Apeirophobia

Christian J. Meier

„Apeirophobia“ ist nicht nur der Titel von Christian J. Meier drittem Roman, mit dem er zum Hirnkost Verlag gewechselt ist, sondern gleichzeitig die Angst vor der Unendlichkeit. Es ist die Angst der Menschen, unendlich leben zu müssen. Nicht in jedem Menschen erweckt die hier beschriebene subjektive Art der Ewigkeit Freude. Das liegt auch an der dominierenden katholischen Kirche, welche Himmel und Hölle in ihrem Ebenbild hat real werden lassen.  Rom mit dem Pabst – er ist gleichzeitig der Erfinder – verfügt über eine Technik, mit welcher Menschen bzw. die Körper Verstorbener immer wieder erweckt werden. Das Fegefeuer (inklusive der römischen Spiele) erhält in dieser kirchlich dogmatischen Welt eine gänzlich andere, perverse Bedeutung.

 Die Kirche dominiert die Menschen, wobei Christian J. Meier anfänglich nicht deutlich macht, ob Rom inzwischen den ganzen Erdkreis beherrscht. Das spielt für die erste Hälfte der Geschichte auch nur eine untergeordnete Rolle. Mit der allerdings einzigartigen begabten jungen Micha Berg verfügt die Geschichte über eine Protagonistin, welche dem Leser diese Welt vor Augen führt, bis sie kurzzeitig in den Untergrund – eine Gruppe von Widerständler versuchen das Geheimnis der Technik zu erfahren – geht, gefangen genommen wird und schließlich unter Aufsucht ihren Traum leben kann. Es ist eine wahre Achterbahnfahrt, welche nicht nur die Protagonistin, sondern auch der Leser durchlebt.

 Die Welt ist ein Patriarchat. Männer dominieren es. Frauen werden in Sozialzentren zur frommen und devoten Ehefrau ausgebildet. Männer entscheiden, ob diese Frauen geheiratet werden. Grundlage ist ein perfekter Algorithmus. Ihr Bruder versorgt die hochbegabte Micha Berg mit verschiedenen Büchern vor allem zu physikalischen Themen. Ein Studium an der Päpstlichen Universität der Naturwissenschaften ist ihr aufgrund ihres Geschlechts verboten. Auch ihre strenge Mutter wäre gegen jede Auflösung der kirchlichen Ordnung bei den Frauen: Kinder, Küche und Kirche stehen für die Lebensaufgaben der Frauen.

 Micha Bergs Welt bricht in doppelter Hinsicht auseinander. Sie lernt ihren potentiellen Ehemann kennen. Einen Karriereopportunisten, der von seiner Frau zu Hause den Rücken freigehalten haben möchte, während sie soziale Arbeiten in seiner Abwesenheit erledigt. Micha Bergs neue Welt wäre noch ein strengeres Gefängnis als ihre jetzige Welt.

 Fast zeitgleich erhält sie vom Buchhändler, bei dem ihr Bruder indirekt ihr die Bücher besorgt, einen Zettel mit einer Anschrift zugesteckt. Er führt sie in den Untergrund, weg von der Familie zu der angesprochenen Gruppe von Widerständlern, welche das Geheimnis der technischen Reinkarnation brechen und damit die Macht der Kirche als heuchlerisch entlarven wollen.

 Christian J. Meier verliert wenig Zeit, um neben der begabten, vielleicht zu begabten Micha Berg auch diese erschreckende Welt einzuführen. Lebemänner holen die Leichen ab, um sie möglichst schnell zu reinkarnieren. Es kommt darauf an, was die Toten zu Lebzeiten gemacht haben. Sünder werden immer wieder gefoltert, getötet und wieder belebt. Dabei erinnern sie sich an jeden einzelnen Höllenkreislauf. Andere Wiedererweckte werden zu Zombies, zu Arbeitssklaven, welche den technischen Fortschritt heimlich außerhalb der Sichtweise der auf einem primitiven Niveau gehaltenen Bevölkerung vorantreiben. Nicht nur die Arenen Roms mit den „Gladiatorenkämpfe“, sondern auch die Versklavung des inzwischen unnütz gewordenen Volks stellt der Autor aus der Perspektive der angewiderten, teilweise auch überraschten Micha Berg vor, die keine Wahl hat. Spätestens mit dem Eheversprechen ihres zukünftigen Mannes gegenüber ihrer Familie ist ihre Situation so verzweifelt, so unhaltbar geworden, dass sie lieber einmalig – auch eine Möglichkeit, welche die Untergrundbewegung anbietet – sterben will als noch einen Tag in diesem Gefängnis zu leben.

