Der sechste Band der Reihe „Wiederentdeckte Schätze der deutschprachigen Science Fiction“ ist im positiven Sinne eine Mogelpackung. Im Gegensatz zur landläufigen Geflogenheit, den Inhalt aufzublähen, beinhaltet dieses kleine Bändchen nicht nur den 1912 veröffentlichten Kurzroman „Das Menschenschlachthaus“, sondern auch dessen Fortsetzung „Im Irrenhaus“, die 1914 druckfertig vorgelegen hatte, aber aufgrund des ausbrechenden Ersten Weltkriegs wie der erste Teil nicht mehr (nach-) gedruckt oder ausgeliefert werden konnte. Erst fünf Jahre später erschien das Büchlein mit einem informativen Vorwort von Carl von Ossietzkys. Weiterhin finden sich neben einer ausführlichen Vorstellung des Autoren Vorworte und vor allem internationale Rezensionen zu „Das Menschenschlachthaus“ im ausführlichen Anhang.
„Das Menschenschlachthaus“ ist im Gegensatz zu vielen, in verschiedenen Ländern Europas publizierten und von Franz Rottensteiner in „Zukunftskriege in der Science Fiction“ vorgestellten utopischen Kriegsromanen eine dunkle Vision des kommenden Unheils. Es ist nicht unbedingt ein Roman, bestehend aus „Bilder vom kommenden Krieg“, sondern eine interessante und verstörend reale Extrapolation der militärischen Technik, die Wilhelm Lamszus in Augenschein nehmen konnte. Nicht alles hat der in Altona geborene und auch in Hamburg verstorbene Reformpädagoge und Antikriegsschriftsteller vorsehen können. Panzer fehlen in seiner intensiven Beschreibung der kommenden Grabenkriege mit ihren verzweifelten Angriffen auf die Maschinengewehr Nester des Verderben aus seiner Deckung streuenden Feindes; nächtlichen Bombenangriffen und schließlich dem aufkommenden Wahnsinn in den Schützengräben.
Wilhelm Lamszus ist kein gänzlich Außenstehender. Ein Jahr leistete Wilhelm Lamszus seinen Militärdienst ab. Hier entstand auch die Keimzelle seines Romans „Menschenschlachthaus“. 1903/ 1904 diente er im Hamburger Infanterie-Regiment „Hamburg“ als Freiwilliger für ein Jahr und nahm später als Reservist im Lockstedter Lager an einer Übung teil. Hier lernte er zum ersten Mal die Benutzung von Maschinengewehren kennen und ihm schwante vor allem hinsichtlich der Menschen Böses, welche diese Maschinengewehre bedienen sollten. Ganz bewusst mittig auf die Leiber der anstürmenden Soldaten zielend einen tausendfachen Tod verbreitend.
Vorher und nachher unterrichtete er an verschiedenen Hamburger Schulen, wobei er mit seiner reformpädagogischen Streitschrift „Unser Schulaufsatz, ein verkappter Schundliterat“ – geschrieben mit Adolf Jensen – für Aufsehen sorgte. Carl und Gert Hauptmann sowie Heinrich und Thomas Mann begrüßten die Ansätze, während Lamszus strafversetzt wurde. Das war im Jahr 1910. Nach der angesprochenen Teilnahme an der Lokstedter Übung verfasste Wilhelm Lamszus innerhalb von wenigen Tagen 1912 „Das Menschenschlachthaus“, Der Roman erschien nicht nur in Deutschland und war kurze Zeit sehr populär, das Buch wurde auch in acht Sprachen übersetzt. Die erste Übersetzung erfolgte ein Jahr später ins Englische.
Für Lamszus hatte das Buch Konsequenzen. Er wurde als Beobachter der deutsch- französischen Fremdenlegion nach Nordafrika versetzt. Die Recherche seiner Arbeit publizierte der Hamburger 1914 in dem Buch „Der verlorene Sohn“.
„Das Irrenhaus“ erschien nach dem Ersten Weltkrieg, obwohl es zeitgleich mit “Der verlorene Sohn” verfasst worden ist. Handlungstechnisch schließt der Plot unmittelbar an “Das Menschenschlachthaus” an und ist in vielen politischen Punkten nicht weniger prophetisch. Zwar sind die beiden Bücher von der Realität und dem Grauen des Vernichtungskriegs eingeholt worden, aber im Gegensatz zu den schnell schweigenden Massen setzt sich der Autor mit Einzelschicksalen als Metaphern für eine gesellschaftliche Verrohung und vor allem dem Hang zur Sinnlosigkeit auseinander. “Das Irrenhaus” ist genauso eine isolierte Welt für sich, mit den Verwundeten und Sterben als Insassen wie Thomas Manns späterer Klassiker “Der Zauberberg” , in dem die Patienten von oben dem europäischen Treiben zusehen.
