Stadt ohne Götter

Fritz Hendrick Melle

Fritz Hendrick Melle lebt inzwischen in Berlin. Aufgewachsen ist er in Chemnitz, absolvierte eine Ausbildung zum Papiermacher und arbeitete anschließend in verschiedenen Berufen. Bis zu seiner Ausreise aus der DDR 1985 engagierte sich Melle im kreativen Untergrund. 1990 veröffentlichte er seinen ersten Roman „Richtiges Leben“, anschließend arbeitete er sowohl als Redakteur von Tageszeitungen wie auch in der eigenen Werbeagentur.  2014 publizierte er den autobiographischen Roman „Die Amazone vom Kollwitzplatz“, 2018 folgte „Wurst“ und später das Hörbuch „Ayahuasca- Tage der Wahrheit“.  Daneben entwickelte er eine Hundefuttermarke, kümmerte sich um Whiskey oder Mode.

Fritz Hendrick Melle hat seinen neuen Roman „Stadt ohne Götter“ mit „Eine deutsche Geistergeschichte“ untertitelt. Wie vieles in dieser stringenten Geschichte lassen sich sowohl der Titel als auch der Untertitel vielsagend interpretieren. Als Erstes zur „Stadt der Götter“. Wie in Wim Wenders Film „Der Himmel über Berlin“ halten sich die Götter statt des Engels zwar aus bestimmten Gründen in der ehemaligen Reichshauptstadt – für einige Rückblenden wichtig – wie auch der gegenwärtigen Bundeshauptstadt auf, aber Berlin ist kein klassischer Göttersitz. Das Gegenteil mit dem im Park dahin vegetierenden Wodan ist der Fall.

„Eine deutsche Geistergeschichte“.  Keiner der Protagonisten wird seine persönlichen Geister los. Wie in Thomas Zieglers herausragendem Roman verfolgen die Geister die jeweiligen Charaktere in Alpträumen wie Erinnerungen. Diese Erscheinungen sind nicht immer übernatürlicher Natur. So sind die Geister der Nationalsozialisten, die in doppelter Form ihre Wiederkehr feiern. Tomas Weissgerber erfährt mehr über seinen Großvater, der ein hoher Militär im Dritten Reich gewesen ist und mit einer Handvoll Getreuer aus Stalingrad auszubrechen suchte.  Er hat seinen Sohn nie kennengelernt. Dieser hat nach seiner Hochzeit den Namen seiner Frau angenommen, ist militanter Pazifist geworden und hat gegen die Deutsche Einheit gewettert. Aber den zehnten Jahrestag hat er sich erschossen, mit einer typischen Dienstwaffe der deutsche Armee.  Tomas Weissgerber wird also mit zwei unterschiedlichen Vergangenheiten konfrontiert, die ihre Ziele lange Zeit dogmatisch verfolgt haben. Der lange Schatten seines Vaters inklusive des Selbstmords hat ihn geprägt, die neuen Informationen über die Vergangenheit seines Urgroßvaters und vor allem hinsichtlich des Speer Gungnir bringen ihn selbst in Lebensgefahr.

Ein weiterer, nicht erfreulicher Schatten ist die Veränderung innerhalb Berlins. Die lauschigen Viertel verschwinden, politische Extremisten beider Seiten mit einer dominanten Haltung der fiktiven AfD Alternative dominieren inzwischen die Straßen. Kämpfe könnten jederzeit ausbrechen. Berlin ist gefährlich geworden und das nicht nur durch eine kleine Gruppe vom germanischen Lügengott Loki manipulierter ewig Gestriger mit ihrer Reichsbürgereinstellung.

Tomas Weissgerber selbst muss mit dem Verlust seiner Tochter klarkommen. Sie ist inzwischen flügge und studiert im Ausland. In dieser Hinsicht folgt sie ihrem Vater, der allerdings der einseitigen Liebe und aus Opposition gegen den ihn erdrückenden eigenen Vater nach Lateinamerika geflohen ist. Weissgerber ist noch verheiratet, seine Frau lebt als DJ auf seinem Dach. In einer eigenen Wohnung. Sie hat in Japan den perfekten Sound gehört, konnte ihn aber nicht duplizieren. Der Erfolg ihres ersten Number One Hits hat auch in ihr Geister heraufbeschworen, die sie nicht mehr loslassen.  Eine Kommunikation mit der Umwelt ist nicht möglich.