 Kaum hat der Leser dieses Ausgangsszenario inklusiv der ausführlichen Beschreibungen und einigen Exkursen in die Bereiche der Transformationstechnik akzeptiert, dreht Christian J. Meier die Situation auf den Kopf. Micha Berg lernt die „andere Seite“, die geheimen Schalthebel der Macht und die technische Entwicklung hinter den Kulissen des Vatikans kennen. Eben weil sie mit ihrer herausragenden Intelligenz, vielleicht auch ihrem Gespür zu wichtig ist, als das man sie bestrafen oder gar sterben lassen kann. Es wäre nicht nur eine Verschwendung von menschlichen Ressourcen.

 Der deutsche Physiker, Wissenschaftsjournalist und Schriftsteller Christian J. Meier hat sich neben zahlreichen Artikeln unter anderem für die Neue Züricher Zeitung, für die Bild der Wissenschaft oder Technology Review mit den Themen Forschung, Technik und Digitalisierung auseinandergesetzt. Alles Themen, welche er fast bis zur erschreckenden Satire aus dem Blickwinkel der allmächtigen, katholischen Kirche im vorliegenden Roman präsentiert. Sie leugnet nicht mehr, dass sie Himmel und Hölle künstlich erschaffen hat. Aber in Gottes Willen und nach seinem biblischen Vorbild. Das macht den ersten Teil der Geschichte auch so interessant, so provozierend. Karla Weigand hat sich mit ihrem deutlich mehr geerdeten Roman „Der Pontifex“ ebenfalls mit der selbsternannten Allmacht einer dominierenden und vor allem erzkonservativen katholischen Kirche auseinandergesetzt. Allerdings verfügte sie mit dem charismatischen und charmanten, die Regeln der Kirche im Geheimen ignorierenden ersten afrikanischen Papst über einen dominanten, dominierenden und gefährlichen Charakter. In „Apeirphobia“ ist es weniger der Papst – sein erster Auftritt zeigt einen kontrollierten Machtmenschen, dem der Glaube in Wirklichkeit vollkommen egal ist -, sondern die entwickelte Technik, welche die Leser fasziniert und gleichzeitig schockiert.

 Nach einer Marienerscheinung – drei junge Menschen sind Zeuge – führt der Autor ein weiteres Spannungselement ein. Die drohende Apokalypse in weniger als einem Jahr, wobei dieser Begriff von den Verantwortlichen vor allem gegenüber Micha Berg ausgesprochen ambivalent benutzt wird. Die zweite Hälfte wird von der Versuchung durch den ewigen Papst Bonofaz X. und der Möglichkeit, an der Universität heimlich als „Junge“ zu studieren, und dem drohenden Schicksal für die Menschheit dominiert. Nicht nur Micha Berg muss eine Entscheidung treffen.

Diese Struktur auf den in naher Zukunft liegenden Moment wirkt cineastisch, dramaturgisch auf das natürlich notwendige Finale hin konstruiert, hilft aber, das anfänglich hohe, vielleicht  sogar zu hohe und dadurch in der Tiefe Oberflächkeiten hinterlassende Tempo zu relativieren und die Blicke hinter die verschiedenen Kulissen und die sehr unterschiedlichen Gemengelage vor der Protagonistin Revue passieren zu lassen, bevor sie – wieder – aufgrund ihrer besonderen Fähigkeiten Entscheidungen treffen muss.    

 Die zweite Hälfte des Buches wird durch die einzige Bemerkung dominiert: „Wir brauchen ein Wunder“.  Micha Berg antwortet ironisch, dass der Papst das Wunder im Grunde empfangen hat, das die Kirche allmächtig macht- die A( wie Auferstehung) Technologie.