Bis 1933 konnte Wilhelm Lamszus an verschiedenen Schulen unterrichten. Die Nationalsozialisten entfernten ihn als einen der ersten Lehrer aus dem Schuldienst. Er lebte von einer kleinen Pension und Journalistenaufträgen, unter Pseudonym veröffentlicht. Nach dem Zweiten Weltkrieg trat Lamszus wieder in den Schuldienst ein und arbeitete unter anderem an der Entwicklung von Kinderhörspielsendungen für den Norddeutschen Rundfunk. 1965 starb Wilhelm Lamszus in Hamburg.
Sowohl „Das Menschenschlachthaus“ als auch „Das Irrenhaus“ werden aus der intimen Ich- Erzählperspektive eines durchschnittlichen, ein wenig sozialistisch angehauchten und namenlosen Protagonisten beschrieben. Auch wenn es keine offizielle Kriegserklärung zu geben scheint und dadurch das Feindesland nicht explizit nennt, wird an mehreren Stellen deutlich gemacht, dass es wieder gegen Frankreich geht. Der Erzähler erinnert sich an eine Reise nach Frankreich, als sich eine Mutter weinend von ihrem Sohn verabschiedet. Der Krieg zwischen Frankreich und dem Deutschen Reich 1870/ 1871 ist den jetzt eingezogenen und schließlich vorrückenden Soldaten nicht mehr präsent. Den Politikern auch nicht mehr, denn der Ich- Erzähler erfährt nichts über den Hintergrund dieser Auseinandersetzung. Von der Kanzel und während des ersten Appells werden Floskeln präsentiert, aber auffällig ist, dass auch verheiratete Männer mit Kindern eingezogen werden. Der Krieg scheint schon viele Kinder gefressen zu haben, ohne dass es in der Öffentlichkeit breit getreten worden ist.
In einem expressionistischen Stil konzentriert sich der Autor auf das Wesentliche. Der Vater von zwei Kindern wird eingezogen, der Abschied ist rührend. Die Ausbildung erfolgt innerhalb weniger Tage, wobei den staunenden Soldaten eine neue Art von Granaten vorgeführt wird, die in der Luft explodiert und splittert. Die Präzision ist schockierend, wie die Soldaten an den Schießscheiben sehen. Mit dem Maschinengewehr sind die jungen Rekruten vertraut. Der Ich- Erzähler ahnt, dass die Vernichtung des Feindes und nicht mehr der klassische triumphale, unter persönlichen Opfern erzielte Sieg im Mittelpunkt dieses Kriegs steht. Innerhalb weniger Tage geht es an die schon bestehende Front. Ihnen begegnen die nicht weggeräumten Leichen der eigenen Armee.
Der Feind ist im Grunde gesichtslos. Absichtlich beschreibt Wilhelm Lamszus nicht den Kampf Mann gegen Mann, die – zynisch gesprochen – edle Auseinandersetzung, sondern angeführt von einem eher überforderten jungen Hauptmann, welcher mit seinem schönen Antlitz eher der Literatur als dem Feld entstiegen ist, sollen sie den Feind, versteckt in einem Wald und mit Maschinengewehren ausgestattet, angreifen. Der Angriff wird zu einem Desaster. Das Feld ist überfüllt mit Toten und Sterbenden. Neben dem Ich- Erzähler ist ein burschikoser Holsteiner aus Kiel der einzige Charakter, dem der Autor ein Gesicht, eine Persönlichkeit verleiht. Emotionslos erlöst er einen der sterbenden Soldaten. Er klagt, dass seine Frau und die Kinder jetzt kein Geld mehr haben, wo er an der Front dienen muss. Nur tot ist er aufgrund der Witwenrente etwas für die Familie wert. Er ist auch der erste Soldat, der in dieser kleinen Einheit phychisch zusammenbricht und seinen direkten Vorgesetzten mit einem Schuss ins Gesicht förmlich hinrichtet.
