Das Stoffuniversum

Ralph Alexander Neumüller

„Das Stoffuniversum“ ist der erste Roman des 1980 in Linz geborenen Österreichers Ralph Alexander Neumüller. Nach einem Studium der Humanbiologie an der Universität Wien hat er unter anderem an der Havard University geforscht. Neben dem Schreiben von Science Fiction und Krimis ist er Gitarrist im Postrock- Kollektiv Thalija.

Die Ausgangsbasis wird vielen älteren Lesern aus der Fernsehserie „Sliders“ bekannt vor kommen. Im Gegensatz zu der Gruppe von Menschen aus „Sliders“ beschreibt Ralph Alexander Neumüller zu Beginn nur das Schicksal des Erzählers Frank.  In beiden Formaten geht es um Parallelwelten, in welche die Protagonisten unkontrolliert stolpern. Dabei wechseln die Fernsehfiguren mit ihrer Kleidung und allem, was sie direkt am Körper haben, von einer Parallelerde zur Nächsten. Sie können ihre Reise nicht kontrollieren. Im Falle von Frank liegt der Fall noch ein wenig diffiziler.

Er legt sich in der einen Welt schlafen und wacht in der Nächsten wieder auf. Als Persönlichkeit bleibt er gleich, anscheinend wacht er auch im jeweiligen Körper seines anderen Ichs wieder auf. Meistens befindet er sich in Wien. Dabei reicht das Spektrum durchaus von der bekannten Wiener Hauptstadt über eine verstrahlte Oase – ein Kernkraftwerk in der Nähe hat seinen Geist aufgegeben – oder latent in der Zukunft mit innovativen Verkehrskonzepten. Einmal hat ein Erdbeben die ganze Region verwüstet und Wien dem Erdboden gleichgemacht.  Aktuelle Themen wie der Russland- Ukraine Krieg und damit die Flüchtlingswelle; eine zu einem globalen Krieg werdende Auseinandersetzung zwischen der Türkei und Griechenland mit Frank als Flüchtling, angegriffen von Soldaten und aus der Luft stellen in dieser Hinsicht die dunkelsten Exkursionen dar. Nicht alle Welten werden ausführlich vorgestellt. Nicht selten fasst Frank seine Erinnerungen nur zusammen. Positiv dagegen wäre ein Paradies, basierend auf den Thesen des “Club of Romes”, die seit den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts konsequent umgesetzt werden. Neben der großen Politik sind es manchmal die kleinen satirischen Seitenhiebe, welche die einzelnen Welten auszeichnen. In einer stammt alles Künstlerische - egal ob Lyrik, Prosa oder Musik - von einer künstlichen Intelligenz und hört sich für die Springer gleich an. Es ist bezeichnend, dass Frank und die später eingeführte Sarah den einzelnen Welten Noten geben und dass der emotional wichtigste Teil der Geschichte auf einer Vierer Welt endet (es ist eine Durchschnittsnote).  Durch die Sprunghaftigkeit des Plots hat Ralph Alexander Müller nicht den Raum, die einzelnen Welten ausführlich zu entwickeln. Warum das so ist, verrät der abschließende Epilog. Positiv ist dabei, dass der Leser auf den knapp über zweihundert Seiten sehr viel kennenlernt, negativ erscheint, dass vieles wie ein grell gemalter Hintergrund erscheint, vor dem sich die überzeugenden kleinen zwischenmenschlichen Geschichten abspielen.  

Zu Beginn des Buches erwachte der Erzähler Frank Kunarth auf seiner Hochzeitsreise nach Griechenland, nachdem er in der letzten Welt die Liebe seines Lebens – Clara –verlassen musste. Die Aufenthalte in den verschiedenen Welten sind unterschiedlich und reichen von einer Nacht bis zu mehreren Monaten. Frank weiß niemals, wie lange er in dieser Welt bleibt. Aktives Schlafen Legen hilft nicht immer und Alkohol betäubt auch nur die momentanen Schmerzen. Frank nimmt auch alle Erinnerungen mit. Dieses Leben scheint Frank ab einem bestimmten, sehr frühen Lebensabschnitt zu führen. Ralph Alexander Neumüller bleibt in diesem Punkt sehr vage. So müsste Franks Schulbildung deutlich „verkümmerter“ sein, da er nicht eine Klasse, sondern Äonen von Klassen in verschiedenen Welten besucht hat. Geschickt beschreibt der Autor allerdings, welches Überlebenskonzept sich der Protagonist für die jeweils neue Welt zurechtgelegt hat. Offene Fragen, viel Zuhören und ggfs. Krankschreiben, wenn man als Mathematiklehrer erwacht.

