die zweite Hälfte des Buches im Grunde eine Art Chiffre, ein Phantom ist. 

Freud und Leid liegen eng beieinander. Auf Hawaii kommt Joe McGrady Molly näher. Literarisch greift James Kestrell der Handlung vorweg und zeigt auf, dass ihnen kein Happy End zugestanden wird. Die wenigen Szenen mit Molly zeigen, wie eine emanzipierte, selbstbewusste, aber nicht arrogante Frau mit einem vom Leben gezeichneten Mann umgehen muss. 

Joe McGrady ist dieser Mann. In den zwanziger Jahren hat er in China unter anderem als Scharfschütze agiert. Inzwischen ist er einfacher Police Detective, obwohl er mal Captain war und damit seinem unmittelbaren Vorgesetzten gleichrangig. Er ist dickköpfig, stoisch, entschlossen, ehrlich, aufmerksam und leidensfähig. Er hat ein gutes Auge für die Situation und scheut sich auch nicht, lautstark seine Position zu beziehen und zu vertedigen. Er ist von seiner Ausbildung und seiner Erfahrung aber im Gegensatz zu seinem cholerischen zweimal sogar kurzzeitigem Partner  während der polizeilichen Ermittlungen auch der Einzige, welcher der Herausforderung gewachsen ist. Der Leser verfolgt die Reise im Grunde ins Herz der Dunkelheit, einem Gefängnis in Hongkong mit wachsendem Staunen. Insbesondere im mittleren Abschnitt entfernt sich der Roman mehr und mehr von einem klassischen Krimi und wird zu einem Kriegsabenteuer. James Ballard hat über seine Zeit in Singapur im Grunde zwei Bücher geschrieben. Vor allem das verfilmte ”Im Reich der Sonne” beschreibt aus der Distanz der Jahre, aber mit der Emotionalität eines erfahrenen Augenzeugen sowie Autoren den Überfall der Japaner auf Singapur, aber auch deren Schreckensherrschaft. Bei James Kestrell weiß Joe McGrady, was Krieg bedeutet, aber er wird an einem ungünstigen Ort in einer schwierigen Situation auch vom Angriff überrascht. 

Kansei and Sachi Takahashi stellen hinsichtlich der Protagonisten vielleicht die größte Überraschung dar. James Kestrell gibt dem “Feind” ein Gesicht. Die Verbindung zwischen Joe McGrady und Kansei Takahashi wirkt ein wenig konstruiert, aber sie ist notwendig, um den Protagonisten aus einer aussichtslosen Situation zu befreien. 

Kritiker könnten davon sprechen, das der Autor James Clavells “Shogun” einfach umverpackt hat. Ins 21. Jahrhundert versetzt mit einem Amerikaner statt einem Briten; die Auseinandersetzungen zwischen den japanischen Clans gegen das dunkle Szenario des Zweiten Weltkrieges ersetzt. Aber im Mittelpunkt der beiden Bücher steht das Verständnis für den jeweils Anderen und das Erlernen inklusive Respektieren der fremden, japanischen Kultur. Diese These ist richtig und auch falsch. In James Clavells Epos trifft ein Mann auf eine vollkommen fremde Welt. In “Five Decembers” hat vor allem auch japanische Seite in Person des Diplomaten Kansai Takahashi schon ein Grundverständnis für die westliche Welt im Allgemeinen. Er spricht und liest sehr gut Englisch, er musste mit den Nazis in Berlin verhandeln und seine Grundeinstellung entspricht eben nicht dem Zeitgeist. 

Emily Kam ist eine weitere Nebenfigur, die mit viel Fingerspitzengefühl gezeichnet worden ist. Sie bringt Joe McGrady endgültig auf die Spur John Smiths. Sie kommt aus reichem Hause, hat mit ihrem Onkel die Welt bereist und in ihrem Gesicht lässt sich als erstes der Schrecken des Krieges, aber auch das Zerbrechen ihrer Welt ablesen. 