Am Ende dieser Novelle hat sich der Krieg an diesem Frontabschnitt selbst aufgefressen - Alle Soldaten sind tot und der Ich- Erzähler wählt den aus seiner Sicht einzigen konsequenten Weg, aus diesem Chaos zu entkommen. Für die damalige Zeit ist das „vorläufige“ Ende noch schockierender als die zynische, aber realistisch extrapolierte, fast pädagogisch dozierende Auseinandersetzung mit der Art des Krieges.
Die „eigenen“ Soldaten wissen nicht, ob sie wirklich auf den Feind im Wald schießen. Während des Angriffs hatte der Ich- Erzähler das Gefühl, als befände er sich in der tiefsten Vergangenheit und schlage die Schlacht im Teutenburger Wald. Er versucht, zwischen den einzelnen Baumarten zu unterscheiden. Nachts kommt es zusätzlich zu Angriffen aus Zeppelinen, Bomben werden abgeworfen. Geschlafen wird in den Gräben. Die Soldaten finden keine Ruhe, wobei der Gefechtslärm besser zu ertragen ist als die lauten Gebete eines Soldaten, der den Verstand verloren hat.
Die Konzentration des Plots auf einen grausamen Moment des Kriegs als allgegenwärtige Parabel auf den Wahnsinn und vor allem die Sinnlosigkeit der Auseinandersetzung – am Ende werden beide Seiten in ihren Stellungen verharren, hunderte von Menschen sind tot und es gibt keinen einzigen Meter Geländegewinn – erschlägt den Leser förmlich. Der Ich- Erzähler ist zwar ein Patriot, der die Notwendigkeit des Kriegs zu Beginn zu akzeptieren scheint und mit den anderen Soldaten zur Front marschiert, bewundert von den älteren Menschen, betrauert von den Frauen und Kindern, die fast mittellos zurückgelassen werden mussten. Aber kaum in der Kaserne und gleichgeschaltet beginnt er das ganze Szenario zu hinterfragen und versucht, nicht feige, aber auch nicht übermäßig tapfer einfach nur zu überleben.
Im direkten Vergleich zu Erich Maria Remarques erst 1928 veröffentlichten und mehrfach verfilmten Roman „Im Westen nichts Neues“ ist es erstaunlich, wie genau Wilhelm Lamszus basierend auf der schon vorhandenen Technik die kriegerischen Auseinandersetzungen während des Ersten Weltkriegs voraussagen konnte. Es handelt sich um eine mahnende, aber nicht gehörte Auseinandersetzung mit der Kriegstechnik, welche sich seit dem letzten großen Krieg 1870/ 1871 erschreckend wie verführerisch weiterentwickelt hat und den Menschen zu einem Bestandteil einer Masse macht, nur so lange ersetzbar ist, wie es Rekrutierte gibt. Zu Beginn der Geschichte rechnet der Ich- Erzähler den Lesern vor, wie viele Kugeln sechs Millionen Soldaten auf beiden Seiten verschießen können. Zahlen, die 1912 genauso erschrecken wie die gegenwärtige militärische Auseinandersetzung in der Ukraine. Zahlen, welche die vier Jahre des Ersten Weltkriegs – vom Zweiten Weltkrieg ganz zu schweigen – deutlich übertreffen sollten. Solange diese Zahlenspielerei graue Theorie ist, scheint der Krieg auch für den Ich- Erzähler eine dunkle Vision zu sein, eine Art Alptraum, aus dem er am liebsten schnell aufwachen möchte. Mit dem Erreichen der Front wird aus diesem Alptraum eine bittere Wirklichkeit.
1914 geschrieben, aber erst 1919 veröffentlicht, setzt „Das Irrenhaus“ die Geschichte des Ich- Erzählers nahtlos fort. Er wacht in einem Frontlazarett auf und lernt das Grauen hinter der Front kennen. Die selbstlose Arbeit der überforderten Ärzte, Schwestern und Helfer. Die Forderungen der Offiziere, möglichst schnell wieder Soldaten zur Verfügung zu haben. Die Traumata und vor allem die wieder schier endlosen Zahlen der teilweise schwerstverwundeten Soldaten, die vom Fließband der Front in die Lazarette transportiert werden und möglichst schnell entweder zum Grab oder zurück an die Front sollen. Wilhelm Krull hat einige Fäden aus Carl von Ossietzkys Vorwort für seine einleitenden Worte zu „Das Menschenschlachthaus“ im positiven Sinne übernommen und extrapoliert. Carl von Ossietzky hat sie aber vor dem Ersten Weltkrieg niedergeschrieben.