Ab der ersten Welt verfolgt der Leser das Geschehen auf Augenhöhe beginnend mit der Hochzeitsreise. Viele relevante Informationen werden vor allem vom verzweifelten Frank übermittelt, den der Autor berechtigt, aber ein wenig zu emotional als den einsamsten Menschen auf allen Welten präsentiert,  der ja jeden Besitz zurücklassen muss und gleichzeitig in der nächsten Welt verstärkt oder vermindert wieder erhalten könnte. Beziehungen sind nur so lange relevant, wie er sich in dem jeweiligen Körper aufhält, wobei es für die „Originale“ ein Leben davor und danach zu geben scheint. Wenn Frank wieder in die nächste Welt versetzt wird, scheint sein bisheriger Wirt nicht zu sterben. Nur ein Schwindelgefühl bleibt. Im Laufe des Buches wird die These entwickelt, dass die Handlungen der Springer mit ihrem Wissen aus vielen Welten auch den sozialen Status des jeweiligen Wirts positiv beeinflussen können. In der Theorie wäre die positive Veränderung in der einen Welt ausschlaggebend für die “Ichs” in allen anderen Welten. Die Praxis zeigt das Gegenteil. Mehr und mehr können einzelne Springer aus verschiedenen Gründen aus Erinnerungen ihrer jeweiligen Gastwirte übernehmen und sich so besser für die Zeit des Besuchs in ihrem beruflichen und sozialen Umfeld bewegen. Im Laufe der Handlung entwickelt Ralph Alexander Neumüller auch eine tragische Erklärung für dieses Phänomen. 

   Im ersten Drittel des Buches ist das Szenario etabliert, der Leser hat verschiedenen Facetten Franks kennengelernt. Eine Psychiaterin gibt ihm den Rat, nach einem Physiker zu suchen. In Wien lebt ein Spezialist auf diesem Gebiet, der durch einen Zufall eine Frau vor wenigen Tagen kennengelernt hat, die ihm die gleiche Geschichte erzählt hat. Deswegen glaubt er Frank, auch wenn Hilfe angesichts der fehlenden Zeit schwierig sein könnte. Denn Schlaf ist in Franks Leben ein buchstäblicher Feind.   

Der mittlere Abschnitt könnte mit “Aktion” überschrieben werden. Der  Physiker Seitlinger ist dabei ein klassischer Opportunist mit einer dunklen Vergangenheit, der in den Springern Wege sieht, seine eigene Position über die Welten hinweg zu verbessern. Zuerst etablieren Frank und die von ihm kennengelernte Sarah eine Reihe von Mustern, die anderen Springern helfen sollen. Da sie ihr Wissen mitnehmen, ist es möglich, einen festen Treffpunkt in Wien zu einer festen Zeit zu etablieren. Welcher Springer “da ist”, soll dort hinkommen. Daraus wird eine Art Stammtisch, an dem sich die einzelnen Betroffenen austauschen, Wissen hinterlassen und auf unterschiedliche Art und Weise mit Seitlinger zusammenarbeiten. Wie Frank eine Überlebensstrategie zwischen den  Weltensprüngen etabliert hat, sind die jeweiligen Seitlinger inzwischen in ihren Welten in der Lage, die ihnen präsentierten Fakten mittels bestimmter Codes und Schlagwörter umgehend anzunehmen und jeweils im eigenen Namen umzusetzen. Dabei finden eine Reihe von Springern wie Fab diese ständigen Wechsel und damit eine ewige Partie, die unzählige Erden umfasst, relativ cool. 

