„Triangulum“ ist nach „Das blaue Ende der Zeit“ Victor Bodens zweiter Roman. Genauso umfangreich wie sein exzentrisches, bizarres, humorvolles und spannende Debüt, in dem der vor allem auch durch seine Kurzgeschichten in Magazinen wie „Exodus“, „Nova“ oder den unter Pseudonym veröffentlichten Comic Storys in Magazinen wie Schwermetal unterstrichen hat, daß er auch Romane schreiben kann. „Das blaue Ende der Zeit“ lag lange Zeit in der Schublade. Über seine Kurzgeschichtenveröffentlichungen kam der Kontakt zu Michael Haitel zustande, der beide Romane angekauft hat. Allerdings lagen zwischen der Veröffentlichung von „Das blaue Ende der Zeit“ und dem deutlich später entstandenen „Triangulum“ zwei Jahre.
Der vorliegende Roman verfügt über zwei Handlungsebenen, die abschließend zusammenlaufen. Zwei Charaktere – der Cyborg Jören Neelström und das „Kind“ Narae – dienen dem Leser als Identifikationsfiguren. Dadurch ist die Handlung deutlich stringenter als in dem absichtlich positiv gesprochen chaotisch strukturierten „Das blaue Ende der Zeit“, fordert die Leser aber auch mehr heraus. Victor Boden spielt gerne mit Versatzstücken des Genres und beginnt diese auch in einem expressiven Stil zu verformen, zu verfremden. Mit dieser Erwartungshaltung sollte der Leser nicht an „Triangulum“ herangehen, sonst wird er enttäuscht. In diesem Fall ist der Umfang auch ein Ausdruck einer sich langsam, mit einigen Rückblenden verstärkt entwickelnden Geschichte, in welcher Victor Boden allerdings auch mit dem Problem konfrontiert wird, dass einer der beiden Handlungsbögen nicht mehr mit wichtigen Elementen des Genres spielt, sondern aus diesen ein wenig distanziert, stoisch und vor allem gemütlich zusammengesetzt worden ist.
Jören Neelström war einer der besten Hacker auf der Erde. Irgendwann wurde er erwischt, als er ein junges Mädchen retten wollte. Sein Körper fast völlig zerstört fand das Konglomerat, dass sein Geist irgendwie in einem Cyborg Körper gerettet werden müsste. Er wird Mitglied – auf die Umstände kommt Victor Boden in einem weiteren Rückblick zurück – der Crew des Forschungsschiffs PROKORINOS, das eine möglicherweise außerirdische Anomalie untersuchen soll. Die Besatzung ist im Tiefschlaf. Zu Beginn des Romans wird Jören von der Schiffsintelligenz geweckt. Der Kapitän ist im Cryo Schlaf verstorben, die beiden anderen geweckten Besatzungsmitglieder stehen den kommenden Ereignissen hilflos gegenüber. Jören ist auch eher der Mann für alle Fälle an Bord der Mission, außerhalb der Befehlskette und daher selbst überrascht, dass er geweckt worden ist.
Der PROKORINOS nähert sich ein anderes Raumschiff. Einige Jahre später gestartet, aber mit einem schnelleren Antrieb ausgestattet. Ausgesandt nach einer weiteren seltsamen Begegnung mit einem exotischen außerirdischen „Phänomen“ – für ein klassisches Raumschiff gibt es keine Beweise – soll es die PROKORINIS auf ein neues Ziel umleiten.
An Bord des zweiten Schiffs befindet sich ein Mann, den Jörgen mit einem in der Theorie funktionierenden, in der Praxis eher klischeehaften Trick ausgeschaltet hat. Dadurch konnte er seinen Platz an Bord einnehmen. Nicht die besten Voraussetzungen für eine Kooperation, welche die Konglomerate gar nicht anstreben. Victor Boden konzentriert sich auf eine Reihe von Animositäten. Auch wenn Jören im Vergleich der sympathischere Charakter mit einer Art Cyber Robin Hood Vergangenheit ist, ist die Reaktion seines ehemaligen Konkurrenten noch nicht unverständlich.
Das größte Problem dieses Buches ist die fehlende überzeugende Charakterisierung der einzelnen Figuren. „Das blaue Ende der Zeit“ lebte von einem charismatischen Ich- Erzähler, der notfalls wie Baron Münchhausen einfach zu erzählen begann. Die Handlung wirkte schon unglaubwürdig und deswegen auch so unterhaltsam. Dazu kam der klassische „Aufschneider“ im positiven Sinne, der eher verzweifelt das sich um ihn herum verstärkende Chaos in den Griff zu bekommen suchte. Natürlich vollkommen vergeblich. Das gab Victor Bodens Debütroman die besondere Note.
Auf der Jören Handlungsebene ist davon lange nichts zu sehen. Und die Bedrohlichkeiten und schließlich die finale neue Chance – einige Besatzungsmitglieder haben die Cryo nicht überlebt; das Auftauchen eines feindlichen Raumschiffs von der Erde; das Aussetzen von möglichen Sprengkörpern auf der Außenhaut des eigenen Schiffs; die zwischenmenschlichen Konflikte mit den Besatzern, die Paranoia und schließlich die neue Mission mit einem unbestimmten, aber auch neugierig machenden Ziel – setzen sich aus zu bekannten Parametern zusammen, als das der Leser wirklich überrascht ist. In einem deutlich kompakteren Roman wären diese Schwächen nicht aufgefallen, aber Victor Boden braucht zu lange, um sein literarisches Buchraumschiff auf einen neuen Kurs zu bringen. Die Geduld wird während des langen Finals belohnt, aber der Leser muss sich stellenweise auf der Jören Handlungsebene durch die Seiten beißen. Weniger und stringenter wäre in diesem Fall deutlich besser gewesen.