Mit dem Geld, das Weissgerber geerbt hat, eröffnete er eine Kaffeebar. Eine weitere Oase der Erinnerungen, vielleicht auch ein Ort, in dem sich Geister sammeln könnten. Er legt Wert darauf, dass sich nichts ändert. Die Kunden soll etwas Vertrautes vorfinden, im Grunde auch etwas Langweiliges.   So ist auch lange Zeit sein eigenes Leben gewesen.  Bis ihn die Vergangenheit in mehrfacher Hinsicht einholt und er fast - wie ein Klischee - zum Spielball einzelner Götter wird.

Nordische Götter in der Gegenwart, unerkannt unter den Menschen und sie manipulierend ist kein neues Thema in der Literatur. Die bekannteste Geschichte ist Neil Gaimans „American Gods“ , die auch verfilmt worden ist. Ansonsten reicht die Spanne nordischer Götter von Jugendbüchern wie Adrian Blackwells neuer Serie bis zu romantischen Familiengeschichten.

Der Autor vermischt die Legenden der Götter mit Weissgebers persönlichen Schicksal. Am Ende was in einem Nebenabsatz erweitert er die bekannten Legenden noch um die Idee einer Reserve-DNA. Das wirkt auf den ersten Blick bizarr. Sie öffnet aber den nicht unsterblichen, sondern nur langlebigen Göttern eine Art Hintertür, wenn der erste Plan schief geht. Aber diese Prämisse wird nicht weiter ausgebaut. Sie hätte vielleicht früher platziert und besser extrapoliert werden können. 

Zu Beginn und am Ende der Geschichte steht Loki, der germanische Lügengott. Vor dem Ende des Dritten Reichs mit den anrückenden Russen flieht er in die Schweiz, nachdem sich Wodan geweigert hat, die neue tyrannische Weltordnung mit dem Speer Gungnir einzuläuten. In der Gegenwart sitzt Wodan als Penner im Berliner Park und wirkt depressiv. Loki ahnt mit dem herauf dämmernden AFD Ableger und den Neonazis; der Verklärung des Dritten Reichs und der Unzufriedenheit der Deutschen eine zweite Chance, um sein eigenes Reich zu etablieren. Er sucht Wodan in dem Park auf, doch wieder weigert sich der alte Krieger, den Speer zu werfen und damit die bestehende “Ordnung” in ein Loki gerechtes Chaos zu verwandeln. Loki schenkt Wodan erst den Met des Vergessens, als seine Verführungen nicht fruchten, greift er zu radikalen Mitteln. 

Der direkte Konflikt zwischen den Göttern wird erst direkt gegen Ende des Buches wieder aufgegriffen. Hier tauchen neue “Namen” auf. Als menschliche Charaktere hat der Leser einige dieser nordischen Götter und Göttinnen schon kennengelernt. Hinzu kommt eine verwirrende Reise durch die Zeit, um die Dimensionen des Konflikts noch einmal zu unterstreichen, aber angesichts des inhaltlichen Überbaus und vor allem die verschiedenen zwischenmenschlichen Konflikte scheint dem Autoren die Luft, aber nicht die Lust auszugehen und das Ende der Geschichte ist fast zuckersüß zu nennen. Dieser “Schwäche” ist sich der Autor anscheinend auch ein wenig bewusst, indem er seine Geschichte mit dem entsprechenden Hinweis enden lässt. 

Der Weg dahin ist ambivalent. Auf der Konfliktebene verführt Loki eine Reihe von Männern, schafft seine eigene Tafelrunde aus Herren der oberen Gesellschaftsschicht inklusive eines ehemaligen Berufssoldaten und einer Frau. Eingeschworen wird die Gemeinschaft mit einem blutigen, bizarren Ritual.  Aber generell versucht sich Loki eher als Manipulator, als Verführer, um einen Blutsverwandten Wodan zum Speerwerfen zu überreden. Potentielle Hindernisse werden von Lokis Schergen innerhalb und außerhalb der kleinen Gemeinschaft Treuer beseitigt. Nur die schwierigen Fälle übernimmt der Chef persönlich, wie Wodan und Weissgerber am eigenen Leib erleben müssen. 

Viel interessanter ist das Thema Vergebung. Es zieht sich durch den ganzen Roman auf den unterschiedlichsten, teilweise übernatürlichen Ebenen. 