Frank und Sarah beginnen sich ineinander zu verlieben. Das ist nicht immer leicht, weil sie in einigen Welten auch Familie und Kinder haben. Sie wissen nicht, wie lange sie gemeinsam in der Welt bleiben und Schlafentzug mittels Drogen und Medikamenten ist nur bedingt möglich. Es kommt noch eine andere tragische Komponente hinzu. Diese funktioniert so überzeugend, weil Ralph Alexander Neumüller wirklich dreidimensionale Charaktere erschaffen hat, die sich im Laufe der Geschichte auch entwickeln.  So wird aus dem anfänglich depressiven Frank ein verliebter Suchender in mehrfacher Hinsicht, der seinen Traum - ein Leben mit Sarah - zum Greifen nahe hat, auch wenn die Beiden schließlich lange Zeit an der Qual der Wahl zwischen den Welten scheitern könnten. Und nicht in jeder Welt gibt es einen Frank und seine Sarah, die Springererfahrung haben, was es manchmal nicht einfach macht. 

Aber auch hier finden sich Wege und Möglichkeiten. Diese Fähigkeit zur Improvisation, aber auch zur Innovation hinsichtlich des Wissenstransfer und der Kommunikation, um die wenige Zeit effektiv zu nutzen, werden von Ralf Alexander Neumüller erstaunlich intelligent, emotional überzeugend und einfallsreich literarisch scheinbar aus dem Stehgreif heraus entwickelt, ohne dass das hohe Tempo der Geschichte leidet. Da sich der Leser ausschließlich auf Augenhöhe Franks bewegt, der seine Geschichte beschreibt, wirkt vieles subjektiv, macht aber auch den fast manipulativen Reiz der Story aus.   

Das Buch endet auf einer süß sauren Note.  Ralph Alxeander Neumüller hätte leicht in kitschige Klischees verfallen können, aber er erzählt diesen Handlungsabschnitt konsequent zu Ende. Der Leser kann einzelne Entscheidungen sogar gut nachvollziehen. Hinzu kommen eine Reihe von exzentrischen Nebenfiguren wie zum Beispiel der Partysüchtige Fab oder Karl, der in einer harten Welt sein persönliches Glück, seinen Status Quo gefunden hat. Auch der Opportunist Seitlinger - in mehrere Welten wird er Chef der Europäischen Union und verkörpert die Opportunisten, welche gerne nach Brüssel gehen, weil sie sonst nichts Eigenständiges in ihrem Leben fertig bringen -   wird vielschichtig und nicht durchgehend als Schurke des Buches gezeichnet. Unauffällige Charaktere wie die stille Springerin Jane haben gegen Ende der Geschichte einen Augenblick, in dem sie ihre dreidimensionale Präsenz nachhaltig zeigen können. 

Am Ende des Buches bleiben einige Fragen offen. Aber Ralph Alexander Neumüllers durchdachtes Ende mit vielen offenen Toren schließt diese Geschichte sehr interpretationsfähig, aber auch sehr zufriedenstellend ab. Es gibt keinen Versuch, das Phänomen der Springer weiter zu untersuchen. Auch wird keine “Deus Ex Machina” Heilung präsentiert. Viele Hoffnungen  zerschlagen sich, aber Frank ist am Ende der Geschichte zu einem weniger depressiven, aber deswegen auch nicht fröhlichen Menschen geworden. Am Ende von “Die unglaubliche Geschichte des Mr. C” steht in der deutschen  Synchronisation: “   Für Gott gibt es kein Nichts. Ich existiere immer noch!“. Und irgendwie passt dieser Schluss auch zu dieser Geschichte. Die Springer existieren irgendwo, aber nicht irgendwann weiter. Frank verliert immer wieder alles und nimmt doch etwas unglaublich Wertvolles immer wieder mit: seine Erinnerungen an gemeinsame Zeiten. 

Das klingt pessimistisch und irgendwie optimistisch zugleich. Das ist aber die wahre Stärke eines wirklich in vielen Punkten überzeugenden Debüts, in dem der Autor selbst den Titel seines Buches in einer schönen Passage von Sarah nicht nur Frank, sondern auch dem Leser erklären lässt. Und  diese Liebe nicht nur zu den Figuren, sondern den Details der Geschichte zeichnet diesen erstaunlich kompakten, aber auch vielschichtigen Roman zusätzlich aus. 

 

DAS STOFFUNIVERSUM

  • Herausgeber ‏ : ‎ p.machinery (15. Oktober 2023)
  • Sprache ‏ : ‎ Deutsch
  • Taschenbuch ‏ : ‎ 220 Seiten
  • ISBN-10 ‏ : ‎ 3957653568
  • ISBN-13 ‏ : ‎ 978-3957653567