Clarkesworld 216

Neil Clarke (Hrsg)

In seinem Vorwort spricht Neil Clarke nicht nur über den gerade gewonnenen HUGO, sondern vor allem die Tatsache, dass sich Clarkesworld von der Amazon Abhängigkeit freigeschwommen und auf der gegenwärtigen Abonnentenbasis weiter existieren kann.

 Gunnar de Winter schreibt über den genetischen Code und in Kombination mit einigen Exkursen in den Bereich der Science Fiction auch über potentielle genetische Manipulationen und „Verbesserungen“. Wie in den letzten Essays fließen Fakten aus der aktuellen Wissenschaft gut mit Leseempfehlungen des Genres zusammen.

 Arley Sorg interviewt zwei interessante Frauen. Aliette de Bodard gehört sicherlich zu den interessantesten und ausgezeichneten Science Fiction Autoren der letzten Jahre. Umfangreich gewährt sie Einblick nicht nur in ihre Vorgehensweise, die Elemente ihrer vietnamesischen Vorfahren mit Science Fiction Ideen kombiniert, sondern auch die Puzzlestücke, welche mehr und mehr ihre beiden Universen füllen. A.C. Wise hat bislang wenige Kurzgeschichten und Romane verfasst, aber ihr exotischer Hintergrund und vor allem auch ihre ebenfalls kulturelle Bezogenheit – hier finden sich afrikanische Wurzeln – machen sie zu einer eigenständigen Stimme im Genre. Beide Autorinnen sprechen ausführlich über ihre Vergangenheit, aber vor allem auch ihre Zukunft.

 Acht Geschichten – der längste Texte gehört zu den Übersetzungen aus dem Spannischen und stammt aus Brasilien – bilden den Kern dieser Ausgabe. Marissa Lingen macht es sich mit „The Music Must Always Play“ nicht leicht. Über den USA stürzt ein Raumschiff ab, die Außerirdischen sterben kurze Zeit später, weil sie die Atmosphäre nicht vertragen. Auch wichtige Wissenschaftler der USA sind auf dem Boden durch den Absturz ums Leben gekommen. Die Linguisten soll das Wrack und vor allem die Töne studieren, welche die Reste der Elektronik kontinuierlich ausstoßen. Auf der zweiten Handlungsebene muss sich die junge Frau mit der Tatsache auseinandersetzen, dass ihr Vater unheilbar an Krebs erkrankt ist und sterben wird. Die beiden Handlungsebenen passen nur bedingt zusammen, sollen die emotionale Klemme der Protagonisten beschreiben. Durch den Absturz kommt es zu verschiedenen Aufständen in den USA, bei denen hunderte von Menschen umkommen. Ein echter Zusammenhang entschließt sich dem Leser bis zum unbefriedigenden, zu offenen und schematischen Ende nicht wirklich.

 Laura Williams McCaffreys „Broken“ erzählt seine Geschichte wie Nolans Film „Following“ quasi rückwärts. Die Protagonistin erhält zu Beginn einen virtuellen Realität Helm, mit dessen Hilfe sie auf einer fremden Welt im Rahmen der Simulation Kämpfe ausfechten kann. Am Ende der Geschichte steht sie mit leeren Händen dar. Sie muss sich mit dem Gewinn – des Helms – und dessen Verlust genauso auseinandersetzen mit dem Kontrast zwischen der kriegerischen Illusion und der herausfordernden Wirklichkeit, ohne das ein einzelner Aspekt wirklich im Leser Eindruck hinterlässt. Zwar versucht die Autorin immer wieder Bezüge zu einem möglicherweise realen Krieg herzustellen, aber sie bleiben vage und unentschlossen.

 Aus dem Spanischen bzw. brasilianischen Portugiesisch stammt Thamirys Genovas längere Geschichte. Es handelt sich um eine Parallelweltgeschichte. Der Point of Divergence sind die zwanziger Jahre des letzten Jahrhunderts, als die Menschheit sich schon wie in dem Golden Age der Pulps mittels Raumschiffen im Sonnensystem bewegen konnte. Die Venus ist von Außerirdischen besiedelt. Der grundlegende Plot ist allerdings aktuell. Es geht um Flüchtlinge von der Venus, deren Kinder auf der Erde geboren worden sind und welche den blauen Planeten wieder mittels Zwangsausweisung verlassen sollen. Die Perspektive wechselt zwischen den beiden betroffenen Gruppen. Eine Frau von der Venus und eine Erdenfrau, welche sich von den Fremden wie magisch angezogen fühlt, bestimmen die Handlung. Neben der Allegorie auf die Gegenwart finden sich aber interessante Beschreibungen der Retrokultur in Kombination mit dem technischen Fortschritt, sowie exotische Charaktere, wobei der Ende der Geschichte eher pragmatisch und wenig überraschend, nicht gänzlich zufrieden stellend ist.  

 Zwei Schwestern stehen im Mittelpunkt von Renan Bernardos „A Theory of Missing Affections“. Sie sind bei verschiedenen Familien, insbesondere bei zwei unterschiedlichen Vätern aufgewachsen. Eine Schwester reist mit ihm auf der Suche nach Artefakte einer längst ausgestorbenen außerirdischen Rasse durchs All, die zweite Schwester ist mit ihrem Vater im Sinne des Wortes auf der Erde – allerdings nicht der Heimat der Menschheit – geblieben und in ländlichen Verhältnissen aufgewachsen. Sie sehen die Außerirdischen als Götter an, die Untersuchung der Artefakte ist Frevel. Da sich die Raumtore zu schließen beginnen, müssen die Schwestern eine Entscheidung hinsichtlich ihrer gemeinsamen Zukunft treffen.