 Bei Christian J. Meier ist der Begriff des Wunders ein ambivalenter Begriff.  Wunder haben etwas Dogmatisches.... wenn der Glaube keine Wunder produziert, wird nachgeholfen. Und das auf allen Fronten. Neben der Auferstehungstechnologie – kein Wunder, sondern eine Idee des brillanten Adriano Pancone – soll die Apokalypse auf eine wunderbare Art und Weise für ein volksames, eigentlich gefügiges Restvolk sorgen, das aus dem künstlichen Paradies wieder auf die Erde geführt wird, die von allen Sündern und nicht mehr benötigten Menschen sowie Wiederbelebten „gereinigt“  worden ist. Dazu ist ein perfider Plan von Nöten, welcher in seinen Dimensionen den Weltuntergangsszenarien mit narzisstischen Antagonisten eines James Bond Films entspricht.

 Aber in der Praxis ist auch Micha Berg ein Wunder. Beginnend mit ihrer richtigen Mutter, welche sie kontinuierliche überwachte und im Grunde von langer Hand auch manipulierend formte, interessieren sich die schon angesprochenen Illuminati und vor allem auch der naturwissenschaftliche Zweig der Kirche für sie. Kein Wunder, dass sie real oder später in ihrem Protokörper als Auferstandene mehrmals die Fronten gezwungenermaßen wechseln muss. Die Geschwindigkeit der gegenseitigen Entführungen oder entsprechenden Gefangenennahmen ist schon rasend, droht in Wiederholungen abzudriften.

 Am Ende ist es ihre Aufgabe, die geblendeten Menschen zu entwundern und mit der Realität zu konfrontieren. Dazu muss der Leser an ihrer Seite die machtpolitischen Ränkespiele nachvollziehen und verfolgen können. Teilweise muss Christian J. Meier in dieser Hinsicht auf das Klischee des erzählenden/ erklärenden Dritten zurückgreifen, der Micha Berg stellvertretend für den Leser informiert oder manipuliert. Die Grenzen sind schwimmend, manchmal positiv schwammig. Das erhöht die Spannung, steigert die paranoide Atmosphäre hinter den Kulissen eines inzwischen maroden und nur durch den hierarchischen Druck von oben zusammengehaltenen Kirchenstaats.

 Während der Hintergrund sehr gut trotz der Rasanz und damit auch Kürze des Buches entwickelt worden ist, wirken die einzelnen Protagonisten manchmal zu schematisch/ pragmatisch entwickelt. Micha Berg ist zwar die Identifikationsfigur des Lesers, deren bisheriges Leben im Grunde nur eine bedingte Lüge, eine eingeschränkte Farce ist. Aber sie ist zu wissend, zu sehr ein verzweifelt gesuchtes Genie, als das der Leser sie in der vorliegenden Form sympathisch finden kann. An einigen Stellen wünscht man sich ein wenig mehr Emotionalität; ein wenig mehr emotionale Schwäche und nicht nur einen Menschen, der innerhalb weniger Wochen mit den unterschiedlichsten Extremsituationen konfrontiert wird und sie bis zum metaphorischen offenen und interpretationswilligen Ende aktiv oder passiv zu meistern schafft. Weniger wäre in dieser Situation nicht nur mehr gewesen. Auch spannungstechnisch hätte der Leser mit einem weniger überzogen ausgestalteten jungen Mädchen mehr mit gelitten.

 Vom Aufbau her, dem Hintergrund mit dem allmächtigen, aber doch technokratischen Kirchenstaat und den perfiden Ideen einer künstlichen Auferstehung – für eine kleine „Elite“ im ironischen Sinne – sowie der ebenfalls manipulierten Apokalypse ist „Apeirophobia“ ein ungewöhnlicher Near Future Science Fiction Thriller, der in wissenschaftlicher Hinsicht vielleicht ein wenig zu viel versucht – Zeitreise wäre nicht unbedingt notwendig, auch wenn der Autor das physikalische Phänomen dahinter verständlich erläutert – und bei den handelnden Charakteren noch ein wenig zu distanziert erscheint. Aber unabhängig von diesen im Gesamtkontext kleineren Schwächen stellt der Roman eine interessante, eine sicherlich auch auf die eine oder andere Art und Weise provokante Lektüre dar, die intellektuell stimulierend unterhält, ohne die Dramatik und Action zu vernachlässigen.

Apeirophobia: Roman

  • Herausgeber ‏ : ‎ Hirnkost; 1. Edition (1. September 2024)
  • Sprache ‏ : ‎ Deutsch
  • Hardcover ‏ : ‎ 264 Seiten
  • ISBN-10 ‏ : ‎ 3988571113
  • ISBN-13 ‏ : ‎ 978-3988571113