Sprachlich intensiv und pointiert geht der bekannte Schriftsteller, Pazifist auf die Bedeutung von „Das Menschenschlachthaus“ als mahnende Warnung vor dem nächsten kommenden Krieg ein, bevor er auf die Besonderheiten von „Das Irrenhaus“ eingeht, in dem die technischen Kriege der Gegenwart – wie auch der nahen Zukunft – Vergangenheit sind und sich der Autor mit den Folgen für die Menschen, die Soldaten auseinandersetzt. Carl von Ossietzky stellt die ewige Frage, ob es sinnvoll ist, das Grauen noch einmal nachzuarbeiten oder alles zu vergessen?. In die noch dunklere Zukunft schauend gibt er die richtigen Antworten und ordnet „Das Irrenhaus“ noch mehr als „Das Menschenschlachthaus“ als mahnendes Beispiel der Kriegsfolgen eines vollkommen sinnlosen Krieges ein.
„Das Menschenschlachthaus“ spielt im Gegensatz zu „Das Irrenhaus“ noch an mehr als zwei Orten. Zu Beginn werden die Soldaten eingezogen, im Eiltempo ausgebildet und über die Kirche mit dem entsprechenden Segen an die Front geschickt. In „Das Irrenhaus“ spielt sich der Plot bis auf die finalen, zynischen Seite im Inneren eines Lazaretts, vermutlich in Frontnähe ab. Allerdings beginnt “Das Menschenschlachthaus” und endet in “Das Irrenhaus” am gleichen Ort. Dieser ist nicht wiederzuerkennen, wobei nicht der gesichtslose Feind dafür verantwortlich ist, sondern die eigenen Mächtigen.
Der Tod ist der große Gleichmacher. So schreibt Wilhelm Lamszus über den fiktiven patriotischen Dichter Theodor Körner, der glorreiche Hymnen auf den Krieg und das Vaterland beim Kriegsausbruch geschrieben hat. Jetzt liegt er im Sterben. Vermutlich Opfer eines Giftgas Angriffs geworden. Auch dieser Punkt ist noch dunkel prophetisch in dieser düsteren Geschichte, in ferner Zukunft. Keine drei Jahre nach der Niederschrift des Manuskripts sollten die Deutschen die Ersten sein, die Giftgas gegen feindliche Soldaten in ihren Schützengräben anwenden. In einer seiner späteren Arbeiten, die Lamszus in seinem Hamburger Haus zum Schutz der eigenen Familie eingemauert hat und die erst im 21. Jahrhundert gefunden worden sind, sollte sich der Hamburger intensiv und genauso schockierend mit diesem Thema auseinandersetzen. Nichts ist geblieben von dem Papierheroismus der Kriege vor dem 20. Jahrhundert . Wie viele andere Menschen wird Kröger in diesem Irrenhaus wie in Zeitlupe sterben.
Wie in “Das Menschenschlachthaus” noch eine Vision, geht der Krieg scheinbar aus dem Nichts zu Ende. Die echten Soldaten stehen sich nicht mehr mit Gewehren gegenüber, sondern rauchen Pfeife und plaudern wie zwei befreundete Nachbarn. Die Ursache liegt in der Tatsache begründet, dass der Krieg nicht nur seine Kinder gefressen hat, sondern der Hunger, das Elend an der Heimatfront zu einem Aufstand der Frauen und der Soldaten gegen die eigenen Herrscher geführt hat. Auch diese Vision ist prophetisch. Genau wie deren Zerschlagung, die schließlich in dem dunklen emotionalen Loch für den Ich- Erzähler endet, das wenige Jahrzehnte später Wolfgang Borchert so treffend in „Draußen vor der Tür“ ebenfalls niedergeschrieben hat. Wie sinnlos die ganze Auseinandersetzung ist, zeigen die letzten Seiten von „Das Irrenhaus“, denn das Vaterland ist inzwischen Allmachtsphantasien der ebenfalls namenlosen und nicht titulierten Obrigkeit gewichen. Sobald die Herrschenden ihren Stand von Außen – und sei es nur fiktiv – oder von Innen durch das Proletariat bedroht sehen, schlagen sie rücksichtslos um sich und drehen die dem Menschenschlachthaus entkommenen Soldaten endgültig durch den Fleischwolf.
