DIEUDEDET oder Sowas wie eine Schneeflocke

Willi van Hengel

Im Label „Zwischen den Stühlen“ erscheint mit „ Dieudedet oder Sowas wie eine Schneeflocke“ ein stark autobiographisch eingefärbter Roman des 1963 im rheinländischen Oderbruchs geborenen Willi van Hengel. Es ist nicht die erste autobiographisch gefärbte Arbeit innerhalb dieser kleinen Reihe und wird wahrscheinlich auch nicht die Letzte sein.

Willi van Hengel hat laut eigenen Angaben in seinem Leben bislang schon viel gemacht. Nach dem Zivildienst in einer Behindertenwerkstatt hat er seine Heimat zumindest körperlich hinter sich gelassen und unter anderem in Bonn Philosophie, Politik und Germanistik studiert. 1988 arbeitete er als Korrektur im Deutschen Bundestag. 2006 erschien sein erster Roman „Lucile“, in dem der Protagonist nach der wahren Liebe suchte. Ein Motiv, das den Autoren niemals ganz verlassen hat. Zwei Jahre später veröffentlichte der Autor „Morbus vitalis“, weitere zwei Jahre darauf „Wunderblöcke“. Inzwischen lebt er am Weißensee in der Nähe von  Berlin, wieder im Schatten der Politik.

Beginnend mit dem Titel hat Willi van Hengel versucht, ein zeitloses Thema – die Liebe mit seinen Höhen und Tiefen – nicht nur auf eine originelle Art und Weise zu erzählen, sondern erst einmal die entsprechende Sprache zu „entwickeln“, in welcher aus Sicht des Autoren eine derartige Geschichte erzählt werden sollte.  Diese Vorgehensweise bürgt Chancen und Risiken. Die Chance, den Leser über diese neue Art des Erzählens, im Grunde des Sprechens an das Buch zu fesseln. Das Risiko, dass eine „einfache“ Geschichte unnötig überfrachtet und beschwert wird. Vor allem verlangt diese Kunststruktur auch die entsprechende Disziplin des Autoren, vom Leser ganz zu schweigen. Dieser muss sich erst einmal auf die Intention des Autoren bedingungslos einlassen. Sonst funktioniert die Story nicht und aus dem Plot wird weniger ein künstlerischer als ein gekünstelter Versuch, auf jeden Fall sich literarisch aus der breiten Masse abzuheben.

Dabei ist die Ausgangsbasis sehr interessant. Der Protagonist Alban leidet unter Bindungsängsten. Eine intakte Familie hat er in seinem bisherigen Leben nicht kennengelernt. Inzwischen sind seine Eltern zwar verstorben, aber langen dunklen Schatten ihre Ehe erdrückt sein alltägliches Leben. Der Vater ist aggressiv und benutzt gerne den Ledergürtel, um seine Macht zu demonstrieren. Am liebsten natürlich bei Alban. Die Mutter nutzt ihren Sohn als eine Art Schutzschild gegen die Zudringlichkeiten ihres Ehemanns.   Natürlich ist es ein schmerzhafter Prozess, wenn sich Kinder oder Jugendliche von ihrem Elternhaus lösen müssen. Einem Elternhaus, das weder den klassischen und vor allem kindgerechten Strukturen entspricht, noch der Persönlichkeitsbildung dient.

Um sich von seinem Elternhaus endgültig zu befreien, bedarf es eines besonderen Aktes. Der Autor macht nicht abschließend deutlich, ob es wirklich eine Affekthandlung ist oder sich der Protagonist eher im übertragenen Sinne “befreit”. Er “erschlägt” seinen “väterlichen Freund” Ludwig. Sollte es sich um eine metaphorische Tat handeln, kann der Leser es im Rahmen des Plots akzeptieren. Bei einem tatsächlichen Mord oder Totschlag stellt sich die Situation anders dar. Hier greift der Protagonist auf greifbare Stellvertreter zurück, um sich von der Not seiner Kindheit zu befreien. Ein Mittel, das theoretisch auch in anderen Situationen angewendet werden kann und die innere Gewalt nur in eine andere Richtung kurzfristig kanalisiert, aber nicht beseitigt.  Zwar ist Ludwig auch an der Instrumentalisierung und vielleicht auch am seelischen Missbrauch des Jungen mitschuldig, aber viele, wenn nicht alle “Positionen” werden ausschließlich aus der subjektiven Perspektive des Erzählers berichtet und fließen schließlich ineinander. Ohne Frage hat das Alter Ego des Autoren eine schwere Kindheit gehabt. Ohne Frage haben sich die Eltern als unwürdig erwiesen. Ohne Frage ist auch Ludwig eine schwierige Persönlichkeit.  Aber ohne diese dunklen Passagen gäbe es auch keinen Roman. Daher ist es immer ein schwieriger wie schmaler Grat, das eigene  Leben aus der emotional notwendigen Distanz zusammenzufassen, um nicht nur Mitleid beim Leser zu erhaschen, sondern teilweise auch einen objektiven Standpunkt einzunehmen, um das Geschehene auch einer dritten Person verständlich zu vermitteln. 