So sucht General von Thals Geist - es ist niemals wirklich klar herausgearbeitet, wann sich Körper und Geist beim stalingrader Ausbruchsversuch wirklich gelöst haben- Vergebung von seinen Nachkommen für seine Taten. Dabei kennt er die deutsche Geschichte von 1943 bis zur Gegenwart nicht. Fritz Hendrick Melle beschreibt von Thal als opportunistischen Berufssoldaten, der Ehre auf dem Feld gesucht hat. Aber von Thal ist kein klassischer Nationalsozialist, im Ersten Weltkrieg hat er treu dem Kaiser gedient, im Zweiten Weltkrieg siegestrunken Hitler. Seine jeweiligen Anführer sind ihm egal, er ist berauscht vom Krieg. Daher wirkt der Versuch, sich für die Folgen seines Handelns gegenüber seinem ihm fremden Enkel auch ein wenig konstruiert. Seinen pazifistisch eingestellten Sohn hat er nie kennengelernt. 

Tomas Weissgerber hat Schuldgefühle gegenüber seiner Frau, die niemals Mutter sein wollte. In einem der vielen Einschübe erläutert sie ihre Position und warum sie sich auf Jahre zurückgezogen hat. Auch hier müssen in einer Notsituation alle Familienmitglieder schließlich zusammenrücken. Die Musik wirkt nicht nur befreiend, nachdem sie vorher Weissgerbers Frau emotional erdrückt hat, sondern heilend. Alle Trübsal über Jahrzehnte ist vergeben und vergessen. 

Da zumindest ein kurzfristiger Sieg gegen die Neonazis erreicht wird, können auch einige soziale Wunden in Stadtvierteln voller Veränderungen wie Moabit heilen. Weissgerbers Espressobar wird durch ein Wunder repariert, nachdem die ersten Versprechungen sich als Täuschungen Lokis erwiesen haben.   Mit der in neuem Glanz strahlenden Kaffeebohne ist die Zukunft vielleicht nicht rosiger, aber erträglicher. 

Grundsätzlich ist der Plot auf den ersten Blick vielschichtig angelegt. Da fließt die Vergangenheit bis zu Hagen von Tronje über Stalingrad 1943; die wilden Sechziger und Siebziger Jahre bis in die Gegenwart eines Berlins, das von einer Selbstfindungsphase in die nächste taumelt. Der Leser behält trotzdem einen sehr guten Überblick. Tritt man einen Schritt zurück, dann wirken einzelne Passagen des Buches unter der stilistischen Eloquenz ein wenig zu simpel, zu sehr auf den Punkt konstruiert.  

“Die Stadt ohne Götter” ist stilistisch ein expressives Buch.  Fritz Hendrick Melle malt kräftige Bilder beginnend mit der ersten Begegnung zwischen Loki und Wodan.  Die Dialoge sind pointiert, manchmal schaut der Autor gerne dem Berliner Volk auf Mauls. Die unterschiedlichen Charaktere sind solide bis gut charakterisiert. Fritz Hendrick Melle spielt auch mit den entsprechenden Klischees. Hinter der Kneipenwirtin einer der letzten Rauchergaststätten steckt nicht nur eine korpulente Dame mit einem Herzen aus Gold. Der lange Zeit waidwunde, fast weinerliche Weissberger muss - zum zweiten Mal in seinem Leben nach der alleinigen Übernahme der Verantwortung für seine Tochter - über sich hinauswachsen, in dem er der ultimativen Versuchung widersteht. Aber durch die Anlage der Figur wäre jede andere Entscheidung widersprüchlich, fast absurd.  

Generell handelt es sich trotz der angesprochenen Schwächen um einen interessanten Roman, der im Schatten von Neil Gaimans Ideen der unter den Menschen der Gegenwart wandelnden Göttern eine emotional zufriedenstellende, teilweise vor allem hinsichtlich der Extrapolation in Weissgerbers Familie eine überdurchschnittliche Geschichte. Auch wenn es sich platt anhört, am Ende sind die Melles nordische Götter auch nur menschlich, zumindest vom Glauben der Menschen an sie abhängig wie ein Drogenabhängiger vom nächsten Schuss.   

 

Fritz Hendrick Melle
STADT OHNE GÖTTER
Eine deutsche Geistergeschichte
Zwischen den Stühlen 5
Zwischen den Stühlen @ p.machinery, Winnert, November 2022, 276 Seiten
Paperback: ISBN 978 3 95765 307 9 – EUR 18,90 (DE)
E-Book-ISBN 978 3 95765 798 5 – EUR 5,99 (DE)