„Das Irrenhaus“ ist vielleicht noch mehr eine intensivere und nachdenklich stimmende Lektüre als „Das Menschenschlachthaus“, in dem sich Wilhelm Lamszus mit der Entmenschlichung des Krieges auseinandergesetzt hat. Den technischen Fortschritt wollte und konnte der Hamburger nicht aufhalten. Wie sich in den zwei nachfolgenden Verteidigungsessays gegen zahlreiche Kritiker zeigt, ist Lamszus auch nicht generell zu dieser Zeit ein Pazifist gewesen. Auch wenn er die globale Verbrüderung aller Klassen – dabei spielt es keine Rolle, ob es sich um Arbeiter oder die beamteten Lehrer als Diener des Staats handelt – angestrebt hat, sieht er den bewaffneten Konflikt auch teilweise als eine Notwendigkeit an, sich gegen tatsächliche Feinde zu verteidigen. In seiner Verteidigungsschrift erwähnt er ausdrücklich Wilhelm von Oranien und den niederländischen Befreiungskrieg gegen die Spanier, die sich als totalitäre Besatzer eine dem späteren Dritten Reich vergleichbare Besatzungspolitik auferlegt haben, um jeden Widerstand im Keim zu ersticken. Der Kampf um die Freiheit ist gerecht, auch wenn Lamszus inzwischen weiß, dass er nicht mehr mit Degen und Lanze Mann gegen Mann ausgefochten wird. Der Autor wehrt sich in beiden Büchern gegen das entmenschlichte, technisierte Sterben aus niederen Gründen wie politisches Sendungsbewusstsein und vor allem auch reine Machtgier. Beide Aspekte diskutiert Lamszus in den beiden intelligent wie provozierend geschriebenen Verteidigungstexten, in denen er gegen die Opportunisten und vor allem Untertanen – Heinrich Manns Roman lässt grüßen – vorgeht, die immer Hurra schreien. Nicht umsonst hat er angesichts der Kürze des zweiten Teils das lange Sterben des Theodor Körners so ausführlich beschrieben.
Wilhelm Lamszus fasst in seinem Essay den Inhalt dieser beiden Bücher perfekt zusammen. Er hat nicht die Angst des Soldaten vor dem Tod in den Mittelpunkt der Geschichte gestellt. Ein Soldat, dessen ureigene Aufgabe die Verteidigung des eigenen Vater- oder Mutterlands ist. Er hat das leere, das sinnlose Massensterben an den Pranger gestellt. Er schreibt über Soldaten, die nicht mehr wissen, gegen wen und für wen sie kämpfen. Den mechanisierten Tod, der im Grunde dem Sterben der Tiere in den Schlachthäusern der Vergangenheit und leider auch der Gegenwart immer noch entspricht. Diese Auseinandersetzung mit der Macht, der Verführung der Massen unter einem ideologischen Gleichschalter und schließlich die Erkenntnis, dass es in dieser Form keine Zukunft geben kann und geben wird, machen aus den beiden nihilistischen Geschichten elementare Antikriegsromane, wobei einschränkend noch einmal erwähnt werden muss, dass sich vor allem „Das Menschenschlachthaus“ nicht per se auf jeden militärische Auseinandersetzung übertragen lässt. Das Sterben der Ukrainer bei der Verteidigung ihres Landes würde der Lehrer gänzlich anders beurteilen, als die Fleischwölfe, in denen Russland mit diesem sinnlosen und vor allem auch menschenfeindlichen Angriffskrieg wahrscheinlich mehr als eine Generation Jugend geworfen hat.
Der Anhang besteht aus den zwei langen Artikeln, die Wilhelm Lamszus aus Rechtfertigung gegen die aufbrausende Kritik an seinem populären Werk verfasst und veröffentlicht hat. Ganz bewusst differenziert der Autor zwischen einer Art Gleichschaltung der Massenpresse hinsichtlich der aufkommenden Kriegshysterie; der gnadenlosen, aber nicht zu verhindernden Technisierung, nicht nur an der Front und den Motiven des Menschen, einen Krieg zu führen. Es ist ein schmaler Grat, auf dem sich der Autor bewegt, aber für einen Pädagogen perfekt führt er einen schriftstellerischen Verteidigungskrieg, in welchem er seine nicht selten anonymen Kritiker ins Leere laufen lässt, um dann ihre Schwachstellen, ihre Flanken mit bitterböser, aber auch sehr sachlicher Kritik anzugreifen. Der Autor arbeitet für die Öffentlichkeit auch noch mal alle wichtigen Punkte seines Buches heraus und stellt klar, dass er generell kein Antikriegsautor ist, sondern ein Mensch, der die Entmenschlichung der Soldaten mit Sorge sieht. Keine zwei Jahre später sollte sich diese Sorge auf eine schreckliche Art und Weise bewahrheiten, wobei die von Lamszuzs angesprochene Mathematik als Beweis der Sinnlosigkeit eines jeden großen Krieges sich auch zu Beginn in „Das Menschenschlachthaus“ widerspiegelt.