 Die Artefakte stehen im Gegensatz zur emotional persönlichen Beziehung im Mittelpunkt der Geschichte. Ihre Bedeutung und ihre Herkunft bleiben vage, aber sie könnten die Emotionen von Wesen in ihrer Umgebung beeinträchtigen, zumal einige der Gegenstände wie Folterwerkzeuge aussehen. Der Kontrast zwischen den wahrscheinlich Bewusstseins manipulierenden oder Körper verunstalteten Instrumenten und der emotionalen Bindung der beiden Schwestern über die familiäre Trennung heraus wird zwar herausgearbeitet, das offene Ende und die teilweise ein wenig klischeehaft schematische Charakterisierung der handelnden Personen beginnen den Leser auch in eine bestimmte Richtung zu manipulieren.

 Eine ökologische Katastrophe hat in „Fish Fear Me, You Need Me“ von Tiffany Xue die Ostküste der USA nachhaltig in ein stehendes Gewässer verwandelt. Dieses Mal stehen zwei nicht verwandte Männer im Mittelpunkt der Geschichte, die vom Fischfang leben. Unerklärt ist, was sie wirklich aus dem neuen Meer fischen. Beginnend mit einer apokalyptischen Science Fiction Situation wandelt sich der Plot ab der Mitte in eine märchenhafte Fantasy , wobei der Leser diese Prämisse akzeptieren muss. Während Renan Bernardo ein wenig Probleme hat, die Beziehung zwischen den beiden Schwestern neutral zu beschreiben, gelingt es Tiffany Xue, die Hassfreundschaft zwischen den beiden Männern gut zu beschreiben, während der Plot mit seiner unerwarteten, aber nicht nachhaltig herausgearbeiteten Wendung eher wie eine Wunschphantasie erscheint und viel an Potential verliert.

 Eric Schwitzgebel stellt in den Mittelpunkt seiner Geschichte „How to Remember Perfectly“ eine kleine technische Erfindung, mit deren Hilfe eine ältere Frau ihre Emotionen und damit auch ihr körperliches Wohlbefinden steuern kann. Das Gerät hilft ihr auch, falsche Erinnerungen zu erzeugen und in das eigene Bewusstsein einzupflanzen. Als die Frau die Technik einem Freund zur Verfügung stellt, kommt es zu einer für sie unerwarteten Wendung. Eric Schwitzgebel nutzt die Idee positiv. Die Maschine dient nicht der Manipulation von Menschen, der Unterdrückung, sondern soll den Menschen helfen, das Leben leichter zu nehmen. Sie können erkennen, dass manche Erinnerungen künstlich sind und trotzdem fühlen sie sich in diesem Zustand mit ihnen wohl. Die Charaktere sind dreidimensional, gut abgerundet und vor allem auch gut zugänglich, so dass klassische Philip K. Dick Ideen in einem positiven Umfeld interessant und in eine gänzlich andere Richtung extrapoliert werden.      

 Ben Berman Ghans komplexe, vielleicht auch zu komplizierte Geschichte „Those Who Remember the World“ spielt in einer von einer künstlichen Intelligenz kontrollierten Stadt, die mittels biogenetisch aufgemotzter Tiere die Menschen kontrolliert. Anscheinend hat die Stadt auch Menschen geklont. Normal gibt es keine Verbrechen mehr, aber im Mittelpunkt steht der Mord an einem jungen Mann, der in einem Zusammenhang mit einer kryptischen Botschaft steht. Diese Botschaft lässt sich auf eine besondere Art und Weise transferieren.

 Die Handlung versteckt sich hinter zahlreichen Anspielungen, Stimmungen oder erzählerischen Exkursen, bei denen die Beschreibung der Welt wichtiger als der eigentliche rote Faden des Plots ist. Die Charaktere wirken eher pragmatisch entwickelt, was spannungstechnisch auch nicht unbedingt hilft und das Ende ist offen. Viel zu umständlich für eine Kurzgeschichte, aber vielleicht nicht eine Novelle oder gar einen Roman angelegt bleibt der Leser eher verwirrt zurück als das er unterhalten worden ist.

 R.H. Wesley konzentriert sich in „A World of Milk and Promises“ auf den einzigen Überlebenden eines Raumschiffabsturzes, den Erzähler der Geschichte. Zusätzlich ist sie auch noch schwanger und versucht auf einem Planeten zu überleben, dessen Bewohner eine einzige und damit auch einzigartige Biosphäre bilden. Die menschlichen Konzepte von zwei Geschlechtern oder gar einer bevorstehenden Kindesgeburt passen nicht in den geistigen Horizont der fremden Entität. R.H. Wesley versucht sich diesem biologischen Widerspruch zu nähern, allerdings entwickelt er den Hintergrund zu wenig überzeugend und auch die Mutter hat noch einige Geheimnisse. Weird wird die Geschichte, wenn der Leser erfährt, wo die beiden Frauen leben bzw. überleben. Das Konzept wirkt plötzlich zu abstrakt, zu wenig durchdacht und das offene Ende überzeugt auch nicht.

 Die September Ausgabe von „Clarkesworld“ ist wieder eine deutlich bunter gemischte Ausgabe mit einigen sehr interessanten Geschichten, aber auch Texten, welche nicht nur einen Lektor benötigt haben, sondern deren innere Struktur nicht wirklich überzeugend sind. Allerdings wird der Wonnemonat September – zumindest was die guten Nachrichten angeht – perfekt eingeleitet von einem stimmungsvollen Titelbild.