Abschließend ein Mann fast zwischen vier Frauen, den die Escortdame auf Hawaii schätzt auch McGardys harte Schale mit einem sehr verletzlichen Kern. Das könnte wie ein weiteres Klischee erscheinen, aber James Kestrell hat seine Figuren gut im Griff und bevor es zu kitschig wird, lässt der Autor die Szenen ausklingen. 

Neben der Zeichnung der Protagonisten beschreibt James Kestrell den Einmarsch der Japaner in Hongkong mit drastischen Details. Dabei überschreitet er nicht die Grenze zur Gewaltpornographie und stellt die Folgen der einzelnen Handlungen eher in den Mittelpunkt als die ausführliche Beschreibungen der Gräueltaten. Aber der Autor schreckt bis ins Jahr 1945 nicht zurück, die Bestie Mensch zu beschreiben. Beginnend mit der Entführung im idyllischen Hawai und endend bei der finalen Konfrontation, nachdem der Zweite Weltkrieg alle offiziellen Akten geschlossen hat. “Five Decembers” ist kein brutales Buch, da gibt es schlimmere Beschreibungen, aber James Kestrell nutzt Gewalt per se als treibendes Element. Jede Aktion fordert eine  Reaktion und am Ende ist es der stoische Joe McGrady, der im Laufe der fünf Dezember fast alles verloren hat, bis auf seinen Stolz und den Ehrgeiz, in seinem Inneren die Akte zu schließen. 

“Five Decembers” muss aber nicht nur als Charakterstudie oder Geschichtsbuch, sondern auch als Krimi betrachtet werden.   

Viele Fakten fügen erst auf den letzten einhundert Seiten und damit mehrere Jahre später zusammen. Immer wieder ist angesichts des Motivs der Leser dem ermittelnden McGrady einen Schritt voraus. Das liegt aber am geschichtlichen Wissensvorsprung. Viel mehr zeigt James Kestrell im Laufe des Plots auf, dass es nicht selten die geradlinige Art von einzelnen Menschen ist, welche einen entscheidenden Einfluss auf die Historie hat. Oder im vorliegenden Roman nicht. Die Opferung von vielleicht zehntausend Menschen hätte Millionen von Menschen den teilweise grausamen Tod erspart. Oder fatalistisch gesehen auch nicht. Vieles bleibt auf dieser Ebene Spekulation. 

Als Krimi lässt James Kestrell seinen stoischen Ermittler viel klassische Fußarbeit verrichten. Relativ nahe an seinem Gegner dran, verliert er alle heißen Spuren durch eine perfide Falle. Jahre später muss sich Joe McGrady gegen den Wunsch der Polizei auf Hawaii - warum wird fast zu drastisch, zu sadistisch brutal offenbart - alleine auf die Suche machen. Er folgt den vagen Hinweisen, spricht mit den richtigen Menschen, durchsucht wie zu Beginn die Archive und zweimal hilft ihm ein kleiner Zufall, im Rahmen der komplexen Ermittlungen aus Lesersicht nach akzeptabel. Joe McGrady macht kein Hehl daraus, das mindestens zwei Menschen - sie standen sich im Zweiten Weltkrieg als Feinde gegenüber - den Tod des sadistischen Psychopathen wünschen. Und McGrady verschließt sich grundsätzlich diesem Wunsch nicht. Trotzdem nutzt er Gewalt nur, wenn er Ungerechtigkeit sieht oder wenn er angegriffen wird. Das unterscheidet ihn von manch anderem unter dem Schutz der Dienstmarke ermittelnden Beamten. 

Thriller, tragische Liebesgeschichte (n) , Lehrstunde in Geschichte und Eigenverantwortung... grandios und vor allem mit viel Emotionalität geschrieben, dreidimensionale Charaktere und ein sehr zufriedenstellender Plot zeichnet “Five Decembers” aus. Über weite Strecken fühlt man sich bei James Kestrell wie bei einem anderen James gut aufgehoben: James Clavell mit dessen Gefühl für Spannung, Dramatik, der richtigen Balance aus historischen Fakten und fiktiver Geschichte

     

 

U1 zu Fünf Winter

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