  Mit dem ”Tod” Ludwigs erweitert sich räumlich die Perspektive. Alban zieht von einer möblierten Mansarde zwar in die Nächste, aber die Erfahrungen machen ihn reifer. Die Reise führt ihn schließlich zur Sonneninsel Ibiza, ein teures Paradies für Aussteiger im Schatten Mallorcas. 

Zwei Begegnungen zeichnen die zweite Hälfte des Buches aus. Einmal trifft er auf ein kleines Mädchen in Begleitung seiner Mutter am Strand. Sie hat ihren Lieblingsbären dabei, den sie “Dieudedet” genannt hat. Ein Kunstwort, aus kindlichem Mund, das ihre ureigene Traumwelt so treffend umreißt. 

Auch das zweite Treffen hat mit einem weiblichen Wesen zu tun. Er trifft “Judith” und beginnt mit ihr zusammen ein neues Leben. 

Die Geschichte könnte kitschig und unrealistisch sein. Teilweise wirkt sie auch konstruiert, als wenn der Autor das eigene Leben den Strukturen einer Erzählung unterordnet. Die bedingt neue Sprache hebt die Handlung  von der Gegenwart mehr ab und macht sie zeitlos. Der zugrundeliegende Plot kann in fast jeder Epoche spielen. Er handelt von Menschen. Von Tätern und Opfern. Nur ist die Welt der Gegenwart auf den ersten Blick ein wenig größer, weitere Reisen sind möglich. Aber die innere Welt der Protagonisten - das bezieht sich nicht nur auf Alban - ist dagegen klein, verkrampft und voller Obsessionen. Alleine Alban kann sich mit Hilfe der von ihm für den inneren Frieden “entwickelten” Sprache und “Judith” aus dieser drangvollen psychopathischen Enge befreien. Es ist ein langer Prozess, denn dieser Entwicklungsroman beschreibt. Dabei bewegt sich Willi van Hengel immer wieder sehr nahe am Rand des aus anderen Büchern Vertrauten. Aber das Schicksal Albans teilen auch Millionen von Menschen, von denen die Wenigstens sich erstens befreien und zweitens ihre Geschichte erzählen wollen. Das macht den Roman wieder allgemeingültig und wie die anderen Schicksalsgeschichten nicht nur lesenswert, sondern überdenkenswert. 

Sprachlich nicht nur auf die eigenen Wortschöpfungen beschränkt intensiv wie expressiv stellt “Dieudet: oder Sowas wie eine Schneeflocke” auch einen interessanten Gegenentwurf zu Ray Müllers “Odyssee eines Unvernünftigen” - der Auftaktband der Reihe “Zwischen den Stühlen” - dar. Beide Männer werden von  innerer Unruhe angetrieben. Der eine wegen seines Elternhauses, der andere als Abenteuer. Beide finden schließlich Erfüllung und innere Gleichmut in den Armen einer Frau. Nicht unbedingt der ersten Frau, sondern DER Frau. Und beide erzählen in ihrem ureigenen Stil von persönlichen Erlebnissen, so konträr sie auch sein mögen. 

Auf ihre eigene Art sind beide Bücher lesenswert und anders … Aber das ist auch das Markenzeichen des p.machinery Sublabels.        

 

Willi van Hengel
DIEUDEDET
oder
Sowas wie eine Schneeflocke
Zwischen den Stühlen 3
Zwischen den Stühlen @ p.machinery, Winnert, Juni 2022, 216 Seiten
Paperback: ISBN 978 3 95765 293 5 – EUR 13,90 (DE)
E-Book-ISBN 978 3 95765 906 4 – EUR 3,99 (DE)