Clarkesworld 207

Neil Clarke (Hrsg.)

Herausgeber Neil Clarke schaut sorgenvoll in die Zukunft. Ohne das Kindle Unlimited Angebot von Amazon gäbe es das Magazin wahrscheinlich nicht mehr. Allerdings wird es deutlich schlechter bezahlt als entsprechende Angebote auf der Plattform früher. Trotzdem präsentiert Neil Clarke zum letzten Mal im Jahr 2023 insgesamt sieben kürzere Geschichten und den Abschluss der ersten zwei Ausgaben von „Clarkesworld“ überspannenden Novelle „Eight or Die“.

Sekundärliterarisch nimmt Carrie Sessarego den Stab der Zeit auf und schreibt über Weihnachten real und literarisch im All. Neben einigen Anekdoten aus dem Leben der Astronauten, welche Weihnachten im All feiern durften, präsentiert die Autorin pointiert und interessant einige Kurzgeschichten von bekannten SF Autoren, die sich auf unterschiedliche Art und Weise mit dem Thema Weihnachten auseinandergesetzt haben.

Arley Sorg führt zwei sehr unterschiedliche Interviews. Cat Rambo – oft in „Clarkesworld“ mit ihren Kurzgeschichten vertreten – und Jennifer Brozek haben zusammen eine Anthologie herausgegeben. Sie gehen auf die verschiedenen eingereichten Geschichten ein; die freie Ausschreibung und schließlich auch die Nachbearbeitung. Wer gerne selbst Anthologien liest oder es sich als leichten Weg vorstellt, Credits zu verdienen, wird überrascht sein, wie viel Arbeit tatsächlich hinter diesen Büchern steckt.  Mit dem chinesischen Blogger und Fanzine Herausgeber RiverFlow spricht Arley Sorg ausführlicher. Er geht auf die Situation in China vor und während Corona ein; die Möglichkeiten, im Internet auf Science Fiction zu schreiben und auch die Entwicklung des Fandoms in der Volksrepublik. Mit solchen Interviews erweitert Arley Sorg immer wieder – ohne belehrend zu agieren – nicht nur den Horizont „Clarkesworld“, sondern auch das Wissen der Leser.

Thoraiya Dyers „Eight or Die“ ist – wie schon erwähnt – der erste Text, der über zwei „Clarkesworld“ Ausgaben verteilt werden musste. Die Novelle umfasst mehr als 40.000 Worte und ist damit gut 50 Prozent länger als alle bisherigen Texte. Es lohnt sich, die Geschichte erst jetzt zu lesen. Der Übergang zwischen den beiden Passagen ist fließend. Zwar Hat Neil Clarke eine gute Stelle zum Trennen herausgesucht, aber der Spannungsbogen wird trotzdem ein wenig unterbrochen. Morino Mora ist ein Minenarbeiter in Ecuador. Ausführlich werden zu Beginn der Novelle seine Lebensumstände beschrieben. Außerirdische entführen ihn, damit er ihnen bei der Suche nach einem Kriminellen namens Neverage hilft. Die Ausgangsbasis der Geschichte könnte wie ein Klischee wirken, aber die Autorin hat ausreichend Wendungen in den Plot eingebaut, um diese Klippen zu umschiffen. Selbst die schwierige Kommunikation zwischen Minenarbeiter und Außerirdischen wird erstaunlich effektiv überwunden. Auch wenn Mora skeptisch bleibt, hat er ja keine andere Wahl. Wenn er nicht hilft, kommt er nicht wieder nach Hause. Auf der anderen Seite weiß er auch nicht, ob er helfend eine Chance hat, wieder in seiner Heimat zu landen. Diese Ambivalenz zieht sich bis weit in die zweite Hälfte des Textes hinein, als beide Seiten schon durch die Umstände gelernt haben, einander zumindest für die Länge der Mission zu vertrauen.  Der eigentliche Plot ist in verschiedene Abschnitte unterteilt. Immer wieder begegnet Morino Mora anderen Angehörigen fremder Völker und der Mensch weiß an keiner Stelle,  wem er wirklich vertrauen kann und wem nicht. Alle Außerirdischen sind erstaunlich überzeugend gezeichnet und die Handlung läuft in einem hohen Tempo ab. Da sich die Autorin fast ausschließlich auf Morino Moras subjektive Perspektive konzentriert, wirkt der Hintergrund der Geschichte manchmal ein wenig unterentwickelt, aber generell handelt es sich um eine interessante Lektüre, die durchaus eine eigenständige Veröffentlichung verdient hätte. 

Fiona Moores „Morag´s Boy“ eröffnet die Dezemberausgabe. Morag kann alte technische Sachen reparieren. Seamus schließt sich ihr an. Während Morag einen Überblick über die Geschichte und damit die Zusammenhänge hat, verfängt sich Seamus in den nicht unbedingt notwendigen Details. Eine echte Spannung kommt nicht auf, Hintergrundinformationen werden eher spärlich präsentiert und am Ende fehlt der Geschichte eine kräftige Pointe.