Der zweite Spannungsbogen um „Narae“ ist deutlich interessanter. Narae scheint ein Kind zu sein, dass zusammen mit anderen Kindern in einer isolierten Umgebung lebt. Es gibt Gottvater und Gottmutter, deren Absichten aus der kindlichen, aber nicht kindischen Perspektive Naraes nicht immer klar zu erkennen sind. Im Interview mit „Literatopia.de“ gibt Victor Boden zu viele Aspekte dieses Handlungsbogens Preis. Wären Jörgen in einem isolierten Raum mit „Feinden“ zurecht kommen muss, beginnt Narae mit den anderen Kindern ihre Umgebung zu entdecken. Die subjektive Perspektive lässt längere Zeit viele Fragen offen, so dass Victor Boden eine bessere Spannungskurve entwickeln kann. Allerdings wirkt das Ende dieser Handlungsebene abschließend erstaunlich pragmatisch. Die Grundidee ist nicht neu, es sind eher die Details, welche das Interesse der Leser bei der imaginären Stange halten. Ab einem bestimmten Zeitpunkt kann Victor Boden allerdings nicht mehr verhindern, dass der Leser das zwischenmenschliche Finale ahnt. Hier bietet der Autor im Großen, aber nicht in den Details zu wenige wirklich überraschende Elemente an.
Victor Boden ist in einigen Kurzgeschichten schon einmal in dieses Universum eingetaucht. Alle diese Geschichten handeln von Expeditionen, welche die Menschheit in die Tiefen des Alls ausgeschickt haben. Die Raumschiffe können nur mit einem Drittel der Lichtgeschwindigkeit reisen, so dass diese Expeditionen zu neuen, möglicherweise bewohnbaren Planeten eher Jahrhunderte als Jahrzehnte dauern, während auf der Erde sich ein von Konglomeraten getriebenes totalitäres System ausbildet, deren Interessen eher in Kurzzeitplanungen als Generationenplänen liegen. Auf diese Idee kommt Victor Boden in „Triangulum“ zurück.
Die beiden Handlungsbögen werden teilweise in Rückblenden noch von zwei weiteren, gut extrapolierten Ideen begleitet. Die außerirdische Intelligenz, die sich im Sonnensystem mit einem an Geistphänomene erinnernden Raumschiff gezeigt hat, lenkt die Leser von der klassischen Entwicklung der Handlung ab. Bei jeder neuen, exotischen Begegnung hofft der Leser, dass sie zu den Fremden führt, die bis auf ihr die Menschheit technisch überforderndem Auftreten „gesichtslos“ bleiben. Auch hier baut der Autor eine Erwartungshaltung auf, die er nur bedingt einlöst. Aber diese Querverweise heben die stellenweise statische Handlung auf ein höheres, auch deutlich originelleres Niveau.
Die Anomalie besteht aus unbekannten, transdimensionalen Effekten. Neben den Herausforderungen der Reise mit einem Ziel – alleine die Neuausrichtung der Raumschiffe ist harte Arbeit – ein klassisches Spannungsmoment, mit dem Victor Boden auch sehr gut umgeht.
Victor Boden arbeitet sich förmlich in den Stoff hinein. Wie schon erwähnt, bedeutet das Geduld für den Leser. Viele Szenen wirken gut geschrieben, es ist die Vielzahl der Situationen, welche die Lektüre teilweise ermüdend machen. Auf den Punkt gebracht ist „Triangulum“ lange Zeit eine seltsame Mischung aus einem gewichtigen Roman mit zu viel Ballast, der aber bei einer Sezierung der einzelnen Szenen notwendig ist. Vielleicht fehlt der Geschichte einfach den nicht immer subtile Humor, den „Das blaue Ende der Zeit“ so auszeichnete. Victor Boden spielt eben nicht mit den einzelnen Elementen, er baut sie ruhig, stoisch und ein wenig verkrampft zusammen.
Das letzte Drittel der Geschichte entschädigt durch die First Contact Begegnung – es gibt ja einige erste Begegnungen in dieser Story, die allen mit dem unmittelbaren oder mittelbaren Erkunden der Umgebung zu tun haben – mit den Fremden und die verschiedenen Phänomene, mit denen Jören auf seiner Handlungsebene und Narae mit Freunden in ihrem isolierten Raum konfrontiert werden. Victor Boden weckt die Neugierde auf die nächste Sequenz, die nächste literarische Anomalie, auch wenn er sich als Autor deutlich disziplinierter und damit auch bodenständiger verhält. In seinen Kurzgeschichten kann Victor Boden auch anders. Wem „Das blaue Ende der Zeit“ durch seine an Autoren wie Douglas Adams oder Gero Reimann erinnernde Exzentrik gefallen hat, der wird von “Triangulum” enttäuscht. Viel zu leicht wird ein Autor in Schubladen gepackt. Einmal Genreclown, immer Genreclown würde Victor Boden auch nicht gerecht werden. Trotz seines Umfangs ist „Triangulum“ auf beiden Handlungsebenen ein detailliert herausgearbeiteter, stringenter Roman mit vielen interessanten Szenen. Es ist eher klassische Science Fiction, garniert mit einigen guten Ideen, aber auch vielem Bekannten.
Victor Boden
TRIANGULUM
AndroSF 175
p.machinery, Winnert, August 2024, 600 Seiten, Paperback
ISBN 978 3 95765 411 3 – EUR 26,90 (DE)
E-Book: ISBN 978 3 95765 718 3 – EUR 8,99 (DE)