Neben diesen beiden Essays finden sich die Vorwörter der verschiedenen europäischen Ausgaben in diesem kleinen Bändchen. Einige Veröffentlichungen stammen aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg und insbesondere die einleitenden Worte der russischen und englischen Ausgabe sind beachtenswert, während das Buch in Dänemark im Verlauf des Ersten Weltkriegs erschienen ist. Zu einem Zeitpunkt, als sich die dunklen Visionen auf den Schlachtfeldern vor allem in Frankreich schon auf eine grausige Art und Weise bewahrheitet hatten.
Einige Rezensionen der Erstveröffentlichung sind abgedruckt, wobei insbesondere der Aufruf eines Lehrers an seine Berufskollegen, Krieg als geschichtliches Element aus humanistischer und nicht mehr zahlentechnisch und patriotisch verklärender Art und Weise zu lehren. „Das Menschenschlachthaus“ soll hier als Fanal dienen, wie moderne intelligente Menschen unterrichtet und vor allem auch aufgeklärt werden sollten.
Dem Vorwort von Wilhelm Krull schließt sich ein ausführliches Nachwort von Andreas Pehnke an. Pehnke versucht „Das Menschenschlachthaus“ in Lamszus Gesamtwerk (literarisch wie auch pädagogisch) einzuordnen und stellt einige weitere wichtige Bücher und Gedichtbände aus dessen Feder vor. Dabei spart er auch nicht mit oberflächlicher Kritik und versucht den anfänglichen Widerspruch zwischen einigen vaterländischen Arbeiten und dann den pazifistischen- antimilitärischen Texten herauszuarbeiten. Ohne in die Details zu gehen, lässt sich das Nachwort auch sehr gut als Vorwort lesen, da es dem Betrachter einen guten Überblick über den Menschen Wilhelm Lamszus und seine Intention gibt, diese beiden Romane geschrieben zu haben. Wilhelm Krull stellt zwar die Wichtigkeit des Buches dar, auf der Augenhöhe der Publikation geschrieben fehlt ihm aber noch die erschreckende Erkenntnis, wie real „Das Menschenschlachthaus“ und „Das Irrenhaus“ zweimal in den nächsten dreißig Jahren werden sollte. Pehnke dagegen kann wie Lamszus in seinen Essays herausarbeiten, dass eine neue Generation Mensch geistig aufgeklärter nicht mehr so leicht zu manipulieren sein sollte. Die Gleichmacher im Dritten Reich beweisen vor allem Lamszus für eine „tausendjährige“ Zeit das genaue Gegenteil. Auch die Gegenwart zeigt drastisch auf, wie leicht Menschen noch zu manipulieren sind. Egal wie gebildet sie zu sein scheinen.
Die Neuauflage dieser beiden elementaren Bücher vor allem mit den beiden Essays, den Rezensionen und Vorwörtern der übersetzten europäischen Ausgaben und den langen Anmerkungen am Schluss stellen eine wichtige Veröffentlichung nicht nur im Rahmen der wiederentdeckten Schätze der deutschsprachigen Science Fiction dar, wobei der Begriff der Science Fiction in diesem Fall trotz des Hinweises auf „Bilder vom kommenden Krieg“ – dieser hat sich zu Lamszus Zeiten abgezeichnet, der eigentliche Ausbruch des Ersten Weltkriegs hat den Pädagogen dann doch überrascht – mit Vorsicht zu genießen ist. Zu schmal ist der Unterschied zwischen den Kämpfen um Port Arthur 1904 und der im Ersten Weltkrieg eingesetzten, während des Verfassen des ersten Teils aber vom Militär schon während gezielter Übungen genutzten Waffentechnik. „Das Menschenschlachthaus“ und „Das Irrenhaus“ sind weniger Science Fiction, als sich bewahrheitende Albträume, die Wilhelm Lamszus sinnlos mahnend zur richtigen Zeit niedergeschrieben hat. Und Albträume bleiben nicht selten länger präsent, als es sich ein Mensch wünscht.

- Herausgeber : Hirnkost; 1. Edition (4. März 2024)
- Sprache : Deutsch
- Gebundene Ausgabe : 240 Seiten
- ISBN-10 : 3988570362
- ISBN-13 : 978-3988570369