Der Titel „Thirteen Ways of Looking at a Cyborg” fasst den Plot schon gut zusammen. Samara Auman beschreibt die Trauer von einer Gruppe intelligenter Krähen, die mittels der Implantate von Merle aufgemotzt worden sind. Merle ist verstorben und die Tiere versuchen mit dem Verlust fertig zu werden. Wie Fiona Moore gelingt es Samara Auman, dreidimensionale Protagonisten zu entwickeln, aber vieles bleibt in den beiden philosophisch angehauchten Stillleben unausgesprochen, so dass keine wirkliche Atmosphäre aufkommt und die Texte im Leser eine spürbare Leere hinterlassen.

Kelsea Yus „In Memories We Drown“ könnte sich den beiden kürzeren Texten anschließen. Der Titel impliziert eher Tiefe als Spannung, aber Rosalie Chin ist als Ozeanographin nur die treibende Kraft hinter einer spannenden Geschichte. Sie entdeckt eine neue Pflanzenart, die beim Essen individuelle Erinnerungen in den Menschen weckt. Die Menschen sind schon seit einiger Zeit in der Station unter Wasser eingeschlossen und diese Pflanzen könnten ihr Überleben sichern. Hinsichtlich des Hintergrunds der Geschichte und der globalen Katastrophe, welche auch Rosalie von ihrem Verlobten trennte,  bleibt die Autorin frustrierend vage, aber die Kombination aus einer ungewöhnlichen Nahrung – es werden meistens traurige Erinnerungen geweckt, die ein Gefühl der Leere in den Figuren hinterlassen – und zwei sehr interessanten, dreidimensionalen Protagonisten an Bord gleichen den schwach entwickelten Hintergrund der Geschichte zufriedenstellend aus.

  „Kill That Groundhog“ (Andy Dudak hat Fu Qiangs Geschichte übersetzt) spielt auch mit der Kombination aus Erinnerungen und Nahrung. In einem kleinen Cafe trifft Pei Dong zwei andere Menschen. Sie haben alle ein Problem. Sie erleben in der „Groundhog Day“ Tradition immer wieder den gleichen Tag. Der Titel ist absichtlich eine  Hommage an die amerikanische Komödie. Die drei Menschen versuchen in der für sie stimmigen Umgebung des Cafes diesen Teufelskreis zu durchbrechen. Dazu müssen sie nicht nur in Erinnerungen graben. Die Auflösung der Geschichte ist clever, die Anspielungen pointiert und gut, aber nicht erdrückend gesetzt und abschließend kann sich der Leser auch mit den einzelnen Protagonisten identifizieren, was zu Beginn der Geschichte nicht einfach ist.

Zu den schwächeren Texten gehört Angela Lius „The Last Gamemaster in the World“. Auch hier ist der Titel im Grunde Programm. Der Protagonist ist  ein Programmierer, der virtuelle weltweite Welten entwickelt und im Grunde nur mit seiner verstorbenen Mutter sprechen möchte. Beide Ideen sind eher rudimentär ausgearbeitet, sodass nicht nur eine, sondern unzählige Fragen übrigbleiben.

Deutlich ironischer ist „The World´s Wife“ von Ng Yi- Sheng. Eine Witwe verlangt, dass der Körper ihres im All verstorbenen Mannes geborgen und zur Erde gebracht wird. Allerdings ist er nicht mehr alleine und die Komplikationen erscheinen auf den ersten Blick bizarr, werden aber von der Autorin in klassischer Robert Sheckley Manier mit einem Augenzwinkern vor einem ernsten Hintergrund geschickt extrapoliert.

Ryan Cole präsentiert mit „Waffles Are Only Goodbye for Now” den besten titel dieser “Clarkesworld” Ausgabe. Es ist eine weitere Desaster Geschichte aus der Sicht einer Gefriereinheit namens B3RT4A, kurz Bertha genannt. Anscheinend braucht sie nicht einmal Strom, denn als ein Einbrecher nach einer unbestimmten Zeit das Haus betritt, funktioniert sie immer noch. Die Freundschaft zwischen Mensch und Maschine geht nur über den Magen, was dieser kleinen humorvollen Anekdote einen gewissen Charme verleiht, ohne dass der Leser gleich an die Genre Klischees denken muss. Die Zeichnung der Figuren ist überzeugend und der Titel – wie erwähnt - sehr passend.

Das weihnachtliche Titelbild ist stimmungsvoll. Generell handelt es sich bei der Dezemberausgabe eher um eine durchschnittliche Nummer. Viele der Geschichten wirken auf der Ideenseite solide, weisen aber eine Reihe von plottechnischen Schwächen auf. Stilistisch und hinsichtlich der handelnden Personen werden die Leser ein wenig entschädigt, aber zusammenfassend ein höchstens solider Abschluss eines Neil Clarkes Worten folgend herausfordernden Jahres für „Clarkesworld“.